Interview

Anthroposophie und Antisemitismus

Auf den Querdenker-Demonstrationen der vergangenen Monate traten Anthroposophen Seite an Seite mit Rechten auf. Tipps gegen den hierdurch entstandenen Imageschaden holte sich die "Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland" beim Antisemitismus-Beauftragten der baden-württembergischen Landesregierung Dr. Michael Blume. Und das, obwohl Anthroposophie-Begründer Rudolf Steiner selbst als Antisemit gilt. hpd-Autor Andreas Lichte sprach hierüber mit dem Religionsphilosophen und Anthroposophie-Experten Ansgar Martins.

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Dass Anthroposophen und Waldorfianer in jüngster Zeit oft mit Rechten auf "Querdenken"-Demonstrationen auftraten, blieb von den Medien nicht unbemerkt. So titelte beispielsweise "Der Tagesspiegel": "Gefährliche Nähe zu extremem Gedankengut: Was Gegner der Corona-Maßnahmen eint", und thematisierte den Rassismus Rudolf Steiners (1861 – 1925) sowie die Rolle der Anthroposophie im Nationalsozialismus. Auch die Wochenzeitung "Die Zeit" attestierte einen Brückenschluss anthroposophischer Hausfrauen mit radikalen Rechten. Eine Katastrophe für das Marketing von Waldorfschule, Demeter & Co., die auch den Sprecher des "Bundes der Freien Waldorfschulen", Henning Kullak-Ublick, feststellen ließ, "dass in den letzten Monaten fast alle überregionalen Medien irgendwann 'Reichsbürger, Neonazis, Esoteriker, Impfgegner und Anthroposophen' in eine Reihe gestellt haben". Ratschläge zur Bekämpfung des hierdurch eingetretenen Imageschadens holte sich die "Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland" (AGiD) am 7. Oktober 2020 im Rudolf Steiner Haus Stuttgart von Dr. Michael Blume, Beauftragter der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus, und Lisa Stengel, Leiterin des Referats für Bekämpfung Antisemitismus, Projekte Nordirak, Wertefragen, Minderheiten. Erstaunlich angesichts der Tatsache, dass Steiner selbst als Antisemit gilt. Noch erstaunlicher, dass der Antisemitismus-Beauftragte Blume den Tipp gab, Rudolf Steiner als Freund des Judentums zu verkaufen.

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Lichte: Bevor wir zu einzelnen Aussagen Blumes kommen, möchte ich mit Ihrer Hilfe versuchen, die Rolle des "Judentums" innerhalb der Anthroposophie zu skizzieren. Die Kulturwissenschaftlerin Jana Husmann sagt dazu: "Als 'Mondenreligion' ist das Judentum und mit ihm der jüdische Schöpfergott (den Steiner als Mondgottheit vorstellt) durch das Sohnesprinzip, d. h. durch Christus als Sonnenprinzip zu überwinden."[i]

Martins: Wie Mondlicht reflektiertes Sonnenlicht ist, so spiegelt für Rudolf Steiner bereits der Gott der hebräischen Bibel das Wesen Christi, das durch den Kosmos zu seiner Verkörperung in Jesus herabsteigt. Dem liegt ein altes christliches Vorurteil zugrunde, wonach das Judentum vor 2000 Jahren irgendwie stehengeblieben sein soll oder jedenfalls seine Innovationskraft ans Christentum abgetreten habe. Für die Anthroposophie ist die Menschheitsgeschichte eine stufenweise Höherentwicklung und das antike Judentum war eine Etappe dieser Entwicklung. Der Mondgeist, den Steiner mit dem Namen des jüdischen Schöpfergottes belegt, erzeugte damals blutsgesteuerte Kollektive, "Rassen", um die noch unmündigen Menschen an die Erde zu binden. Dann kam Christus und befreite sie durch ein individuelles "Ich". Auf dieser Grundlage deutet Steiner zum Beispiel den Blutrausch des Ersten Weltkriegs als Rückfall in jenen kollektiven Bewusstseinszustand oder manche seiner Schüler hielten die Blut-und-Boden-Mythologie der Nazis für jüdisch …

