Auf den Querdenker-Demonstrationen der vergangenen Monate traten Anthroposophen Seite an Seite mit Rechten auf. Tipps gegen den hierdurch entstandenen Imageschaden holte sich die "Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland" beim Antisemitismus-Beauftragten der baden-württembergischen Landesregierung Dr. Michael Blume. Und das, obwohl Anthroposophie-Begründer Rudolf Steiner selbst als Antisemit gilt. hpd-Autor Andreas Lichte sprach hierüber mit dem Religionsphilosophen und Anthroposophie-Experten Ansgar Martins.
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Dass Anthroposophen und Waldorfianer in jüngster Zeit oft mit Rechten auf "Querdenken"-Demonstrationen auftraten, blieb von den Medien nicht unbemerkt. So titelte beispielsweise "Der Tagesspiegel": "Gefährliche Nähe zu extremem Gedankengut: Was Gegner der Corona-Maßnahmen eint", und thematisierte den Rassismus Rudolf Steiners (1861 – 1925) sowie die Rolle der Anthroposophie im Nationalsozialismus. Auch die Wochenzeitung "Die Zeit" attestierte einen Brückenschluss anthroposophischer Hausfrauen mit radikalen Rechten. Eine Katastrophe für das Marketing von Waldorfschule, Demeter & Co., die auch den Sprecher des "Bundes der Freien Waldorfschulen", Henning Kullak-Ublick, feststellen ließ, "dass in den letzten Monaten fast alle überregionalen Medien irgendwann 'Reichsbürger, Neonazis, Esoteriker, Impfgegner und Anthroposophen' in eine Reihe gestellt haben". Ratschläge zur Bekämpfung des hierdurch eingetretenen Imageschadens holte sich die "Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland" (AGiD) am 7. Oktober 2020 im Rudolf Steiner Haus Stuttgart von Dr. Michael Blume, Beauftragter der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus, und Lisa Stengel, Leiterin des Referats für Bekämpfung Antisemitismus, Projekte Nordirak, Wertefragen, Minderheiten. Erstaunlich angesichts der Tatsache, dass Steiner selbst als Antisemit gilt. Noch erstaunlicher, dass der Antisemitismus-Beauftragte Blume den Tipp gab, Rudolf Steiner als Freund des Judentums zu verkaufen.
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Lichte: Bevor wir zu einzelnen Aussagen Blumes kommen, möchte ich mit Ihrer Hilfe versuchen, die Rolle des "Judentums" innerhalb der Anthroposophie zu skizzieren. Die Kulturwissenschaftlerin Jana Husmann sagt dazu: "Als 'Mondenreligion' ist das Judentum und mit ihm der jüdische Schöpfergott (den Steiner als Mondgottheit vorstellt) durch das Sohnesprinzip, d. h. durch Christus als Sonnenprinzip zu überwinden."[i]
Martins: Wie Mondlicht reflektiertes Sonnenlicht ist, so spiegelt für Rudolf Steiner bereits der Gott der hebräischen Bibel das Wesen Christi, das durch den Kosmos zu seiner Verkörperung in Jesus herabsteigt. Dem liegt ein altes christliches Vorurteil zugrunde, wonach das Judentum vor 2000 Jahren irgendwie stehengeblieben sein soll oder jedenfalls seine Innovationskraft ans Christentum abgetreten habe. Für die Anthroposophie ist die Menschheitsgeschichte eine stufenweise Höherentwicklung und das antike Judentum war eine Etappe dieser Entwicklung. Der Mondgeist, den Steiner mit dem Namen des jüdischen Schöpfergottes belegt, erzeugte damals blutsgesteuerte Kollektive, "Rassen", um die noch unmündigen Menschen an die Erde zu binden. Dann kam Christus und befreite sie durch ein individuelles "Ich". Auf dieser Grundlage deutet Steiner zum Beispiel den Blutrausch des Ersten Weltkriegs als Rückfall in jenen kollektiven Bewusstseinszustand oder manche seiner Schüler hielten die Blut-und-Boden-Mythologie der Nazis für jüdisch …
Lichte: Das Judentum hat also seinen Beitrag zur (Höher-)Entwicklung der Menschheit geleistet. Mit dem Erscheinen des "Hohen Sonnenwesens" – der Geburt Christi – war diese Phase der "Menschheitsentwickelung" abgeschlossen. Wie kann das Judentum dann heute noch gelebt werden? Und soll es das überhaupt? Dazu fällt mir dieses Zitat des jungen Steiner ein:
"Es ist gewiss nicht zu leugnen, dass heute das Judentum noch immer als geschlossenes Ganzes auftritt und als solches in die Entwicklung unserer gegenwärtigen Zustände vielfach eingegriffen hat, und das in einer Weise, die den abendländischen Kulturideen nichts weniger als günstig war. Das Judentum als solches hat sich aber längst ausgelebt, hat keine Berechtigung innerhalb des modernen Völkerlebens, und dass es sich dennoch erhalten hat, ist ein Fehler der Weltgeschichte, dessen Folgen nicht ausbleiben konnten. Wir meinen hier nicht die Formen der jüdischen Religion allein, wir meinen vorzüglich den Geist des Judentums, die jüdische Denkweise. … Juden, die sich in den abendländischen Kulturprozeß eingelebt haben, sollten doch am besten die Fehler einsehen, die ein aus dem grauen Altertum in die Neuzeit hereinverpflanztes und hier ganz unbrauchbares sittliches Ideal hat."[ii]
Martins: Ja, das ist das kanonische Zitat, das zeigt, dass Steiner schon in seiner vor-anthroposophischen Phase ähnlich dachte, Jahre vor seiner Wende zur Esoterik. Es geht in seinem Text um Robert Hamerlings antimoderne Satire "Homunculus". Die Hauptfigur, "Homunkel", den Steiner zu Recht als Karikatur des entfremdeten modernen Subjekts interpretiert, macht sich nach allerlei gescheiterten Projekten zum König der Juden, quasi zur Krönung seiner Dekadenz. In der Zwischenzeit sind die Christen pleite gegangen, die Juden können sie also nicht mehr ausnehmen und wandern deshalb mit Homunkel und all ihrem Gold nach Israel, wo sie sich als unfähig zur Organisation eines eigenen Staats erweisen und ihn kreuzigen. Dann dürfen sie aber unter der Bedingung, dass sie den Europäern ihre Schulden erlassen, wieder nach Europa zurück, wimmelnd wie Ameisen eilen sie davon und lassen Homunkel am Kreuz hängen, der dann weitere Abenteuer erlebt.
Folgerichtig wurde Hamerling als Antisemit kritisiert, Steiner verteidigte ihn 1888 mit dem Text, den Sie zitieren: Hamerling stehe "mit der überlegenen Objektivität eines Weisen sowohl Juden als auch Antisemiten gegenüber", während ja "gewiss nicht zu leugnen" sei, dass das Judentum in der Neuzeit keinen Platz habe, usw. So verteidigte Steiner einen Antisemiten mit antisemitischen Argumenten gegen den Vorwurf des Antisemitismus. Auf den ersten Blick paradox, aber nicht ungewöhnlich in der Geschichte des Antisemitismus.
Steiner arbeitete damals sogar als Hauslehrer bei einer jüdischen Familie in Wien, den Spechts. Dass sein Artikel sie zutiefst verletzte, konnte Steiner gar nicht verstehen. Schließlich zählte er die Spechts zu jenen Juden, die sich "in den abendländischen Kulturprozeß eingelebt" hätten und demnach seine Einschätzung teilen müssten. Steiner sah gar keinen Zusammenhang zwischen seinen eigenen positiven Erfahrungen mit bestimmten Juden und seiner stereotypen Wahrnehmung des Judentums insgesamt.
