Bertrand Russell zum 50. Todesjahr

Aufklärung und Kritik 1/2020 erschienen

Das aktuelle Heft von "Aufklärung und Kritik" (AuK), der umfangreichen Vierteljahreszeitschrift der Gesellschaft für Kritische Philosophie Nürnberg, ist erschienen. Die Redaktion hat dem hpd wieder das Vorwort zu Verfügung gestellt.

Liebe Leserinnen und Leser,

nach einer ausführlichen (hier aus Platzgründen nicht abgedruckten) Schilderung der Biografie von Bertrand Russell stellt unser Mitherausgeber und Herausgeber dieser Ausgabe deren Inhalt vor:

Zu den Texten des Bandes

Der einleitende Beitrag von Joachim Kahl, betitelt "Wofür es sich zu leben lohnt. Bertrands Russells skeptische Lebensweisheit. Interpretation des Vorworts zu seiner Autobiographie", befasst sich mit Russells Reflexion über sein eigenes Leben. Russell hatte diese im Alter von 84 Jahren verfasst. Sie verdeutlichen seinen Humanismus und dessen Motivation: Das Verlangen nach Liebe, der Drang nach Erkenntnis und das Mitgefühl für leidende Menschen, nach Kahl erotische, philosophische und soziale Leidenschaften. Kahls Beitrag zeigt deren Bedeutung im Kontext von Russells Lebens auf und gibt damit Einblicke in Russells Psyche.

Hans-Joachim Niemanns Beitrag, "Russell und Popper: zwei Kämpfer für Wahrheit und Klarheit. Was sie eint und was sie trennt" verdeutlicht Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen zwei der bedeutendsten Philosophen des 20 Jahrhunderts, die etliche gemeinsame Interessengebiete aufweisen, gemeinsame philosophische Gegner hatten, aber auch durchaus methodisch unterschiedlich vorgingen und schließlich im Bereich der Politischen Philosophie und Politik differierende Auffassungen hatten. Dabei werden die (wenigen) Begegnungen geschildert, aber es wird auch dargestellt, dass Russell eine Auseinandersetzung zum Thema der Induktion trotz Poppers entsprechendem Anliegen nicht geführt hat. Verdeutlicht wird schließlich, dass Popper und Russell während der Zeit des Kalten Krieges unterschiedliche Auffassungen über die weltpolitische Lage vertraten.

In Thomas Mormanns Beitrag mit dem Titel "'Philosophie ist Möglichkeitswissenschaft' – Zur Beziehung von Philosophie, Wissenschaft und Logischer Analyse bei Russell" geht es um die theoretische Philosophie Russells, und dabei vor allem um deren Methode. Mormann stellt dar, was Russell unter "logischer Analyse" (im Unterschied zu verschiedenen anderen der Analytischen Philosophie zugerechneten Autoren) verstand, welche Rolle dabei die philosophische Synthese spielt und welche Beziehung zur (modernen) Logik besteht. Verdeutlicht wird dabei, dass für Russell Analysen vorläufigen Charakter haben, sie Perspektiven erweitern und zu neuen Erkenntnissen führen sollen, aber auch zu Resultaten, die vorläufig bleiben und als fallibel zu betrachten sind. Erläutert werden Russells Vorgehensweisen dann anhand verschiedener Beispiele aus der Mathematik, der Physik und der Philosophie des Geistes resp. des neutralen Monismus. Thematisiert wird ferner Russells Verständnis von Philosophie als Wissenschaft von Möglichkeiten – und inwieweit seine Auffassungen mit denen anderer analytischen Philosophen wie z. B. Carnap und Quine, aber auch Nozick übereinstimmen bzw. von diesen abweichen.

Reinhard Fiedler befasst sich mit Russells Philosophie des Geistes und fokussiert sich dabei auf die Schrift "Analysis of Mind". Ihm geht es darum, zu klären, was Russell unter den Begriffen "Bewusstsein", "Gedächtnis", "Wahrnehmung" und "Überzeugung" versteht. Dazu erläutert er mit diesen Begriffen zusammenhängende weitere Begriffe wie "Sinneseindruck", "Introspektion", "Erinnerung" sowie "Verstehen". Dabei wird nicht nur deutlich gemacht, dass und wie Russell sich mit zeitgenössischen Auffassungen zu dem Themenkomplex auseinandergesetzt hat, sondern vor allem auch der neutrale Monismus Russells herausgestellt. Damit wird eine bis heute wichtige Position der Philosophie des Geistes thematisiert.

Im Beitrag von Helmut Fink mit dem Titel "Unser Wissen von der Außenwelt. Russells logische Analyse des Erkenntnisproblems und seine Philosophie der Materie" geht es um Russells Erkenntnistheorie und Philosophie der Physik. Thematisch ist die Frage, was Menschen von der Welt erkennen können, und wie sie dies tun können. Dazu werden insbesondere Russells Schrift "Unser Wissen von der Außenwelt" rekonstruiert und seine Analysen des (logischen) Relationsbegriffs sowie des Begriffs der Materie präsentiert. Darüber hinaus wird aufgezeigt, dass Russells Texte zwar in der Praxis der Physik heutzutage wenig Einfluss auszuüben scheinen, Russellsche Grundgedanken aber durchaus Eingang in die Wissenschaftsphilosophie der modernen Physik gefunden haben.

