Als der Mensch die Fantasie entdeckte, erfand er Gott

Auch wenn es uns kränkt oder aus religiösen Gründen verletzt, so bleibt es doch eine Tatsache: Wir Menschen stammen von den Affen ab. Doch strenggläubige Christen wollen das noch immer nicht wahrhaben, weil sie uns Menschen als Krone der Schöpfung betrachten. Auserwählte können nun mal nicht von profanen Primaten abstammen.

Archäologie und Paläontologie belehren uns aber eines Besseren. Im Lauf von Hunderttausenden Jahren vergrößerte sich das Hirn des Neandertalers und des Homo sapiens. Mit dem aufrechten Gang schwanden auch die Muskeln. Das Hirn sprang in die Lücke.

Die wachsende Rechenleistung des Hirns erlaubte es den Urmenschen, Werkzeuge herzustellen und das Feuer in ihre Gewalt zu bringen. Doch auf der Ebene des Bewusstseins blieben sie mehr oder weniger auf dem Niveau der Primaten.

Vor etwa 30.000 Jahren setzte beim Homo sapiens plötzlich eine kognitive Revolution ein, die sich nicht genetisch erklären lässt. Die Entwicklung lief viel schneller ab als bei evolutionären Prozessen. Kommunikationsfähigkeit und Artikulation entwickelten sich rasch.

Die Sprache als Schlüssel

Der entscheidende Schritt, der die Welt dramatisch verändern sollte, war die Entwicklung der Sprache und des fiktiven Denkens des Homo sapiens. Plötzlich konnte er Überlegungen anstellen, Geschichten erfinden, sich Fragen stellen, Antworten suchen, Ideen entwickeln und in die Zukunft denken.

Das war die Geburt der Fantasie, die das fiktive Denken ermöglichte. Dem Homo sapiens tat sich eine neue geistige Welt auf. Gleichzeitig war es der Beginn einer beispiellosen kulturellen Entwicklung.

In der neuen fiktiven Dimension spielten Geister und Magie eine wichtige Rolle. Der Homo sapiens realisierte, dass unbekannte Kräfte die Welt am Laufen hielten, die er nicht sehen oder fassen konnte.

Götter als fiktives Konstrukt

Hinter den Naturkatastrophen erkannte er böse Geister, in Sonne und Mond gute übermächtige Kräfte. Und schon hatte er die Götter erfunden. Diese waren ein fiktives Konstrukt, um die unbekannten Phänomene erklären und ihnen einen Namen geben zu können.

Die Erschaffung solcher fiktiven Welten hatte einen entscheidenden Vorteil im Überlebenskampf. Sie waren sinnstiftend und wirkten als sozialer und religiöser Kitt. Sie gaben größeren Gemeinschaften eine Identität. Nur deshalb konnten sie sich in größeren Verbänden organisieren und arrangieren, um beispielsweise Feinde abzuwehren und gewaltige Sakralbauten wie die Pyramiden in Ägypten zu bauen.

Die "Erfindung" von Göttern und Geistern ist also einer geistigen Entwicklung geschuldet, die primär auf hirnphysiologische Prozesse zurückzuführen ist und nicht auf genetische. Die Götter waren ein Produkt der Denkfähigkeit und der Errungenschaft fiktionaler Vorstellungskraft und Mythenbildung. Deshalb sind Glaubensgemeinschaften durch kollektive Mythen entstanden, die sich um Geister und Götter rankten.

Es bleibt fiktional

Das fiktionale Denken weckte auch die Sehnsucht nach besseren Lebensumständen ohne Katastrophen und Hungersnöte. Sammler und Jäger wurden sesshafte Bauern, die Getreide anpflanzten, Vorräte anlegten und plötzlich genug zu essen hatten. Mit dem "Wohlstand" nahm auch die Geburtenrate zu. Um die Weide- und Ackerflächen zu vergrößern, wurden Wälder abgefackelt. So begann allmählich das Unheil.

Im Lauf der Jahrtausende differenzierten sich die Vorstellungen von den Geistern. Götter in menschlichen oder tierischen Gestalten lösten Sonne, Mond und Sterne ab. Schließlich entstand im Nahen Osten die Idee vom Monotheismus mit einem Gott als liebendem Vater. Doch diese Gottesidee ist ebenso fiktional wie der Glaube unserer Vorfahren an die Gestirne.

Die monotheistische Gottesvorstellung wirkt auf gebildete Vertreter der Gattung des Homo sapiens zwar plausibler, wahrer wird sie deshalb aber nicht. Sie hielt sich so lang, weil sie als sinnstiftender Kitt riesige Gemeinschaften zusammenhalten konnte und Vorteile wie Identität und Wohlstand in der realen Welt mit sich brachten. Dies wiederum ist das Geheimnis der beispiellosen geistigen, wissenschaftlichen und technischen Fortschritte.

Einen großen Anteil daran hatte in der christlichen Welt das göttliche Leitmotto, sich die Erde untertan zu machen. Wir gingen dabei so gründlich und rücksichtslos ans Werk, dass wir Tausende von Tierarten ausrotteten, die Natur strangulierten und die Ackerböden versauten. Und nun zerstören wir noch die Atmosphäre und müllen die Meere zu, bis die Ökosysteme kollabieren. So können Mythen und Legenden, die nicht rechtzeitig entzaubert werden, zerstörerische Kräfte entwickeln.

Manchmal wünscht man sich, unsere Urahnen hätten die Fähigkeit des fiktionalen Denkens nie erlernt. Dann wären uns alle Götter erspart geblieben. Und wir müssten uns nicht davor fürchten, dass uns unser Planet vielleicht schon bald um die Ohren fliegt.

Übernahme mit freundlicher Genehmigung von watson.ch.

Unterstützen Sie uns bei Steady!