Um Steiners Unbelehrbarkeit zu verstehen, muss man sich klarmachen, wie tief verankert diese Ressentiments waren. Die meisten Nichtjuden gingen davon aus, dass Juden sich möglichst vollständig vom Judentum distanzieren sollten. Als Antisemit galt damals eher, wer fand, Juden seien aus biologischen oder sonstigen Gründen unfähig dazu. Man konnte also, woran sich bis heute wenig geändert hat, allerlei antijüdische Vorurteile hegen, und zugleich als Anti-Antisemit durchgehen. Jean-Paul Sartre formulierte dieses Problem einmal so: "Der Antisemit wirft dem Juden vor, Jude zu sein; der Demokrat würde ihm am liebsten vorwerfen, sich als Juden zu betrachten. Zwischen seinem Gegner und seinem Verteidiger steht der Jude ziemlich schlecht da: ihm scheint nur die Wahl zu bleiben, ob er roh oder gekocht verspeist werden möchte." Steiner ist Sartres "Demokrat". Er grenzt sich vom völkischen Antisemitismus ab und hält seine eigenen Vorurteile für aufgeklärt.
Lichte: Von anthroposophischer Seite kommt immer wieder der Hinweis auf "jüdische Anthroposophen", mit der Botschaft: "Wenn Juden Anthroposophen sind, können Steiner und die Anthroposophie doch nicht antisemitisch sein!" Sie haben ein Buch über den Anthroposophen Hans Büchenbacher geschrieben, der jüdische Wurzeln hatte …[iii]
Martins: Wäre es nur so einfach! Inzwischen gibt es zum Beispiel eine rege Rezeption der Anthroposophie in Israel, auch da begleitet durch Debatten über ihr Verhältnis zu Antisemitismus und Judentum. Der Ex-Anthroposoph Israel Koren legte erst 2019 ein zweibändiges, äußerst kritisches Buch dazu vor. In der frühen anthroposophischen Bewegung hatten einige wichtige Figuren einen jüdischen Familienhintergrund, neben Büchenbacher etwa Alexander Strakosch, José del Monte oder Carl Unger. Sie bekannten sich allerdings fast alle zu Steiners esoterischem Christentum. Nur wenige versuchten, wie Adolf Arenson oder Viktor Ullmann, Anthroposophie und Aspekte jüdischer Tradition zu verbinden. Andere Anthroposophen mit jüdischem Hintergrund vertraten selbst antisemitische Positionen, so etwa Karl König oder Ludwig Thieben, die weit über Steiners antijüdische Seitenhiebe hinausgingen. Büchenbacher nun, Katholik mit jüdischem Vater, will Steiner mit Antisemitismus unter Anthroposophen konfrontiert haben und behauptet, der habe abgewehrt: "Das gibt es nicht in der Anthroposophischen Gesellschaft." Diese "Bei uns doch nicht! Wir sind doch die Guten!"-Haltung ist bis heute charakteristisch, geht mit einem sehr deutschen "Wir sind die Opfer!"-Komplex einher und wird auch angesichts der letzten kritischen Presseberichte wieder mit großer Heftigkeit vorgetragen.
Lichte: Ich möchte jetzt auf einzelne Aussagen von Dr. Michael Blume eingehen, dem Antisemitismus-Beauftragten der baden-württembergischen Landesregierung. Bei seinem Besuch im Rudolf Steiner Haus Anfang Oktober machte er der Anthroposophischen Gesellschaft Vorschläge, wie man der öffentlichen Kritik an der Anthroposophie begegnen könnte, Zitat Anthroposophische Gesellschaft:
"'Vielleicht würde ein Podcast helfen, in dem man einen kritischen und wertschätzenden Diskurs zu strittigen Fragen führt', meinte Dr. Blume und berichtete von seinen Erfahrungen mit diesem Medium. Eine weitere Möglichkeit wäre die Beteiligung an den Feierlichkeiten zu 1700 Jahre jüdischen Lebens mit Podiumsgesprächen, die z. B. das Verhältnis der Anthroposophie zur jüdischen Mystik untersuchen oder sich mit den Rassismus- und Antisemitismusvorwürfen auseinandersetzen könnten. Laut Dr. Blume war auch Rudolf Steiner im Umfeld des 'Vereins zur Abwehr des Antisemitismus' tätig. Daran könne man doch anknüpfen. Es sei wichtig, solche verbale Beiträge auf einer Website zu sammeln, denn heute brauche es einen 'crossmedialen' Ansatz, um die Auseinandersetzung zu dokumentieren."
Martins: Das mag im Einzelnen alles interessant sein. Die Frage ist, ob die Anthroposophische Gesellschaft es übers Herz bringt, irgendetwas davon realistisch darzustellen. Selbst ein so unverfänglich klingendes Thema wie das Verhältnis zur sogenannten jüdischen Mystik, der Kabbala, eignet sich nur auf Kosten der Wahrheit für Propaganda-Podcasts. So bedient sich die Theosophin Helena Blavatsky, von der dann Steiner abschreibt, ständig aus Literatur über die Kabbala. Die Lehre von den siebenfältigen Weltzyklen hat ein frühes kabbalistisches Pendant, die Shemittot, ähnlich bei der Engellehre usw. Aber Blavatsky beschuldigt gleich in ihrem ersten Text Moses, er habe das wahre kabbalistische Wissen tückisch verfälscht, später führt sie noch mehr antisemitische Ideen aus. Ein anderes Beispiel war der von Steiner inspirierte Kabbalist und Zionist Ernst Müller, mit dem sich zuletzt renommierte Wissenschaftler wie Gerold Necker und Andreas Kilcher beschäftigt haben, während zeitgenössische Anthroposophen – wir reden hier wieder über Wien, diesmal um 1920 – sich weigerten, seine Übersetzung des Buches Zohar in die Bibliothek aufzunehmen, weil Müller außer auf Steiner auch auf den jüdischen Philosophen Martin Buber hinwies. Er wurde erst Jahre später von Hans-Jürgen Bracker wiederentdeckt. Es geht darum: Nutzt man Müller oder die Auseinandersetzung mit Blavatsky, um über Steiners Zerrbild des Judentums hinauszugehen, oder instrumentalisiert man all das, um es bloß zu vertuschen? In der Pressemitteilung scheint es um letzteres zu gehen.
Lichte: Danke für Ihre gelungene Illustration von "There’s more to the picture than meets the eye"![iv] Genauer hinschauen sollte man auch hier, Zitat Anthroposophische Gesellschaft: "Laut Dr. Blume war auch Rudolf Steiner im Umfeld des 'Vereins zur Abwehr des Antisemitismus' tätig. Daran könne man doch anknüpfen." Das wirkt auf nicht mit der Anthroposophie vertraute Leser ja wie der "Unschuldsbeweis" Steiners.
Martins: Ich fände es erfreulich, wenn mehr Steiner-Leser sich für seine Texte für den Abwehrverein erwärmen könnten. Sie gehören zu einem Teil seines Werks, den Anthroposophen seltener zitieren als seine esoterischen Vortragsbände und in dem er ganz andere Thesen vertritt. Kurz nach 1900 war Steiner Atheist, Anarchist, Mitglied des Giordano-Bruno-Bundes, dozierte an der von Wilhelm Liebknecht gegründeten Berliner Arbeiterbildungsschule, oder schrieb ein Buch über den Evolutionsbiologen Ernst Haeckel. Diese Phase beschrieb er später als dämonische Prüfung, die er habe bestehen müssen, bevor er das spirituelle Christentum gefunden habe. 1900 und 1901 waren auch genau die Jahre, in denen Steiner Artikel für die "Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus" schrieb. Man sieht an diesen Artikeln deutlich, dass er inzwischen viele seiner Wiener Ansichten korrigiert und die Gefährlichkeit des Antisemitismus erkannt hatte. Nur entwickelte er wenige Jahre danach eben die Mond-Sonne-Mythen, die wir ganz am Anfang hatten, also seine ganze kosmische Evolutionsmetaphysik, der die Abwertung des Jüdischen als vermeintlich überwundener Vorstufe des Christentums eingebaut ist. Steiner macht also einen Lernprozess durch und vergisst ihn wieder. Die Geschichte seines Verhältnisses zum Judentum ist eine Geschichte des Versagens von Aufklärungsprozessen.