In Wulf Kellerwessels Beitrag mit dem Titel "Russells Ethik und Metaethik – Positionen und Probleme" werden kurz die Entwicklung von Russells Ethik und seine Ethikbegründungen vorgestellt, also seine intuitonistische und emotivistische Phase präsentiert. Ausführlicher wird dann auf seine spätere konsequentialistische Schrift "Moral und Politik" eingegangen – wiederum insbesondere mit dem Blick auf Fragen der Moralbegründung. Darüber hinaus werden vor allem inhaltliche Positionen Russells untersucht und deutlich gemacht, dass Russell über Jahrzehnte hinweg eine aufklärerische und liberale moralphilosophische Position wirksam vertreten hat, aber Zweifel bleiben, ob diese eine überzeugende Begründung gefunden haben.

Harald Seubert befasst sich mit ausgewählten Aspekten des Zusammenhangs von Philosophie und Psychologie. Dabei geht er in seinem Aufsatz "Russell über Psychologie und Philosophie" ausführlich auf Russells Logischen Atomismus und seine Erkenntnistheorie nach 1918 ein. Wichtig ist für das Thema die Klärung der Begriffe "Subjekt" und "Bewusstsein" und allgemein Russells neutraler Monismus. Erörtert werden die sich aus Russells Grundpositionen ergebenden Folgen für die Sprachphilosophie bzw. Auffassung von sprachlicher Bedeutung sowie für sein Wahrheitsverständnis. Verdeutlicht werden darüber hinaus Konsequenzen für die Moral und die Psychologie.

In "Bertrand Russells Sozialismus-Verständnis. Positionen eines antikommunistischen und demokratischen Sozialisten" von Armin Pfahl-Traughber geht es nach einigen definitorischen resp. begrifflichen Klärungen und einer kurzen Darstellung von Russells biographischem Hintergrund um Russells Sozialismus. Einbezogen werden Russells Darlegungen zur deutschen Sozialdemokratie, seine Auseinandersetzung mit Karl Marx und dem (nach Russell zur Religion erhobenen) Marxismus in der Sowjetunion, Russells Eindruck von Lenin, Russells Ansichten über den Anarchismus, den Gildensozialismus sowie den Syndikalismus. Verdeutlicht wird dabei auch, dass und warum Russell auf der Demokratie als Staatsform beharrte, und weshalb der Freiheit in der Politischen Philosophie von Russell ein kaum zu unterschätzender Stellenwert zukommt.

In Wulf Kellerwessels Aufsatz "Russell über Nationen, Nationalismus, Krieg und eine zukünftige Weltregierung" geht es um Russells Auseinandersetzung mit der Problematik des Nationalismus und die von ihm mit hervorgerufenen kriegerischen Konflikte. Russell plädierte bereits seit dem Ersten Weltkrieg für eine Überwindung des aggressiven politischen und wirtschaftlichen Nationalismus durch die Einrichtung einer Weltregierung, die einen weltweiten Frieden stiften und durchsetzen sollte. Der Text zeichnet die Entwicklung von Russells Auffassungen nach und geht dabei auch auf die Versuche ein, den Begriff der Nation zu bestimmen. Thematisiert werden darüber hinaus nationale Vorurteile und deren moralische Konsequenzen. Russell hoffte, mit Hilfe einer einzusetzenden Weltregierung dauerhaft Krieg zu vermeiden, und hat seine diesbezüglichen Überlegungen im Laufe der Jahrzehnte aufgrund veränderter politischer Lage und Waffenentwicklungen immer wieder angepasst. Der Beitrag schildert diese Darlegungen, problematisiert den Ansatz und stellt ihm eine neuere Überlegung zu einem demokratischen, föderalen Weltstaat von Otfried Höffe zur Seite.

