Eine Kritik mit Schwächen

"Die neuen Biedermenschen" der Linken

Der Soziologe Karl Kollmann zeichnet in seinem Buch "Die neuen Biedermenschen. Von der 68er-Rebellion zum linksliberalen Establishment" die Entwicklung der Linken bezogen auf den Prozess im Untertitel nach. Dabei beschreibt und kommentiert der Autor relativ freihändig, interessante Kritikpunkte werden dabei nicht in eine systematische Reflexion integriert.

Was wurde aus den rebellischen Achtundsechzigern? "Die neue Biedermenschen", antwortet Karl Kollmann in seinem Buch gleichen Haupttitels mit dem Untertitel "Von der 68er-Rebelliong zum linksliberalen Establishment". Der Autor hat das Erscheinen nicht mehr erlebt. Folgt man der Autorenangabe des Verlags, dann war Kollmann ein promovierter Soziologe und habilitierter Ökonom. Er schrieb für Die Presse, Streifzüge oder teleopolis, alles bekannte österreichische Publikationsorgane. Im September 2019 starb Kollmann in der Nähe von Wien. Mehr erfährt man hier nicht zu den Hintergründen seines Lebens und Werks, gibt es doch kein Nachwort durch den Verlag. Denn sein Buch wirkt wie ein kritischer Rückblick auf eine auch eigene persönliche und nicht nur politische Zeit – und ebenso wie eine gewisse Verbitterung, die mit dem Entwicklungsweg der Linken verbunden ist. Man hat es aber auch mit einem Geschichtsbuch zu diesem wie mit Statements zu sozialstrukturellen Veränderungen zu tun. Dies alles geschieht recht freihändig.

Cover

Aber der Reihe nach: Der Autor beginnt mit den 1960er Jahren und erinnert dabei an gesellschaftliche Entwicklungen, worauf dann jeweils die Linke reagierte. Da kommen die "Halbstarken" als Jugendphänomen genauso vor wie die Gründe für die Jugendproteste. Bereits in den 1970er Jahren entstanden die "Alternativen", die mit ihrem Antiautoritarismus gegen die dogmatischen K-Gruppen wirkten. Der Autor beschreibt hier weitgehend, baut aber auch mal eine kleine Spitze ein. So ist etwa von "dem selbstauferlegten Zwang, alternativ zu sein" (S. 46) die Rede. Eine ausführlichere kritische Auseinandersetzung findet man aber weder hier noch später. Mitunter wird eine gewisse Doppelmoral gar nicht thematisiert, etwa wenn der Drogenkonsum als Freiheitserlebnis und Religion als "Opium fürs Volk" angesehen wurden. Danach geht es bei Kollmann um Postmaterialismus, der die Ausrichtung der Linken erklärte, wobei an alte Ansätze von Ronald Ingelhardt erinnert wird. Die spätere Anpassung sieht er hier in Erwerbsarbeit und Institutionenorientierung (vgl. S. 76).

Nach einer guten Hälfte des Textes wird aus dem Historiker dann wieder der Soziologe. Denn anschließend blickt Kolmann mehr auf soziale Veränderungen. "Gesellschaft", so meint er, "bleibt ein großes Internierungslager" (S. 141). So hätte sich die als rebellisch geltende Linke bezüglich der sozialen Milieus verändert. Und er konstatiert: "Die neue linksliberale Mittelschicht wird Meinungsführer" (S. 151). "Diese sei von Achtundsechziger-Ideen geprägt, Individualität, Diversität, Multikulturalität, Freiheit vom Staat, antinationalistisch, friedlich, europäisch, antideutsch …" (S. 154). Gleichzeitig hätten Fragen nach der Geschlechterrolle oder Identität eine immer größere Rolle gespielt. Für die Gegenwart konstatiert Kolmann, dass dabei eine Ignoranz gegenüber den "hohen Migrationsfolgekosten" hinzugekommen sei. Während man die Abgehängten ignoriert habe, habe man die Migranten idealisiert. Über diese äußert der Autor sich gelegentlich etwas zu pauschal, was mitunter leicht ressentimentaffin wirkt (vgl. z. B. S. 193, 201). Hier kann man sicherlich differenzierter schreiben.

Bilanzierend urteilt der Autor: "Die Linke, genauer: das urbane, linksliberale Milieu der Postmaterialisten, die Bobos und Hipster, sind behäbige Romantiker im Spätkapitalismus" (S. 185). Das ist sicherlich nicht falsch, aber ebenfalls zu pauschal. Berechtigt macht aber Kollmann darauf aufmerksam, dass diese Linke die unteren sozialen Schichten eher ignoriere. Beider Lebenswelten seien auseinander gegangen. Der Autor zeigt außerdem, dass dies bereits angesichts der Postmaterialismus-Phase absehbar war. Er betont auch, dass manche Forderungen wie die nach dem Grundeinkommen "neoliberal" kompatibel seien, stamme doch so etwas von dem Ökonomen Milton Friedman. Diese und andere Gedankengänge verdienen Interesse zur kritischen Reflexion. Gleichwohl hat man es hier nicht mit einer entwickelten und systematischen Auseinandersetzung mit der Linken zu tun. Es stellt sich außerdem die Frage, ob das gemeinte "linksliberale Establishment" überhaupt für eine Linke steht, womöglich ist aber auch nicht mehr übrig geblieben.

Karl Kollmann, Die neuen Biedermenschen. Von der 68er-Rebellion zum linksliberalen Establishment, Wien 2010 (Promedia-Verlag), 206 S., ISBN: 978-3-85371-469-0, 19,90 Euro

Unterstützen Sie uns bei Steady!