Lichte: Die "dämonische Prüfung" – "Atheist" und "Anarchist" – hat Steiner ja mit Bravour bestanden, wenn er danach in verschärfter, diesmal esoterisch aufgeladener Form, zum Antisemitismus zurückkehrte … Was sagen Sie zu Blumes Interview im "Schwäbischen Tagblatt"? Es liest sich wie nicht gekennzeichnete "Werbung" für die Anthroposophie:
"Schwäbisches Tagblatt: In den Protesten [Anmerkung Lichte: gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen] sind auch Alternativmedizin und Esoterik stark vertreten. Muss man anfangen, über problematische Strömungen der Anthroposophie zu sprechen?
Blume: Die gute Nachricht ist, dass das inzwischen auch in der Anthroposophie so gesehen wird. Ich wurde kürzlich von der Anthroposophischen Gesellschaft eingeladen und hatte ein sehr gutes Gespräch mit führenden Vertretern aus Deutschland und der Schweiz. Die merken selbst: Der Riss geht gerade quer durch die eigenen Reihen, auch mitten durch die Waldorfschulen. Und sie erleben harte Angriffe im Internet, weil sie in Haftung genommen werden für Einzelne, die die 'Marke' Anthroposophie missbrauchen, um Verschwörungsmythen zu verbreiten. Man hat erkannt, dass da Handlungsbedarf besteht."
Eine "Marke" steht für "Qualität", wird wie ein Gütesiegel wahrgenommen: "Da wissen Sie, was Sie kaufen!" Eine Marke zu etablieren, ist die "Hohe Kunst" des Marketing, sagt Ihnen der ehemalige Werber. Bei Blume "missbrauchen Einzelne" die "'Marke' Anthroposophie": kann man noch peinlich-offensichtlicher PR für die Anthroposophie machen?
Martins: Immerhin spricht auch Blume im Interview mit dem "Schwäbischen Tagblatt" vom "Riss quer durch die eigenen Reihen", geht also selbst nicht von Einzelfällen aus. Die Anthroposophie ist durchaus eine "Marke", wird wie ein Gütesiegel wahrgenommen, insbesondere aus Stuttgarter Perspektive. Dass der Antisemitismusbeauftragte von Baden-Württemberg mit der Anthroposophischen Gesellschaft in Kontakt kommt, war eine Frage der Zeit. Blume spricht explizit von "Wir" und "Uns", wenn er die regionale Weltanschauungs-Landschaft schildert. Zu diesem "Wir" gehören Anthroposophen ebenso selbstverständlich wie die berühmten protestantischen Sekten, die Kretschmann-Grünen, schwäbische "Wutbürger" und all das, was er Platonismus nennt. Diese religionsgeographischen Ausführungen sind hilfreich, um zu verstehen, warum eine Bewegung wie die Corona-"Querdenker" in einer Gegend aufblüht, in der auch Anthroposophie verbreitet ist: in Baden-Württemberg! Das "Wir" funktioniert zugleich pädagogisch und politisch, so wie im Titel von Blumes Antisemitismus-Buch: "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht"[v]. Er will, wie er im "Schwäbischen Tagblatt" betont, die Gefühlsebene erreichen, statt Leute zu verschrecken. In einem Podcast begründet er dieses suggestive Vorgehen mit der Hirnforschung: Unsere Gehirne seien darauf angelegt, sich mit etwas Positivem zu identifizieren.
Lichte: Die positive Identifikation findet bei Blume in der Religion statt:
Blume: "In einer Religion lernen wir, dass gute Mächte die Welt regieren, und man darf auch hinterfragen und zweifeln. Verschwörungsmythen lehren, dass böse Mächte alles lenken, nämlich die Verschwörer. Und es wird Panik erzeugt: Das Ende ist nah, alle lügen, man darf nur noch der eigenen Blase glauben."
Martins: Eine solche Trennung zwischen gutgläubiger Religion und pessimistischen "Verschwörungsmythen" funktioniert so wenig wie die Reduzierung des Antisemitismus auf "Verschwörungsmythen". Aussichten auf die Gewalt des Bösen und das Ende der Welt sind in Religionen ja keine Seltenheit und umgekehrt glauben viele sogenannte Verschwörungstheoretiker im Prinzip an gute Weltlenker.
Nehmen wir wieder Steiner: Erst als er erklären musste, warum trotz aller hilfreichen Engel und "Eingeweihten" etwas so Barbarisches wie der Erste Weltkrieg passiert, führte er schwarzmagische Geheimgesellschaften als Machtfaktoren ein. Juden traute Steiner dabei gar keine weltbeherrschende Kraft zu und keine Verschwörung. Er begründete die Überholtheit des Judentums innerhalb seines evolutionären Gott- und Fortschrittsvertrauens. Sein Antisemitismus ist mit dem, was Blume "Religion" oder "Semitismus" nennen würde, ebenso kompatibel wie all die Varianten des scheinbar liberalen, progressiven Antisemitismus aus der viel beschworenen "Mitte der Gesellschaft".
Lichte: Können Sie kurz erläutern, wie Blume den Begriff "Semitismus" gebraucht?
Martins: Die Kategorie "semitisch" bezeichnet bestimmte Sprachen des Nahen Ostens mit weitgehenden strukturellen Ähnlichkeiten, zu denen auch Hebräisch zählt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eigneten Antisemiten sich den Begriff dann an, um ihrem Judenhass einen wissenschaftlich-seriösen Anstrich zu geben und zu verdeutlichen, dass es ihnen um mehr als den tradierten religiösen Gegensatz zwischen Christen und Juden ging.
Hieran knüpft Blumes Verwendung des Begriffs "Semitismus" insofern zu Recht an, als er betont, dass der Antisemitismus stets mit einer umfassenderen ideologischen Orientierung einhergeht. Antisemitismus sei Verschwörungstheorie gegen "Semitismus". Und "Semitismus" definiert er so ähnlich wie Religion: ein optimistisches Zukunfts- und Gottvertrauen, entstanden mit der Erfindung der Schrift im Zweistromland, jüdisch, christlich, islamisch und säkular zugleich. In dem Maße, in dem er einen fiktiven "Semitismus" zur eigenständigen Größe erhebt, entfernt sich Blumes Konzept des Antisemitismus dann allzu weit von dessen antijüdischer Stoßrichtung. Denn wenn am Ende so gut wie alles "Semitismus" ist, dann sind "wir" am Ende fast alle Semiten. Vermutlich ist auch diese Ausweitung des Begriffs pädagogisch und strategisch motiviert. Je umfassender das so geschaffene "Wir", desto eingängiger erscheint die Annahme, dass der Antisemitismus "uns alle bedroht".
Lichte: Die vermeintliche Originalität – "Wir sind alle Semiten!" – führt zur ganz großen Beliebigkeit. Wer dann auch noch wie Blume in einem Podcast die "Schlümpfe" mit Luther vergleicht, verharmlost Antisemitismus, und verhindert seine wirksame Bekämpfung.
[i] Jana Husmann, "Schwarz-Weiß-Symbolik: Dualistische Denktraditionen und die Imagination von 'Rasse'. Religion – Wissenschaft – Anthroposophie", Transkript, 2010, Seite 256
[ii] Rudolf Steiner, "Gesammelte Aufsätze zur Literatur 1884 bis 1902", GA 32, Seite 152
[iii] Ansgar Martins, "Hans Büchenbacher. Erinnerungen 1933 – 1949", Info 3, 2014
[iv] "There’s more to the picture than meets the eye"! – frei übersetzt: "Es steckt mehr dahinter, als auf den ersten Blick zu sehen ist"
[v] Michael Blume, "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht", Patmos Verlag, 2019
33 Kommentare
Kommentare
Martin Franck am Permanenter Link
Ich wusste gar nichts von einem Giordano Bruno Bund für einheitliche Weltanschauung den https://de.wikipedia.org/wiki/Bruno_Wille Bruno Wille gründete, und der teilweise in den https://de.wikipedia.org/wiki/Deutscher_
Ein Artikel zu dem Verband, der vom Mai 1900 bis zum Oktober 1907 bestand, und sich im Anschluß an ein vom
Giordano Bruno-Komitee veranstaltetes Fest vom 18. Februar 1900, dem 300. Jahrestag der Hinrichtung Giordano Brunos gründete, wäre aufschlußreich.
