BERLIN. (hpd) Am 8. Mai jährt sich die Kapitulation Deutschlands. Dieses Datum beendete im Jahr 1945 - also vor 70 Jahren - den 2. Weltkrieg, der mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 begann. Der hpd bat einige Autoren, ihre Gedanken zu diesem Tag niederzuschreiben. Heute fragt Prof. Dr. Hajo Funke, ob die Gesellschaft Lehren aus der Zeit des Nationalsozialismus zog.
Der 8. Mai 1945 war geistig-moralischer Zusammenbruch der wenig zuvor begeisterten großen Mehrheit der Deutschen und deswegen Befreiung durch den Verteidigungskrieg der Alliierten, der Roten Armee und der amerikanischen und britischen Truppen gegen "uns".
Er war Befreiung durch Kapitulation des nationalsozialistischen Wahnsinns aus apokalyptischer Weltvernichtung und Vernichtungsantisemitismus. Der Wahnsinnskern der nationalsozialistischen Ideologie an der Macht war so simpel: wenn wir die Welt von den Juden befreien und sie für uns erobern, wird alles wieder gut. Das war so süffig wie sadistisch und hat 90 Prozent der Deutschen überzeugt, nein: begeistert, erst recht nach dem Beginn des Vernichtungsweltkriegs, noch 1940, als Hitler in Paris einmarschierte.
Erst 40 Jahre später, heute vor 30 Jahren konnte Weizsäcker gegen den reaktionären Ressentiment-Nationalismus der Dreggers und Strauß und das Vergessen des Schlussstrichs damit durchdringen, dass die Deutschen des Jahres 1933 für die Zerstörung Deutschlands und der Welt verantwortlich waren und ein historischer Zusammenhang zwischen 1933 und 1945 bestand. Die Wut der anderen war mit Händen zu greifen und durchzog den Rest der Achtzigerjahre.
Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus, nie wieder (Vernichtungs) Antisemitismus – das waren zwar die Ausrufezeichen, aber erst 40 Jahre danach begann der kalte Krieg und die Fixierung auf den Feind sich abzuschwächen – weniger Tat der Deutschen, als die Vernunft eines Gorbatschow.
Lernen?
70 Jahre danach berühren uns noch ein vorletztes Mal die ungarische Jüdin, die nie vergessen kann, wen sie in Auschwitz verloren hat und die deswegen nicht zu verzeihen wagt. Der russische Kriegsgefangene und KZ-Häftling in Sachsenhausen, der an 30 Millionen russische Menschen erinnert, die durch Hitler Deutschland umgebracht worden sind. Sie erzählen uns davon seit buchstäblich 70 Jahren, aber hören wir Ihnen mehr als eine sekundenlanges Innehalten wirklich zu? Versinken wir in das, was sie uns von sich immer wieder berichten? Hat das sekundenlange Innehalten in der Gedenkfeier von Sachsenhausen tatsächlich das Getriebe der Funktionsmechanismen innerer und äußerer Politik umgehauen? Oder folgt dem sekundenlangen Innehalten der Sekundenkleber funktionsgerechter politischer Alltagsnormalität?
Aber nichts Funktionsgerechtes ist unternommen worden, den ehemaligen sowjetischen/russischen Feind nachhaltig und überzeugend zum Nachbarn zu haben. Fast alle Mechanismen des kalten Kriegs erleben wir in öffentlichen Debatten dieser Tage selbstvergessen wieder.
Nichts Angemessenes taten die selbst vergessenen Eurobürokraten und die nationalen Regierungen, die mit aufgeblasenen Backen der Ukraine diktieren wollten und die Ukraine gegen die Russen in Anschlag brachten. Helmut Schmidt hat in seinem “letzten” Interview mit Maischberger daran entschieden erinnert und beschwörend die Politik der europäischen Nachbarschaft eingefordert.