Russells Religionskritik thematisiert der Beitrag von Martin Morgenstern, "Russell als Religionskritiker". In diesem Text werden dabei die vielen Facetten dieses Themas rekonstruiert und diskutiert. Morgenstern zeichnet zunächst Russells Kritik an den klassischen Gottesbeweisen nach, also am kosmologischen, ontologischen und teleologischen Gottesbeweis. Dabei geht er auch auf verschiedene Varianten wie das Kontingenzargument von Leibniz ein. Erörtert wird zudem Russells Kritik an Kants moralischem Postulat der Existenz Gottes und Rousseaus Überlegung, das Gefühl solle als Basis des Glaubens an die Existenz Gottes dienen. Rekonstruiert werden überdies Russells Auffassungen zu Fragen der Unsterblichkeit und der Willensfreiheit im Kontext seiner Religionskritik. Einbezogen in die Darstellung von Russells Religionskritik werden ferner dessen Auseinandersetzung mit der Moral von Jesus Christus und die Zusammenhänge resp. Diskrepanzen zwischen religiösen, christlichen Vorstellungen einerseits und den modernen naturwissenschaftlichen Annahmen andererseits, wobei auch deren Folgen in den Blick genommen werden. Darüber hinaus wird Russells Kritik an der Vorstellung, man benötige Religion als Stütze der Moral, präsentiert. Insbesondere werden dabei Russells vielfach geäußerte Überzeugungen wiedergegeben, nach denen Religion und Kirche (in der Geschichte) eher als moralisch problematisch anzusehen sind. Abschließend wird die Rezeption von Russells Religionskritik angesprochen.

Um Russells Philosophiegeschichtsschreibung geht es in Rudolf Lüthes "Ferne Spiegel? Zu Russells Arbeit als Philosophiehistoriker – am Beispiel seiner Auseinandersetzung mit Hume und Kant". Lüthe erörtert Russells Methode und prüft Russells eigenen Anspruch, Philosophen und ihre Auffassungen in seiner vielbeachteten Philosophiegeschichte "Philosophie des Abendlandes. Ihr Zusammenhang mit der politischen und sozialen Entwicklung" im Kontext ihrer jeweiligen Lebensumstände zu präsentieren. Dabei untersucht er an den Beispielen von David Hume und Immanuel Kant, ob und inwieweit Russell diese Klassiker der Philosophie als Repräsentanten ihrer Zeit versteht und darstellt, und ob bzw. inwieweit er sie als philosophische Gesprächspartner sieht und behandelt, um seine eigenen philosophischen Auffassungen darzustellen.

Der Beitrag von Christian Swertz mit dem Titel "Bertrand Russell über Erziehung. Rekonstruktion und Dekonstruktion eines aristokratisch-liberalen Ratgeberautors" setzt sich kritisch mit Russells Vorstellung über Erziehung auseinander, die weitaus weniger breit rezipiert worden sind als seine Beiträge zur Philosophie. Unter Berücksichtigung einer Vielzahl von Russells Schriften zur Pädagogik, wobei frühe, mittlere und späte Schriften herangezogen werden und "On Education" (1926) sowie "Education and the Social Order" (1932) ausführlicher betrachtet werden, stellt Swertz fest, dass Russells Auffassungen nicht nur nicht überzeugend begründet werden, sondern unreflektiert einem aristokratisch-liberalen Grundgedanken folgen, methodische Probleme aufweisen und wenig solidarisch mit denjenigen Bevölkerungsgruppen sind, die der Bildung besonders bedürftig scheinen. Sie stellen, so Swertz, eher eine Art wohlinformierter Ratgeberliteratur dar, die aber für eine tatsächlich wissenschaftlich verfahrende Erziehungswissenschaft nicht hilfreich ist.

Peter Wenzel stellt in seinem Beitrag "Bertrand Russells Kurzgeschichten – ein Spiegel seiner Werte und Gedanken" Russell als Autor fiktionaler Texte vor. Russell, dessen breite literarische Bildung skizziert wird, hat eine Reihe von oft kürzeren Erzählungen verfasst und in mehreren Textsammlungen publiziert. Wenzel stellt insgesamt acht Texte näher vor, die er unter verschiedenen Kategorien subsumiert: Antiutopische und gesellschaftskritische Satire, religionskritische Satire, Satire mit intertextuellem Bezug und philosophische Satire. Dabei zeigen die Ausführungen Wenzels durchgehend, dass es Russell immer auch darum ging, seine philosophischen Auffassungen in literarische Gewänder zu kleiden. Russells Kurzgeschichten, die bislang weniger Beachtung gefunden haben, stellen, so Wenzel, insbesondere Kritiken an autoritärem sowie konformistischem Denken dar, und kritisieren hemmungsloses Gewinnstreben und jegliche Formen von Unterdrückung – daher blieben sie aktuell.

Zum Abschluss des Schwerpunktheftes erfolgt ein Wiederabdruck von Russells "Zehn Geboten eines Liberalen“, die in Aufklärung und Kritik bereits 1994 erschienen, und die Russells Wahrheitsliebe und -suche ebenso verdeutlichen wie seinen Fallibilismus, und die ferner die geistige Offenheit und die Unabhängigkeit Russells genauso dokumentieren wie seine Kritik an Autoritätshörigkeit und Versuchen, Meinungsverschiedenheiten mit Gewalt zu lösen. Und schließlich halten sie noch einen Rat für das Leben bereit: Narren nicht zu beneiden!

Bezug der Ausgabe über die Gesellschaft für kritische Philosophie Nürnberg via Internet: www.gkpn.de (Schutzgebühr 12,00 EUR zuzügl. 2,50 EUR Verp. u. Porto).

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