Martin am Permanenter Link
Ein guter Artikel zum Thema Anthroposophie, Corona, Impfgegnerschaft und Antisemitismus von Dietrich Krauß, der u.a. für "Die Anstalt" recherchiert:
"Wir können alles außer impfen
Nirgendwo in Deutschland ist die Impfquote niedriger als in Baden-Württemberg. Will man verstehen, wo die schwäbische Impfparanoia ihren Ursprung hat, sollte man vor allem die Anthroposophie Rudolf Steiners in den Blick nehmen."
https://www.kontextwochenzeitung.de/debatte/484/wir-koennen-alles-ausser-impfen-6853.html
Andreas Lichte am Permanenter Link
@ Martin
schau mal, was in dieser Antwort von Ansgar Martins verlinkt ist, bei "Baden-Württemberg" ...:
"(...) Diese religionsgeographischen Ausführungen sind hilfreich, um zu verstehen, warum eine Bewegung wie die Corona-"Querdenker" in einer Gegend aufblüht, in der auch Anthroposophie verbreitet ist: in Baden-Württemberg! (...)"
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Auch die Antroposophischen Schulen rechne ich zu der Schwarz-Braunen Gesinnung
in der BRD welche in ihrer Lehre Antisemitische Ansichten vertreten.
Folglich müssen wir uns ständig mit einer überflüssigen, erfundenen Weltanschauung herumschlagen.
Andreas Lichte am Permanenter Link
@ Gerhard Baierlein
Dr. Michael Blume handelt nach der Devise "Hauptsache Religion!", egal welche ...:
"jüdisch, christlich, islamisch" – jetzt auch ANTHROPOSOPHISCH !
Roland Fakler am Permanenter Link
Da sind wir uns wieder mal einig. Es gäbe sicher noch wichtigere Fragen zu erörtern, z.B.: Warum konnten die sieben Geißlein wieder heil aus dem Bauch des Wolfes gerettet werden?
Andreas Lichte am Permanenter Link
@ Roland Fakler Sind Steiners "Märchen" jugendfrei? Sollten sie in der Waldorfschule erzählt werden?
Am 6. September 2007 entschied die "Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien" (BPjM) , dass Steiners Bücher rassistischen Inhalt haben, "in Teilen als zum Rassenhass anreizend beziehungsweise als Rassen diskriminierend anzusehen“ sind, siehe: https://www.ruhrbarone.de/3-jahre-rudolf-steiner-ist-zum-rassenhass-anreizend-bzw-als-rassen-diskriminierend-anzusehen/16511
Roland Fakler am Permanenter Link
@ Andreas Lichte Lieber Herr Lichte, um es klar zu sagen: Ich halte Ihre Kritik an Steiner für sehr wichtig und richtig!
Wogegen ich mich wende ist, dass Kindern solche „Märchen“, damit meine ich diese Steiner ‘schen „Glaubenswahrheiten“ als wahre Wahrheiten serviert werden. Wenn ein Märchenonkel (Steiner) alte Märchen (Bibel) widerlegen will, kommen dabei eben wieder Märchen raus, über die man sich endlos streiten kann, weil ihnen der Boden der Realität fehlt. Wir brauchen ein humanistisches Wertesystem, das sich an der Wirklichkeit orientiert.
Andreas Lichte am Permanenter Link
@ Roland Fakler Die Tautologie "wahre Wahrheiten" gefällt mir, sie passt zu Steiner …:
"(...) Steiner behauptete, Einblick in die „Akasha-Chronik“, ein geistiges Weltengedächtnis in der „Ätherwelt“ („akasha“, Sanskrit: Äther), zu haben. In dieser „Chronik“ seien alle Ereignisse der Geschichte, alle Taten, Worte und Gedanken der Menschheit enthalten, die dem „Geistesforscher“ – also ihm selber – zur Verfügung stünden. Steiner sagt über seine Rolle als „Seher“: „Meinen Schauungen in der geistigen Welt hat man immer wieder entgegengehalten, sie seien veränderte Wiedergaben dessen, was im Laufe älterer Zeit an Vorstellungen der Menschen über die Geist-Welt hervorgetreten ist (…) Meine Erkenntnisse des Geistigen, dessen bin ich mir voll bewusst, sind Ergebnisse eigenen Schauens“(2). Und: „Das müssen wir uns immer wiederum vor die Seele stellen, dass wir nicht aus Urkunden schöpfen, sondern dass wir schöpfen aus der geistigen Forschung selbst und dass wir dasjenige, was aus der Geistesforschung geschöpft wird, in den Urkunden wieder aufsuchen (…) Was heute erforscht werden kann ohne eine historische Urkunde, das ist die Quelle für das anthroposophische Erkennen“(3). (...)", zitiert aus: "Rudolf Steiner, ‘Philosoph’?", https://ratgebernewsblog2.wordpress.com/2014/12/01/rudolf-steiner-philosoph/
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Lieber Roland, bin gerade dabei das Buch von Gottfried Beyvers zu lesen mit dem Titel, Argumente kontra Religion, trotz des Vornamens des Autoren, ein super Buch mit glasklaren Aussagen gegen das Christentum und Relig
David Z am Permanenter Link
Viel spannender finde ich den Umstand, dass zum großen Teil auch Linke und Grüne mit von der Partie sind.
Andreas Lichte am Permanenter Link
@ David Z Ist Dr. Michael Blume ein "Linker"? DAS wäre mir wirklich neu ...
David Z am Permanenter Link
Ob Herr Blume links denkt oder nicht, ist für meinen Hinweis unerheblich.
Ansgar Martins am Permanenter Link
@ David Z
Richtig, danke für den Kommentar! Die bisherigen Untersuchungen zum Thema Esoterik und Politik, und nicht etwa nur zur Anthroposophie, sondern auch zu sonstigen esoterischen Strömungen und Autoren haben sich bisher fast ausschließlich mit dem rechten Rand beschäftigt. Dabei gab und gibt es viele linke Varianten. Das gilt für einige Blavatsky-Schüler ebenso wie für manche Anhänger C. G. Jungs (der selbst allerdings Nazi war), auch viele "Querdenker" heute verstehen sich ja wohl ungeachtet der rechtsradikalen Demonstrationsteilnehmer als Linken- oder Grünenwähler, wie es scheint. Das dürfte heute bei sehr, sehr vielen Anthroposophen ähnlich sein, eher wenige sehen sich als rechts (es hat aber immer einen rechten Flügel der "Bewegung" gegeben). Hier hat Anthroposophie-Kritik noch viel zu leisten und nachzuholen.
Im Hinblick auf das Thema Antisemitismus führt das nur leicht zu Missverständnissen. Antisemitismus ist kein rechtes Phänomen, sondern viel breiter und tiefer gesellschaftlich verankert. Es gibt und gab schon immer linken Antisemitismus, der derzeit unendlich viel salonfähiger ist als rechter Antisemitismus. Er nimmt oft die Gestalt von antiwestlichem, antiisraelischem und antiamerikanistischem Geraune an – und genau hier können Steiners Vorstellungen über böse "okkulte Logen" hinter "Angloamerika" von rechts wie links anschlussfähig gemacht werden. Eine gute Schilderung dieses "left-right-crossover" (Peter Staudenmaier) findet sich in der 2018er-Ausgabe von Hans Peter Riegels Beuys-Biographie. Der christliche Sozialist Rudi Dutschke, der grüne Anthroposoph Joseph Beuys und der Nazi Werner Georg Haverbeck (Mann der heute noch bekannten Ursula Haverbeck, der sich auch für Mao begeistern konnte) saßen durchaus mal an einem Tisch und hatten sich viel zu sagen.