Vielleicht ziehen wir die Lehre der Deeskalation und setzen den Kompromiss um das Atomprogramm mit dem Iran tatsächlich durch und nutzen die Erfahrung gelingender Kompromisse der beteiligten Groß- und Mittelmächte endlich zu gemeinsamen Schritten der Amerikaner, der Russen, des Iran und der Europäer zur Sedierung des syrischen Bürgerkriegs und zur Blockade derjenigen, die immer noch den Wahnsinn des sog. "Islamischen Staats" unterstützen. Nur gemeinsam ist das noch möglich – selbst wenn dies hieße, das Assad nur in Form eines Übergangs abgelöst werden kann.
Der Nationalsozialismus sei erst, so sagten es die Überlebenden von Buchenwald in ihrem Schwur, überwunden, wenn seine Wurzeln überwunden sind. Zu den Wurzeln gehört die Zerstörung durch und nach dem Ersten Weltkrieg und genauso sehr die unkontrollierten ökonomischen Zerstörungsprozesse in der Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger und Anfang der Dreißigerjahre. Ohne sie wäre die Epoche des Faschismus nicht denkbar gewesen. Aber die Lehren, wie sie Keynes gezogen hat und heute Krugman fordert, gehen im egozentrisch-neoliberalistischen Wettbewerb der ökonomischen und politischen Kollektive, mit schwäbischer Sparzwangsemphase unter.
Wir sind gut dran, aber wir sorgen für die Zerstörungsprozesse einer sozialen und Gesundheits-Mindestversorgung von Griechenland bis zum vergessenen Portugal – heute. Das ist ganz gewiss keine Nachbarschaftspolitik. Wir sind mit kleinlicher Interessenwahrung beschäftigt.
Man lernt eigentlich nicht aus Katastrophen, dazu sind sie zu traumatisch. Man lernt nur dann, wenn man die Fähigkeit hätte, es wirklich, emotional anhaltend als politisches Kollektiv an sich heranzulassen, was wir taten, was mit uns geschehen ist. Aber ist man dazu lern-fähig?
Und bei uns? Die Logik der nationalsozialistischen Selbstzerstörer kehrt als Farce wieder. Ja, es gibt trotz der irrsinnigen Selbstzerstörung des Nationalsozialismus heute Nationalsozialisten, die mit Wissen der Sicherheitsbehörden 11 Jahre lang gemordet haben. Organisationen wie die Neo-nationalsozialistische NPD sind deswegen nicht verboten, weil man die Spitzel in der NPD zur Kontrolle durch unkontrollierte Sicherheitsorgane im Ausnahmezustand zu brauchen meint. Was für eine Schwäche der sich potent gebenden staatlichen Sicherheitsbehörden.
Soll ich die Liste fortsetzen?
Jeder sagt es: Europa wie die Welt sind 70 Jahre danach in keinem guten Zustand. Und das liegt auch am Kleinmut einer Selbst-Wohligkeit etablierter Politik, die nicht schreit, sondern ruht, in sich. Die sich nicht empören darf, um als Politik zu überleben.
Der jetzige (!) Papst hat mit seinen kontrollierten Wutschreien über Lampedusa, die unkontrollierte Zerstörungskraft heutigen Kapitalismus oder die fehlende Sorge und Empathie für die schwachen Mehreren recht. Aber er ist nur Papst.
Man könnte anders.
3 Kommentare
Kommentare
Udo Endruscheit am Permanenter Link
Wirklich herzlichen Dank für diesen Beitrag, so skeptisch er auch ist. 150-prozentige Zustimmung.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Sehr guter Beitrag, Hajo Funke; herzlichen Dank!
angelika richter am Permanenter Link
"Der jetzige (!) Papst hat mit seinen kontrollierten Wutschreien über Lampedusa, die unkontrollierte Zerstörungskraft heutigen Kapitalismus oder die fehlende Sorge und Empathie für die schwachen Mehreren recht.&q
Ich finde, der Papst kann sich diese "Wutschreie" sparen, stattdessen Flüchtlingsunterkünften im Vatikan einrichten und offen für die Verhütung auch in Afrika werben.
Das würde erheblich mehr bringen, auch an Glaubwürdigkeit.