Bundestagsdebatte

"Ein Verbot kann nur die Ultima Ratio sein"

Am Freitag diskutierte der Bundestag über einen Antrag der AfD über die verfassungsrechtliche Prüfung und die Beratung eines Verbots des Tragens von Kinderkopftüchern in Kindertagesstätten und Schulen. Im Anschluss wurde der Antrag an den Ausschuss für Inneres und Heimat überwiesen.

Die erste, von wütenden Kommentaren begleitete Rede zum Thema hielt Mariana Iris Harder-Kühnel von der AfD, die zunächst die nach Ansicht ihrer Partei immer weiter zunehmende Überfremdung beklagte und vor den Gefahren des politischen Islams warnte. "Das Kinderkopftuch gleicht einer Zwangsjacke, es wird zu einer zweiten, unbequemen Haut, die die Mädchen ihrer Freiheit und ihrer Kindheit beraubt. (…) Die Kinder leben ständig in der Angst, dass das Kopftuch verrutschen könnte und sie bestraft werden." Es sei eine andauernde körperliche und psychische Disziplinierung, Mädchen, die sich weigerten, würden gemobbt, beleidigt und unter Druck gesetzt. "Das Kinderkopftuch ist ein Symbol des politischen Kindesmissbrauchs." Es bereite unterdrückte Mädchen auf ihre spätere Rolle als unterdrückte Frauen vor. "Und kommen Sie mir jetzt bitte nicht mit der Religionsfreiheit, denn es gibt im Islam kein religiöses Gebot, das Mädchen vor der Pubertät dazu anhält, ein Kopftuch zu tragen. (…) Das Tragen des Kinderkopftuchs ist nichts anderes als eine Machtdemonstration des Islamismus und hat in unserem Land nichts verloren." Es zementiere das, was es eigentlich zu überwinden gelte. Öffentliche Kindertagesstätten und Schulen hätten einen verfassungsrechtlichen Erziehungs- und Bildungsauftrag und sollten die Entwicklung von Kindern zu selbstbestimmten und gleichberechtigten Persönlichkeiten fördern, was das Kinderkopftuch verunmögliche und deshalb in solchen Einrichtungen verboten werden müsse.

Nina Warken wies für die Unionsfraktion darauf hin, dass sich verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber einem solchen Verbot nicht wegwischen ließen, es bleibe ein Spannungsverhältnis zwischen den Grundrechten bestehen. Sie stellte klar: "Auch ich lehne das Tragen von Kopftüchern bei Mädchen im Kita- und Grundschulalter entschieden ab, ein Verbot kann aber nur die Ultima Ratio sein. (…) Von einer selbstbestimmten Entscheidung für oder gegen ein Kopftuch kann in diesem Alter nicht die Rede sein." Zunächst müssten alle Maßnahmen zu Aufklärung und Überzeugung der Eltern ausgeschöpft sein. Integration könne man nicht einfach verordnen, sie geschehe nicht von oben, sondern an der Basis. Andernfalls drohe Protestverhalten oder eine gänzliche Ablehnung unserer Gesellschaftsordnung. Es gehe nicht darum, auf dem Rücken von Frauen und Mädchen Symbolpolitik zu betreiben. Sie plädierte dafür, zunächst mehr Fakten über die Thematik zu sammeln und forderte eine unaufgeregte, sachliche Debatte. Ihr Parteikollege Marcus Weinberg warnte zu einem späteren Zeitpunkt vor Anmaßung und Pauschalierung. Bei einer Kindeswohlgefährdung gebe es bereits Möglichkeiten des Eingreifens von staatlicher Seite.

"Auch Religionsfreiheit findet ihre Grenzen in der Integrationsaufgabe der öffentlichen Schulen."
Christoph de Vries (CDU/CSU-Fraktion)

Ein weiterer Fraktionskollege, Christoph de Vries, mahnte später in der Debatte, der Respekt vor der Religionsfreiheit und dem elterlichen Erziehungsrecht entbinde die Politik nicht von der Verantwortung, das staatliche Wächteramt ernst zu nehmen. Das zentrale Grundrecht der Religionsfreiheit dürfe nicht als Feigenblatt für eine systematische Benachteiligung junger muslimischer Mädchen herhalten. Er verwies auf Frauenrechts- und Migrantenorganisationen, die ein entsprechendes Verbot befürworten. "Es gibt eine Eingriffsrechtfertigung durch den staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag im Schulwesen; auch Religionsfreiheit findet ihre Grenzen in der Integrationsaufgabe der öffentlichen Schulen." Letztendlich gehe es um die Frage, inwieweit religionsunmündige Kinder in ihrer Freiheit beschränkt werden dürften, um ihnen auf diese Weise eine ungestörte Entwicklung hin zu einer autonom handelnden Persönlichkeit zu ermöglichen.

Benjamin Strasser (FDP) gab zu bedenken, dass ein solches Verbot für alle religiösen Bekleidungsvorschriften gelten müsse: "Das heißt: Keine Kippa für Jungs, das heißt: kein Halskreuz für Jungen und Mädchen. Die entscheidende Frage ist: Wollen wir das? Und ich beantworte diese Frage für mich mit 'nein', ich möchte das nicht." Die zentrale Herausforderung sei, wie man das Selbstbestimmungsrecht von jungen Frauen und Mädchen stärke. Er sprach sich für Aufklärung in den Schulen und Dialog mit den Muslimen aus, den er und die frauenpolitische Sprecherin seiner Partei in den kommenden Wochen führen würden.