Die ganz frühe Anthroposophie schätze ich deutlich und überwiegend als konservativ und nationalkonservativ ein. Es gab im Einzelfall marxistische Steiner-Leser wie Ernst Bloch, dessen "Geist der Utopie" (1918) oberflächlich gegen Steiner polemisiert, aber unterschwellig viel übernimmt. So kommt Bloch zu einer ideengeschichtlich einzigartigen marxistischen Reinkarnationslehre (Sie finden sie ab Seite 420 hier: https://archive.org/details/geistderutopi00bloc/page/n9/mode/2up , die Steinerschen Einflüsse bemerkt man immer wieder terminologisch, im Kapitel über "Seelenwanderung" etwa bei der Unterscheidung von alter und neuer "Einweihung" im Hinblick auf Christus, S. 424). Aber Bloch ist im Umfeld der frühen Anthroposophie, soweit ich weiß, eher eine Ausnahme, und er war nie Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft, sondern wurde mit den Jahren immer Steiner-kritischer, wiewohl man ihn bis zum Lebensende als marxistischen Esoteriker bezeichnen kann.
Nach 1968 beginnen dann einzelne Anthroposophen, wie Wilfried Heidt, sich von den erzkonservativen Anthroposophen der Adenauerzeit abzugrenzen, und im Umfeld der frühen Partei die Grünen (wo es aber auch genug Rechtsradikale gab) findet man dann sogenannte "Bewegungsanthroposophen", von denen einige linke und antiautoritäre Anthroposophieverständnisse entwickelten. Man kann sie unter dem Motto von Beuys zusammenfassen, die "Mysterien" fänden heute nicht mehr am "Goetheanum" (d.h. nicht mehr im Anthroposophenvatikan), sondern am "Hauptbahnhof" statt: also in der großen weiten Welt statt im okkulten Hinterland.
Einen guten Einstieg dazu bietet Silke Mende, "Nicht rechts, nicht links, sondern vorn". Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011, die ein gutes Kapitel über die grünen Anthroposophen hat. Schon das Titelzitat zeigt aber wieder, dass es hier mit dem Etikett "links" nicht so leicht ist. Die entsprechenden Akteure waren eher um Inklusion fragwürdiger Themen bemüht als um Ab- oder Ausgrenzung. Als sich in der Partei Die Grünen ein linker Kurs durchsetzte, brach auch ein Teil der anthroposophischen Interessenten weg.
Ein Problem hatten diese grünen und linken Anthroposophen oft mit dem Marxismus (weil "Materialismus" Steiners große Angstphantasie ist), aber man konnte sich mit manchen Anarchisten (schon Steiner mochte ja Stirner) und der Selbstverwalterszene (ebenfalls heute von rechts unterlaufen) anfreunden. Eine sympathische Perspektive auf die Anthroposophie in diesem Sinne entwirft Josef Huber: Astral-Marx. Über Anthroposophie, einen gewissen Marxismus und andere Alternativen, in: Kursbuch 55, März 1979, S. 139-162. Eine schöne, eher anekdotische anthroposophische Perspektive auf den "Achberger Kreis" der frühen Grünen bietet der von Ramon Brüll im Info3-Verlag herausgegebene Band "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Der Impuls der Dreigliederung und die Gründung des Internationalen Kulturzentrums Achberg".
Ein prominenter linker Anthroposoph ist definitiv Arfst Wagner, Eurythmielehrer, zeitweiliger Bundestagsabgeordneter und der Pionier in der historischen Aufklärung über Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus. In der jüngeren Zeit dürften sich viele linke Anthroposophen in der Bewegung für ein "Bedingungsloses Grundeinkommen" (das aber auch ein Großkapitalist wie der dm-Gründer Götz Werner unterstützt) oder weiterhin in ökobewegten Kreisen finden.
Ein meiner Meinung nach eher unrühmliches Beispiel für heutige linke Anthroposophie ist vielleicht Michael Mentzels Seite "Themen der Zeit", wo neben der Leugnung von Steiners Rassismus und einem soliden Antiamerikanismus immer gerne pro Putin Position bezogen wird, etwa von Kai Ehlers: https://de.wikipedia.org/wiki/Kai_Ehlers Sowas findet man eben nicht nur in der AfD. Einige konservative und liberale Anthroposophen sind mir deutlich lieber als diese Variante linken Gedankenguts.
Zur sonstigen linken Esoterik fehlen umfassende Studien. Man kann aber feststellen, dass der Hang zum Völkischen in der deutschen esoterischen Szene ausgeprägter war als etwa in der englischsprachigen Welt. Die Verbindung von Theosophie mit sozialistischen und internationalistischen Positionen war keine Seltenheit. Der französische Okkultismus entwickelte sich sogar Hand in Hand mit Katholizismus und Frühsozialismus. Dazu siehe die bemerkenswerte Studie von Julian Strube: Sozialismus, Katholizismus und Okkultismus im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Die Genealogie der Schriften von Eliphas Lévi, Berlin/Boston 2016.
David Z am Permanenter Link
Interessante Ergänzung zum Artikel. Danke auch für die Literaturhinweise.
Gerold Leiste am Permanenter Link
Ein ausgewogener Beitrag zu Rudolf Steiners Verhältnis zum Judentum findet sich auf der jüdischen Hagalil-Website, erschienen erstmalig im »Jahrbuch für Antisemitismusforschung« (2012).
Blume steht mit seiner Einschätzung nicht allein da. Wolfgang Benz, Leiter des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung, resümiert, nachdem er Steiners "ausdrückliche Distanzierung vom rassistisch-völkischen Antisemitismus seiner Zeit" kenntlich gemacht hat: "Steiners Plädoyer für die Assimilation unterscheidet ihn vom Anhänger des Rasseantisemitismus, wenngleich der Esoteriker in anderen Zusammenhängen durchaus rassistisch argumentierte."
Andreas Lichte am Permanenter Link
@ Gerold Leiste Entweder Blume weiß nicht, worüber er redet, ist als Antisemitismus-Beauftragter inkompetent – oder aber er weiß mehr, als er sagt, dann verbreitet er Propaganda …
Andreas Lichte am Permanenter Link
@ Gerold Leiste Haben Sie irgendeine Kritik an Ansgar Martins Aussagen im Interview? Oder wollen Sie den Religionsphilosophen Ansgar Martins auch als "Anthroposophie-Hater" diffamieren?
Ansgar Martins am Permanenter Link
@ Georg Leiste:
Ich sehe da erst einmal keinen Widerspruch zu den Aussagen von Sonnenberg und Benz.
Der Aufsatz von Ralf Sonnenberg (von 2003) ist in der Tat der mit Abstand beste anthroposophische Text zum Thema, er beschreibt Steiners abschätziges Bild des Judentums treffend und kann definitiv ernstgenommen werden. Niemand behauptet, man könne diesen Aufsatz nicht ernstnehmen: nicht nur Helmut Zander, auch Peter Staudenmaier und Jana Husmann usw. weisen auf diesen Aufsatz hin. Dass Sonnenbergs Aufsatz so gut ist, liegt aber daran, dass er deutlich auf Steiners Antijudaismus aufmerksam macht, statt ihn wegzurationalisieren. Die Qualität der Argumentation hat mit dem Umstand, ob er Anthroposoph ist oder nicht, nichts zu tun. Es wäre ein gutes Zeichen, wenn es mehr in diese Richtung gäbe, aber leider steht der Sonnenberg-Text ziemlich einsam da, abgesehen von "Info3" ist die Liste kurz. Und auch Ihr Kommentar führt ihn nicht in kritischer Absicht an, sondern doch nur wieder zur Abwehr.