Lichte: Das Judentum hat also seinen Beitrag zur (Höher-)Entwicklung der Menschheit geleistet. Mit dem Erscheinen des "Hohen Sonnenwesens" – der Geburt Christi – war diese Phase der "Menschheitsentwickelung" abgeschlossen. Wie kann das Judentum dann heute noch gelebt werden? Und soll es das überhaupt? Dazu fällt mir dieses Zitat des jungen Steiner ein:

"Es ist gewiss nicht zu leugnen, dass heute das Judentum noch immer als geschlossenes Ganzes auftritt und als solches in die Entwicklung unserer gegenwärtigen Zustände vielfach eingegriffen hat, und das in einer Weise, die den abendländischen Kulturideen nichts weniger als günstig war. Das Judentum als solches hat sich aber längst ausgelebt, hat keine Berechtigung innerhalb des modernen Völkerlebens, und dass es sich dennoch erhalten hat, ist ein Fehler der Weltgeschichte, dessen Folgen nicht ausbleiben konnten. Wir meinen hier nicht die Formen der jüdischen Religion allein, wir meinen vorzüglich den Geist des Judentums, die jüdische Denkweise. … Juden, die sich in den abendländischen Kulturprozeß eingelebt haben, sollten doch am besten die Fehler einsehen, die ein aus dem grauen Altertum in die Neuzeit hereinverpflanztes und hier ganz unbrauchbares sittliches Ideal hat."[ii]

Martins: Ja, das ist das kanonische Zitat, das zeigt, dass Steiner schon in seiner vor-anthroposophischen Phase ähnlich dachte, Jahre vor seiner Wende zur Esoterik. Es geht in seinem Text um Robert Hamerlings antimoderne Satire "Homunculus". Die Hauptfigur, "Homunkel", den Steiner zu Recht als Karikatur des entfremdeten modernen Subjekts interpretiert, macht sich nach allerlei gescheiterten Projekten zum König der Juden, quasi zur Krönung seiner Dekadenz. In der Zwischenzeit sind die Christen pleite gegangen, die Juden können sie also nicht mehr ausnehmen und wandern deshalb mit Homunkel und all ihrem Gold nach Israel, wo sie sich als unfähig zur Organisation eines eigenen Staats erweisen und ihn kreuzigen. Dann dürfen sie aber unter der Bedingung, dass sie den Europäern ihre Schulden erlassen, wieder nach Europa zurück, wimmelnd wie Ameisen eilen sie davon und lassen Homunkel am Kreuz hängen, der dann weitere Abenteuer erlebt.

Folgerichtig wurde Hamerling als Antisemit kritisiert, Steiner verteidigte ihn 1888 mit dem Text, den Sie zitieren: Hamerling stehe "mit der überlegenen Objektivität eines Weisen sowohl Juden als auch Antisemiten gegenüber", während ja "gewiss nicht zu leugnen" sei, dass das Judentum in der Neuzeit keinen Platz habe, usw. So verteidigte Steiner einen Antisemiten mit antisemitischen Argumenten gegen den Vorwurf des Antisemitismus. Auf den ersten Blick paradox, aber nicht ungewöhnlich in der Geschichte des Antisemitismus.

Steiner arbeitete damals sogar als Hauslehrer bei einer jüdischen Familie in Wien, den Spechts. Dass sein Artikel sie zutiefst verletzte, konnte Steiner gar nicht verstehen. Schließlich zählte er die Spechts zu jenen Juden, die sich "in den abendländischen Kulturprozeß eingelebt" hätten und demnach seine Einschätzung teilen müssten. Steiner sah gar keinen Zusammenhang zwischen seinen eigenen positiven Erfahrungen mit bestimmten Juden und seiner stereotypen Wahrnehmung des Judentums insgesamt.