Lars Castellucci von der SPD begann sein Statement mit einem Angriff auf die AfD: "Ihr einziges Dasein, (…) ihre hässlichen Reden hier im Deutschen Bundestag, ihre Verhaltensweisen, sind ein einziger Akt der Desintegration, es geht Ihnen nicht um Integration und Sie sollten die Kinder auch nicht für diese Argumentation missbrauchen." Man könne nicht von außen feststellen, was jemand als seiner Religion zugehörig begreife. "Was Religion ist und bleibt, ist das, was Menschen daraus machen, im Guten wie im Schlechten." Er nahm die Rede seiner Kollegin aus der AfD Stück für Stück auseinander und kam zu dem Schluss, dass es der Partei weder um Religionsfreiheit noch um Wissenschaft oder Frauenrechte gehe, sondern "nur um ihre Spalterei". Den Hass gegen Muslime nannte er ihr "Lebenselixier", das die AfD "immer wieder zur Schau tragen" würde. "Da hilft vielleicht höchstens noch der Heilige Geist, am Sonntag hat er wieder eine Chance, auf sie herabzusteigen, ich wünsche Ihnen frohe Pfingsten", schloss er mit einer frommen Note.

"Sie sind nicht Opfer des Kopftuchs, sie sind aber Opfer solcher dämlichen Anträge und solcher dämlichen Kopftuchdebatten."
Helge Lindh (SPD-Fraktion)

SPD-Kollege Helge Lindh ergänzte später, die Bezeichnung des Kinderkopftuches als politischen Kindesmissbrauch sei "unappetitlich" und eine Verharmlosung des tagtäglichen Kindesmissbrauchs. Er kritisierte außerdem, dass Frauen durch solche Debatten erst recht in eine Opferrolle gebracht würden: "Wir stigmatisieren doch die angeblich Stigmatisierten erst recht und dann wollen wir, dass sie kein Kopftuch tragen, damit die von uns hervorgerufene Ausgrenzung wieder ausgegrenzt wird." Außerdem beanstandete er, dass die Betroffenen nicht selbst befragt würden und veranschaulichte seine Argumentation anhand einer seiner Mitarbeiterinnen, die ein Kopftuch trage: "Hat einer von Ihnen gefragt, was sie empfindet, was sie denkt, welche Motive sie hat? (…) Sie (…) empfindet es als zutiefst entwürdigend und übergriffig, über sie zu urteilen und zu sagen: Du bist Opfer des Zwangs und weil du’s gar nicht merkst, merkst du nicht mal, dass du Opfer des Zwangs bist, du kannst nicht mal selbst denken. So (…) entwerten wir Menschen muslimischen Glaubens. (…) Sie sind nicht Opfer des Kopftuchs, sie sind aber Opfer solcher dämlichen Anträge und solcher dämlichen Kopftuchdebatten."

Gökay Akbulut von den Linken führte an, dass in Deutschland nur ein Bruchteil der Mädchen unter 14 Jahren ein Kopftuch trage. Viele täten dies ab Beginn der Pubertät unter anderem aus Wunsch nach religiöser Identität und Zugehörigkeit. Muslimische Mädchen würden durch ein Kopftuchverbot in einen für sie nicht lösbaren Konflikt geraten. Es sei fraglich, ob ein solcher Eingriff in die Religionsfreiheit und in Elternrechte vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben würde. Die AfD setze sich in ihrem Antrag über geltendes Recht und die Meinung von Experten hinweg. "Sobald das Wort 'Kopftuch' aufkommt, denken viele, sie müssen die verschleierte Frau entschleiern und befreien. Frauen mit Kopftuch werden automatisch als Opfer betrachtet, was für eine koloniale Geste." Manche muslimischen Mädchen fühlten sich ohne Kopftuch freier und emanzipierter, andere wiederum, wenn sie es trügen. "Die größte Gefahr in unserer Gesellschaft geht nicht von kopftuchtragenden Frauen oder Muslimen aus, sondern von weißen Männern und Rassisten." Der Zwang, ein Kopftuch zu tragen, sei ebenso abzulehnen wie der, es abzusetzen.

"Das Kopftuch für Mädchen lehnen wir ab", stellte Filiz Polat (Bündnis 90/Die Grünen) klar, "genauso wie die große Zahl der Muslime in Deutschland – und auch der Dachverbände, im Übrigen – ein Verbot ist allerdings aus unserer Sicht nicht der richtige Weg und auf Bundesebene definitiv so oder so gesetzlich nicht umsetzbar." Allein die Grundrechtsträgerin könne entscheiden, ob es sich um ein für sie verbindliches Glaubensgebot handele, der Staat habe nicht zu beurteilen, welche Bekleidungsvorschriften aus religiöser Überzeugung getragen würden. Jedoch müsse der Staat in die elterliche Fürsorge eingreifen können, wenn Zwang ausgeübt werde, und das Kindeswohl in den Mittelpunkt stellen. Dafür gebe es eine Rahmengesetzgebung und die Grünen sähen hier keinen Änderungsbedarf auf Bundesebene. Ein pauschales Verbot und dessen Durchsetzung hätten unverhältnismäßige Folgen, insbesondere für die Kinder, wenn sie beispielsweise vorübergehend von Bildungseinrichtungen ausgeschlossen würden, fand die Politikerin.

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