Auch die von Ihnen zitierte Einschätzung von Wolfgang Benz (der übrigens schon länger nicht mehr Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung ist) trifft zu. Steiners assimilatorischer Antisemitismus unterscheidet sich deutlich vom völkischen Rassenantisemitismus. Darum geht es ja auch in dem obigen Interview immer wieder. Die Sonne- und Mondkonstruktion ist ebensowenig völkisch wie die Homunculus-Rezension:
"Die meisten Nichtjuden gingen davon aus, dass Juden sich möglichst vollständig vom Judentum distanzieren sollten. Als Antisemit galt damals eher, wer fand, Juden seien aus biologischen oder sonstigen Gründen unfähig dazu. Man konnte also, woran sich bis heute wenig geändert hat, allerlei antijüdische Vorurteile hegen, und zugleich als Anti-Antisemit durchgehen. Jean-Paul Sartre formulierte dieses Problem einmal so: "Der Antisemit wirft dem Juden vor, Jude zu sein; der Demokrat würde ihm am liebsten vorwerfen, sich als Juden zu betrachten. Zwischen seinem Gegner und seinem Verteidiger steht der Jude ziemlich schlecht da: ihm scheint nur die Wahl zu bleiben, ob er roh oder gekocht verspeist werden möchte." Steiner ist Sartres "Demokrat". Er grenzt sich vom völkischen Antisemitismus ab und hält seine eigenen Vorurteile für aufgeklärt."
Es gibt ganz klar andere Formen von Antisemitismus als völkischen. Vielleicht können Sie präzisieren, was genau Ihnen da fehlt?
Gerold Leiste am Permanenter Link
@ Ansgar Martins. Im Prinzip widerspreche ich weder Ralf Sonnenberg noch Ihnen.
Allerdings sollte man als Akademiker sich auch im Klaren darüber sein, wie Zuschreibungen wie »Antisemitismus« auf Nichtakademiker wirken: In der öffentlichen Teil-Wahrnehmung gilt Steiner als »Rassist und Antisemit« ohne notwendige Differenzierungen und Gewichtungen bzw. Verweisen auf seinen Universalismus und seine Kritik des Biologismus, sodass Steiner hier oftmals mit den NS-Antisemiten und Rassenideologien des Dritten Reiches in einen Topf geworfen wird. Und vor allem Andreas Lichte liebt es ja, Differenzierungen jedweder Art unter den Tisch fallen zu lassen, weshalb ich ihn auch sachlich als »Hater« und nicht als »Kritiker« bezeichne: Lichte kritisiert scharf den angeblichen Totalitarismus von Anthroposophen, scheut aber nicht davor zurück, in Bezug auf die Anthroposophie eine strukturuell der Islamophobie und Xenophobie verwandte Schwarz-Weiß-Rhetorik an den Tag zu legen. Das ist in meinen Augen sehr verlogen – und diskreditiert auch die Ernsthaftigkeit seiner Kritik (im Unterschied zu der von Ansgar Martins oder Helmut Zander). In seinem neuesten Buch weist Helmut Zander übrigens ausdrücklich darauf hin, wie differenziert das anthroposophische Milieu ist, auch wenn darin lange Zeit fundamentalistische Positionen hervorstachen.. Natürlich kann man über Zanders Einschätzung unterschiedlich denken – und auch widerspricht sich Zander an vielen Stellen, sodass man auch mit anderen Zitaten gegen ihn selbst argumentieren könnte. Wichtig ist es jedoch, den Gegenstand fair und differenziert zu behandeln.
Steiners Aussage »In der Anthroposophischen Gesellschaft gibt es keinen Antisemitismus!« gegenüber Büchenbacher habe ich übrigens anders verstanden als Sie: Nicht als Leugnung einer Tatsache, sondern vielmehr als Überzeugung Steiners, dass Antisemitismus in dieser Gesellschaft nichts zu suchen hat (es heißt bei Büchenbacher glaube ich auch: Steiner entgegnete STRENG: »Sowas gibt es bei uns nicht-“). Hier kommt es auf die Betonung des Wortlauts an – vorausgesetzt, Büchenbachers Erinnerung ist überhaupt exakt überliefert, was beim Umgang mit Quellenkritik auch noch einmal zu berücksichtigen ist.
Andreas Lichte am Permanenter Link
@ Gerold Leiste Lassen Sie endlich Ihre Diffamierungen: ich bin KEIN "Anthroposophie-HATER". "Hass" ist ein viel zu großes Gefühl für die Anthroposophie, für Rudolf Steiners Welten-Eintopf ...
Ansgar Martins am Permanenter Link
Lieber Herr Leiste, danke für Ihren Kommentar und Ihre Einwände, mit denen ich durchaus was anfangen kann. Ich fange mal von hinten an:
Quellenkritik. Da haben Sie im Prinzip recht. Natürlich, Büchenbacher mag ungenau überliefert sein, sich im Rückblick falsch erinnern oder sonstwie falsch liegen, deswegen habe ich oben die Formulierung gewählt: Büchenbacher "will" Steiner damit konfrontiert haben. Ob es so war, das können wir heute nicht mehr hundertprozentig herausfinden, wie bei den meisten Berichten aus der meisten Memoirenliteratur. Viele Behauptungen Büchenbachers, die ich überprüfen konnte, erwiesen sich aber als zutreffend (zum Beispiel seine Hinweise auf Hanns Rascher, Roman Boos, Guenther Wachsmuth oder Marie Steiner-von Sivers), deswegen bin ich auch diesbezüglich optimistisch. Das Gespräch zwischen Büchenbacher und Steiner an jenem Tag hat es zumindest gegeben (selbst wenn sie nicht über Antisemitismus geredet haben sollten). Dazu können Sie ein bisschen was in meinen Büchenbacher-Anhängen, S. 110ff. nachlesen. Das Gespräch zwischen Steiner und Büchenbacher geht übrigens weiter: Auf Steiners strenges "Das gibt es nicht..." antwortet Büchenbacher, er habe aber doch entsprechende Erfahrungen gemacht. Es reichte eben nicht, dass Steiner programmatisch der Meinung war, für sowas sei kein Platz.
Steiners Befürwortung der "Assimilation" ist etwas anderes als der faktische Prozess der Akkulturation. Es gab in der Tat viele Juden, die im fortschreitenden 19. Jahrhundert die Tradition hinter sich gelassen hatten oder mit dem Judentum als Religion nichts mehr zu tun haben wollten und stattdessen Christen, Atheisten, Marxisten oder säkulare Zionisten wurden (und es gab einige bizarre Fälle von sogenanntem jüdischem Selbsthass, wie Jakob Wassermann, Otto Weininger, teilweise der mit Steiner bebefreundete Ludwig Jacobowski, oder Ludwig Thieben bei den Wiener Anthroposophen). Die innere Heterogenität der Jüdinnen und Juden unterscheidet sich aber von der Position der Mehrheitsgesellschaft, die wie Steiner forderte, dass alle Juden ihre angeblichen "jüdischen Eigenschaften" loswerden sollten.
Die Schwere des Begriffs Antisemitismus (in der akademischen Debatte und außerhalb) ist mir bekannt und ich würde trotzdem sagen: Er darf hier verwendet werden. Steiner unterscheidet sich deutlich von Nazi-Ideologen und von den völkischen Esoterikern seiner Zeit und gehört eher zu den damaligen Mainstreampositionen. Aber nicht erst der Nationalsozialismus ist antisemitisch und es muss mehr Bewusstsein dafür geschaffen werden, wie subtil Antisemitismus sich noch überall auswirkt. Darüber werden ja zurzeit auch kontroverse Diskussionen geführt (zum Beispiel über israelbezogenen Antisemitismus).