Um Steiners Unbelehrbarkeit zu verstehen, muss man sich klarmachen, wie tief verankert diese Ressentiments waren. Die meisten Nichtjuden gingen davon aus, dass Juden sich möglichst vollständig vom Judentum distanzieren sollten. Als Antisemit galt damals eher, wer fand, Juden seien aus biologischen oder sonstigen Gründen unfähig dazu. Man konnte also, woran sich bis heute wenig geändert hat, allerlei antijüdische Vorurteile hegen, und zugleich als Anti-Antisemit durchgehen. Jean-Paul Sartre formulierte dieses Problem einmal so: "Der Antisemit wirft dem Juden vor, Jude zu sein; der Demokrat würde ihm am liebsten vorwerfen, sich als Juden zu betrachten. Zwischen seinem Gegner und seinem Verteidiger steht der Jude ziemlich schlecht da: ihm scheint nur die Wahl zu bleiben, ob er roh oder gekocht verspeist werden möchte." Steiner ist Sartres "Demokrat". Er grenzt sich vom völkischen Antisemitismus ab und hält seine eigenen Vorurteile für aufgeklärt.

Lichte: Von anthroposophischer Seite kommt immer wieder der Hinweis auf "jüdische Anthroposophen", mit der Botschaft: "Wenn Juden Anthroposophen sind, können Steiner und die Anthroposophie doch nicht antisemitisch sein!" Sie haben ein Buch über den Anthroposophen Hans Büchenbacher geschrieben, der jüdische Wurzeln hatte …[iii]

Martins: Wäre es nur so einfach! Inzwischen gibt es zum Beispiel eine rege Rezeption der Anthroposophie in Israel, auch da begleitet durch Debatten über ihr Verhältnis zu Antisemitismus und Judentum. Der Ex-Anthroposoph Israel Koren legte erst 2019 ein zweibändiges, äußerst kritisches Buch dazu vor. In der frühen anthroposophischen Bewegung hatten einige wichtige Figuren einen jüdischen Familienhintergrund, neben Büchenbacher etwa Alexander Strakosch, José del Monte oder Carl Unger. Sie bekannten sich allerdings fast alle zu Steiners esoterischem Christentum. Nur wenige versuchten, wie Adolf Arenson oder Viktor Ullmann, Anthroposophie und Aspekte jüdischer Tradition zu verbinden. Andere Anthroposophen mit jüdischem Hintergrund vertraten selbst antisemitische Positionen, so etwa Karl König oder Ludwig Thieben, die weit über Steiners antijüdische Seitenhiebe hinausgingen. Büchenbacher nun, Katholik mit jüdischem Vater, will Steiner mit Antisemitismus unter Anthroposophen konfrontiert haben und behauptet, der habe abgewehrt: "Das gibt es nicht in der Anthroposophischen Gesellschaft." Diese "Bei uns doch nicht! Wir sind doch die Guten!"-Haltung ist bis heute charakteristisch, geht mit einem sehr deutschen "Wir sind die Opfer!"-Komplex einher und wird auch angesichts der letzten kritischen Presseberichte wieder mit großer Heftigkeit vorgetragen.

Lichte: Ich möchte jetzt auf einzelne Aussagen von Dr. Michael Blume eingehen, dem Antisemitismus-Beauftragten der baden-württembergischen Landesregierung. Bei seinem Besuch im Rudolf Steiner Haus Anfang Oktober machte er der Anthroposophischen Gesellschaft Vorschläge, wie man der öffentlichen Kritik an der Anthroposophie begegnen könnte, Zitat Anthroposophische Gesellschaft:

"'Vielleicht würde ein Podcast helfen, in dem man einen kritischen und wertschätzenden Diskurs zu strittigen Fragen führt', meinte Dr. Blume und berichtete von seinen Erfahrungen mit diesem Medium. Eine weitere Möglichkeit wäre die Beteiligung an den Feierlichkeiten zu 1700 Jahre jüdischen Lebens mit Podiumsgesprächen, die z. B. das Verhältnis der Anthroposophie zur jüdischen Mystik untersuchen oder sich mit den Rassismus- und Antisemitismusvorwürfen auseinandersetzen könnten. Laut Dr. Blume war auch Rudolf Steiner im Umfeld des 'Vereins zur Abwehr des Antisemitismus' tätig. Daran könne man doch anknüpfen. Es sei wichtig, solche verbale Beiträge auf einer Website zu sammeln, denn heute brauche es einen 'crossmedialen' Ansatz, um die Auseinandersetzung zu dokumentieren."

Martins: Das mag im Einzelnen alles interessant sein. Die Frage ist, ob die Anthroposophische Gesellschaft es übers Herz bringt, irgendetwas davon realistisch darzustellen. Selbst ein so unverfänglich klingendes Thema wie das Verhältnis zur sogenannten jüdischen Mystik, der Kabbala, eignet sich nur auf Kosten der Wahrheit für Propaganda-Podcasts. So bedient sich die Theosophin Helena Blavatsky, von der dann Steiner abschreibt, ständig aus Literatur über die Kabbala. Die Lehre von den siebenfältigen Weltzyklen hat ein frühes kabbalistisches Pendant, die Shemittot, ähnlich bei der Engellehre usw. Aber Blavatsky beschuldigt gleich in ihrem ersten Text Moses, er habe das wahre kabbalistische Wissen tückisch verfälscht, später führt sie noch mehr antisemitische Ideen aus. Ein anderes Beispiel war der von Steiner inspirierte Kabbalist und Zionist Ernst Müller, mit dem sich zuletzt renommierte Wissenschaftler wie Gerold Necker und Andreas Kilcher beschäftigt haben, während zeitgenössische Anthroposophen – wir reden hier wieder über Wien, diesmal um 1920 – sich weigerten, seine Übersetzung des Buches Zohar in die Bibliothek aufzunehmen, weil Müller außer auf Steiner auch auf den jüdischen Philosophen Martin Buber hinwies. Er wurde erst Jahre später von Hans-Jürgen Bracker wiederentdeckt. Es geht darum: Nutzt man Müller oder die Auseinandersetzung mit Blavatsky, um über Steiners Zerrbild des Judentums hinauszugehen, oder instrumentalisiert man all das, um es bloß zu vertuschen? In der Pressemitteilung scheint es um letzteres zu gehen.

Lichte: Danke für Ihre gelungene Illustration von "There’s more to the picture than meets the eye"![iv] Genauer hinschauen sollte man auch hier, Zitat Anthroposophische Gesellschaft: "Laut Dr. Blume war auch Rudolf Steiner im Umfeld des 'Vereins zur Abwehr des Antisemitismus' tätig. Daran könne man doch anknüpfen." Das wirkt auf nicht mit der Anthroposophie vertraute Leser ja wie der "Unschuldsbeweis" Steiners.

Martins: Ich fände es erfreulich, wenn mehr Steiner-Leser sich für seine Texte für den Abwehrverein erwärmen könnten. Sie gehören zu einem Teil seines Werks, den Anthroposophen seltener zitieren als seine esoterischen Vortragsbände und in dem er ganz andere Thesen vertritt. Kurz nach 1900 war Steiner Atheist, Anarchist, Mitglied des Giordano-Bruno-Bundes, dozierte an der von Wilhelm Liebknecht gegründeten Berliner Arbeiterbildungsschule, oder schrieb ein Buch über den Evolutionsbiologen Ernst Haeckel. Diese Phase beschrieb er später als dämonische Prüfung, die er habe bestehen müssen, bevor er das spirituelle Christentum gefunden habe. 1900 und 1901 waren auch genau die Jahre, in denen Steiner Artikel für die "Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus" schrieb. Man sieht an diesen Artikeln deutlich, dass er inzwischen viele seiner Wiener Ansichten korrigiert und die Gefährlichkeit des Antisemitismus erkannt hatte. Nur entwickelte er wenige Jahre danach eben die Mond-Sonne-Mythen, die wir ganz am Anfang hatten, also seine ganze kosmische Evolutionsmetaphysik, der die Abwertung des Jüdischen als vermeintlich überwundener Vorstufe des Christentums eingebaut ist. Steiner macht also einen Lernprozess durch und vergisst ihn wieder. Die Geschichte seines Verhältnisses zum Judentum ist eine Geschichte des Versagens von Aufklärungsprozessen.