Ich stimme Ihnen ganz zu, dass in Andreas Lichtes Texten zum Thema Anthroposophie im Nationalsozialismus die Ambivalenz vieler Anthroposophen nicht deutlich wird. Da kann man nachbessern und auch die öffentliche Berichterstattung ist weit entfernt von der Faktenlage. Aus meiner Perspektive sind aber die anthroposophischen Versäumnisse viel verstörender: Dieses Jahr ist ein Buch von Peter Selg erschienen, das weit hinter den Diskussionsstand zurückfällt. Es wurde in "Die Drei" lobend besprochen, und eine Zusammenfassung von Selgs Argumentation in "Das Goetheanum" (als Reaktion auf einen kritischen Artikel in "Die Zeit") wurde auch in der Info3-Presseschau positiv erwähnt. Auch wenn es differenzierte Beiträge wie von Ralf Sonnenberg, Ramon Brüll oder Jens Heisterkamp gegeben hat, stößt eine schlecht-apologetische Schönrednerei wie das Buch von Peter Selg im Jahr 2020 noch auf Zustimmung aus dem größten Teil des anthroposophischen Milieus. Solange das so ist, solange Selg nicht eindeutig zurückgewiesen wird, solange muss man der Anthroposophischen Gesellschaft noch Steiners Antisemitismus, Deutschnationalismus und Rassismus nachtragen. Ganz zu schweigen davon, dass das nur der Anfang ist: auch der Deutschnationalismus eines Joseph Beuys, der Volksseelenkitsch eines Manfred Schmidt-Brabant, der Rassismus einer Marie Steiner-von Sivers usw. usf. wären kritisch zu diskutieren. Die Debatte dauert jetzt über zwei Jahrzehnte und es geht einfach zu langsam voran, um in der Außenperspektive glaubwürdig zu wirken.
Die Anthroposophische Gesellschaft, wo man die intellektuellen Kapazitäten dazu vermuten sollte, tritt in der Sache auf der Stelle. Wenn Kritik von außen kommt, lässt man sich was von Michael Blue über Podcasts erzählen und veröffentlich dazu dann auch noch ernsthaft freiwillig eine Pressemitteilung, scheinbar ohne zu bemerken, dass man sich damit öffentlich der Lächerlichkeit preisgibt – obwohl ein einziges kritisches Wort genügen würde.
Ganz anders sieht das beim "Bund der Freien Waldorschulen" aus, der eigentlich gar nicht zuständig für die Deutung von Steiners Gesamtwerk ist. Aber dort gibt es seit einigen Jahren Entwicklungen in der Abgrenzung gegen Rechtsextremismus und im Zuge dessen auch immer kritischere Einsichten in beispielsweise Steiners Rassentheorie. Ich behaupte mal, die sind diesbezüglich auf einem guten Weg. Es gab zum Beispiel neulich folgenden Artikel in der Waldorfzeitschrift "Erziehungskunst", den ich im Großen und Ganzen für gelungen halte: https://www.erziehungskunst.de/artikel/zeichen-der-zeit/gegen-rechtsextremismus-vorgehen/ Meine Kritik daran betrifft philologische Details (z.B. hat Steiner die Rassenlehre wohl eher von Blavatsky als von Haeckel übernommen), aber damit kann man arbeiten. Ich würde Sie gern ermutigen, da weiterzugehen, bis all die Kritik eines schönen Tages gegenstandslos wird. Der Weg wäre gar nicht so lang, wenn man ihn nicht in Trippelschritten ginge...
Andreas Lichte am Permanenter Link
@ Ansgar Martins Mein Artikel: "Anthroposophie und Nationalsozialismus: ‘Die Waldorfschulen erziehen zur Volksgemeinschaft‘“ – https://www.ruhrbarone.de/anthroposophie-und-nationalsozialismus-die-waldorfschulen-e
Eine „Kurzzusammenfassung“ kann – in ihrer Kürze – gar nicht "die Ambivalenz vieler Anthroposophen" darstellen. Ich beschränke mich auf die wichtigsten historischen Fakten, und widerlege die über Jahrzehnte von der Anthroposophie und den Waldorfschulen verbreitete Propaganda nach dem immer wiederkehrenden Muster: "Die Waldorfschulen waren im Nationalsozialismus verboten …", gedacht, oder ausgesprochen weiter: "… die Anthroposophie war im Widerstand gegen den Nationalsozialismus!"
Wie Sie am Beispiel der Zustimmung für das Buch "Rudolf Steiner, die Anthroposophie und der Rassismus-Vorwurf: Gesellschaft und Medizin im totalitären Zeitalter" von Peter Selg feststellen, ist die Anthroposophie weit davon entfernt, ihre Geschichte korrekt darzustellen: Sie verbreitet nach wie vor Propaganda – woran sich auch der "Bund der Freien Waldorfschulen" beteiligt, beispielsweise mit dem Artikel von Peter Selg in der "Erziehungskunst": "Anthroposophie und Rechtsextremismus? Zum Verhalten der Waldorfschulen im »Dritten Reich«", https://www.erziehungskunst.de/artikel/zeichen-der-zeit/anthroposophie-und-rechtsextremismus-zum-verhalten-der-waldorfschulen-im-dritten-reich/
Andreas Lichte am Permanenter Link
@ Ansgar Martins Der "Bund der Freien Waldorfschulen" leugnete jahrzehntelang Rudolf Steiners Rassismus.
"Rudolf Steiners Rassismus und die ‘Stuttgarter Erklärung’ (…) Entgegen Kullak-Ublicks Darstellung in seinem Kommentar bei "Allgäu-rechtsaussen" vom 13. Juni 2020 ist die "Stuttgarter Erklärung" nicht das Ergebnis einer freiwilligen anthroposophischen Initiative, sondern eine erzwungene Reaktion auf die massive mediale Auseinandersetzung (TV, SPIEGEL und viele andere) mit Rudolf Steiners Rassismus im Jahre 2007. Das große öffentliche Interesse war Folge des Indizierungsverfahrens der "Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien" (BPjM) gegen zwei Bücher Rudolf Steiners. Am 6. September 2007 entschied die BPjM, dass Steiners Bücher rassistischen Inhalt haben, "in Teilen als zum Rassenhass anreizend beziehungsweise als Rassen diskriminierend anzusehen" sind.
Die nach der Entscheidung der BPjM auf einer eigens einberufenen Pressekonferenz des "Bundes der Freien Waldorfschulen" in Berlin vorgestellte "Stuttgarter Erklärung" versucht, von außen kommende Kritik an Rudolf Steiner Rassismus abzuwehren, und zugleich waldorfintern irritierte Eltern zu beruhigen. Ziel ist die Wiederherstellung des alten "Wir sind die Guten!"-Bildes der Waldorfschule. (...)", https://hpd.de/artikel/rudolf-steiners-rassismus-und-stuttgarter-erklaerung-18182
Siehe dazu auch meinen "Offenen Brief" an Henning Kullak-Ublick, Sprecher und Vorstand des "Bundes der Freien Waldorfschulen": https://hpd.de/artikel/anthroposophie-und-rassismus-18249
Andreas Lichte am Permanenter Link
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Hans van der Heide am Permanenter Link
mir ist diese ganze Ausführung eine höchst unprofessionelles Geplänkel über sogenannte Tatsachen, die keine sind. Beispiel: Rudolf Steiner war ein Atheist (1900), wird behauptet.
Ansgar Martins am Permanenter Link
Hallo, "unprofessionelles Geplänkel über sogenannte Tatsachen, die keine sind" ist Ihr Kommentar.
Denn genau das passiert Steiner um 1900, er entwickelt sich in wenigen Monaten vom Atheisten zum christlich angehauchten Mystiker: 1895 hatte er sich in seinem einschlägigen Buch zu Nietzsche bekannt, um 1900 dann eher zu Max Stirner, beide formulieren zutiefst problematische Philosophien, die aber eindeutig antireligiös und vor allem antichristlich sind. Auch Steiners Haeckel-Buch behauptet 1899, das Gehirn sei die Grundlage des Geistes, und sein Buch "Welt- und Lebensanschauungen des 19. Jahrhunderts" liegt da auch noch ganz auf Linie. Die Verwandlung, die Steiner nach 1900 zum Theosophen und Anthroposophen hinlegt, ist ausgesprochen grundlegend und komplex.
Mit "Die Mystik im Aufgang" vertritt er dann (parallel dazu, dass er sich in die Theosophie einlebt) neue Positionen, also schon vor dem von Ihnen genannten Buch "Das Christentum als mystische Tatsache". Dabei müssen Sie aber auf die Auflagen achten: Das heute in der Gesamtausgabe ("GA") veröffentlichte Buch dieses Titels ist Steiners Überarbeitung von 1910 und unterscheidet sich beträchtlich von der ersten Ausgabe und diese wiederum von Steiners Vorträgen. Hält man all diese Ausgaben zusammen (wie bei Christian Clement oder Helmut Zander), dann sieht man, wie sich Steiner Stück für Stück verändert.
Sie haben aber natürlich in einiger Hinsicht recht: Das kann man alles ausführlicher darstellen. In diesem Interview ging es nur eben um Steiners Haltung zum Judentum, da war seine grundsätzliche Wandelbarkeit eher ein Nebenthema. Es gab freilich auch Kontinuitäten in seinen Ansichten, zum Beispiel seine Ich-Philosophie oder die goetheanistisch-ästhetizistische Naturbetrachtung.
Auch hier aber, auch in Steiners Ich-Philosophie, gab es Nuancen: In "Der Egoismus in der Philosophie" sagt Steiner, dass die Mystiker nur sich selbst erblicken, wo sie Gott schauen wollten. Er vertritt eine linkshegelianische Projektionstheorie: Religiöse Vorstellungen basieren demnach auf gestörten Erkenntnisbedingungen. In "Die Mystik im Aufgang" wertet er diesen Vorgang dann positiv und sieht in dem Projektionsvorgang eine produktive Ausgestaltung des Menschen im Kosmos. Von hier aus beginnt er langsam, seine Esoterik zu entfalten.
Viele Gründe wurden für die Wandlung in Steiners Überzeugungen angeführt. In seiner Autobiographie "Mein Lebensgang" oder gegenüber dem französischen Esoteriker Edourad Schuré sprach Steiner im Rückblick darüber, es habe sich um eine spiritulle Prüfung gehandelt: Er sei ins Exoterische abgelenkt worden, damit sich ihm das esoterische Christentum eröffnen konnte. Aber das ist eine späte Selbstdeutung, der wenige wissenschaftliche Zugänge folgen. Vielleicht lag eher eine Lebenskrise zugrunde, außerdem fand der mittellose Intellektuelle, als er sich der Theosophie zuwandte, endlich ein aufnahmebereites und zahlungskräftiges Publikum.
Die einschlägigen Schriften Steiners finden Sie leicht online. Ich würde vorschlagen, "Haeckel und seine Gegner" zu lesen, ein Buch, das in der Steiner-Gesamtausgabe nicht als eigener Band erschienen ist, sondern in Band 30 des "GA", davor steht der Aufsatz "Der Individualismus in der Philosophie". Als Buch viel interessanter ist natürlich Steiners "Friedrich Nietzsche. Ein Kämpfer gegen seine Zeit", übrigens eines der ersten Bücher, die über Nietzsche erschienen sind und m.E. eines der sachlich informativsten Bücher Steiners, genau wie "Goethes Weltanschauung". Ausführlich kommentiert und mit kontextualisierenden Hinweisen versehen wurden die Bücher über Haeckel und Nietzsche sowie "Goethes Weltanschauung" in Band 3 der von Christian Clement herausgegebenen Kritischen Ausgabe (SKA). "Kritisch" hat hier die Bedeutung philologisch. Zu dem Band habe ich ein Vorwort geschrieben, indem ich anhand von Steiners Stirner-Rezeption zu zeigen versuche, inwieweit sich Steiners Ansichten um 1900 ändern und inwieweit nicht. Denn die Sache ist ja noch komplizierter: In den 1880er Jahren war Steiner noch Idealist und Pantheist gewesen, noch "Die Philosophie der Freiheit" (1893/4) kennt ein pantheistisches Konzept der Ideenwelt.
Hier finden Sie mein Vorwort: Philosophie fast nur noch als Erlebnis des Einzelnen, https://www.steinerkritischeausgabe.com/leseproben-vorwort-band-3
Die klassische anthroposophische Studie über Steiners Wandlung im Hinblick auf das Christentum ist: Christoph Lindenberg, Individualismus und offenbare Religion. Rudolf Steiners Zugang zum Christentum, Stuttgart 1970.
Weiter als Lindenberg geht der exzellente Aufsatz von David Marc Hoffmann: Rudolf Steiners Hadesfahrt und Damaskuserlebnis. Vom Goetheanismus, Nietzscheanismus, Anarchismus und Antichristentum zur Anthroposophie, in: Rahel Uhlenhoff (Hrsg.): Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart, Berlin 2011, S. 89-123.
Zum Schluss möchte ich Ihnen noch das von Wolfgang G. Vögele herausgegebene Buch "Der andere Rudolf Steiner. Augenzeugenberichte, Interviews, Karikaturen" (Dornach 2005) empfehlen. Da finden sich unter anderem die Berichte von Zeitgenossen, die Steiners Verwandlung kurz nach 1900 erlebt und beschrieben haben. Denn noch größer als die Veränderung in seinem Verhalten waren die Veränderungen im Auftreten des vormaligen Kettenrauchers und Anarchisten, der am Nollendorfplatz wohnte und mit dem homoerotischen Poeten John Henry Mackay die Kneipen unsicher machte. Sein Gang und seine Kleidung, der ganze Stil und sein ganzes Umfeld veränderte sich mit dem Übergang zur Theosophie. Es ist viel interessanter, das zu studieren, als es oberflächlich als "unprofessionelles Geplänkel" abzutun.
Assia Harwazinski am Permanenter Link
Rudolf Steiner hat vermutlich (oder offenkundig) selbst eine "Konversion" durchlebt und erfahren.
Andreas Lichte am Permanenter Link
@ Assia Harwazinski, Zitat: Rudolf Steiner "rührte seine eigene Geistessuppe zusammen." Ähnlich habe ich es oben – https://hpd.de/comment/67876#comment-67876 – auch gesagt: "Rudolf Steiners Welten-Einto
Für "qualitativ reizvolle, hochwertige Untermarken" der Anthroposophie hätte ich gerne einen Nachweis, der über "Glauben" hinausgeht ...
Assia Harwazinski am Permanenter Link
Beispielsweise Walter Rau, Dr.
Andreas Lichte am Permanenter Link
@ Assia Harwazinski Ich hatte kein "product placement" für "Esoterika" erwartet, sondern irgendeinen Wirksamkeitsnachweis jenseits des Glaubens ...
Wie sich Weleda und Co. vermarkten, ist mir natürlich bekannt. Auch die Tristesse, die der Dr. Hauschka-Stand im KaDeWe verströmte ...
Assia Harwazinski am Permanenter Link
Sie hatten eine Frage gestellt, ich antwortete. Es war nicht als "product placement" für "Esoterika" gemeint, sondern eine Antwort.
Andreas Lichte am Permanenter Link
@ Assia Harwazinski "... eine schlichte Geschmackssache": Gib der Sekte eine Chance!
Genau so ist die Anthroposophie erfolgreich, und wird in Zukunft noch erfolgreicher sein …:
„(…) Der heute zentrale Oberbegriff zur Beschreibung von Anthroposophie und Waldorflehre ist “ganzheitlich”. Das klingt irgendwie nach östlicher Weisheit, dem Einklang von Leib und Seele, nach Ausgeglichenheit und Wellness-Oasen. Wer wollte sich nicht gerne “ganzheitlich” fühlen und die Aromen von Weleda im Entspannungsbad genießen? (…)", zitiert aus: Jana Husmann, "Esoterik an Waldorfschulen – Bildung dank „Bildekräften“: Lest Rudolf Steiner!“, https://www.ruhrbarone.de/esoterik-an-waldorfschulen-bildung-dank-bildekraeften-lest-rudolf-steiner/48426