Lichte: Die "dämonische Prüfung" – "Atheist" und "Anarchist" – hat Steiner ja mit Bravour bestanden, wenn er danach in verschärfter, diesmal esoterisch aufgeladener Form, zum Antisemitismus zurückkehrte … Was sagen Sie zu Blumes Interview im "Schwäbischen Tagblatt"? Es liest sich wie nicht gekennzeichnete "Werbung" für die Anthroposophie:

"Schwäbisches Tagblatt: In den Protesten [Anmerkung Lichte: gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen] sind auch Alternativmedizin und Esoterik stark vertreten. Muss man anfangen, über problematische Strömungen der Anthroposophie zu sprechen?

Blume: Die gute Nachricht ist, dass das inzwischen auch in der Anthroposophie so gesehen wird. Ich wurde kürzlich von der Anthroposophischen Gesellschaft eingeladen und hatte ein sehr gutes Gespräch mit führenden Vertretern aus Deutschland und der Schweiz. Die merken selbst: Der Riss geht gerade quer durch die eigenen Reihen, auch mitten durch die Waldorfschulen. Und sie erleben harte Angriffe im Internet, weil sie in Haftung genommen werden für Einzelne, die die 'Marke' Anthroposophie missbrauchen, um Verschwörungsmythen zu verbreiten. Man hat erkannt, dass da Handlungsbedarf besteht."

Eine "Marke" steht für "Qualität", wird wie ein Gütesiegel wahrgenommen: "Da wissen Sie, was Sie kaufen!" Eine Marke zu etablieren, ist die "Hohe Kunst" des Marketing, sagt Ihnen der ehemalige Werber. Bei Blume "missbrauchen Einzelne" die "'Marke' Anthroposophie": kann man noch peinlich-offensichtlicher PR für die Anthroposophie machen?

Martins: Immerhin spricht auch Blume im Interview mit dem "Schwäbischen Tagblatt" vom "Riss quer durch die eigenen Reihen", geht also selbst nicht von Einzelfällen aus. Die Anthroposophie ist durchaus eine "Marke", wird wie ein Gütesiegel wahrgenommen, insbesondere aus Stuttgarter Perspektive. Dass der Antisemitismusbeauftragte von Baden-Württemberg mit der Anthroposophischen Gesellschaft in Kontakt kommt, war eine Frage der Zeit. Blume spricht explizit von "Wir" und "Uns", wenn er die regionale Weltanschauungs-Landschaft schildert. Zu diesem "Wir" gehören Anthroposophen ebenso selbstverständlich wie die berühmten protestantischen Sekten, die Kretschmann-Grünen, schwäbische "Wutbürger" und all das, was er Platonismus nennt. Diese religionsgeographischen Ausführungen sind hilfreich, um zu verstehen, warum eine Bewegung wie die Corona-"Querdenker" in einer Gegend aufblüht, in der auch Anthroposophie verbreitet ist: in Baden-Württemberg! Das "Wir" funktioniert zugleich pädagogisch und politisch, so wie im Titel von Blumes Antisemitismus-Buch: "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht"[v]. Er will, wie er im "Schwäbischen Tagblatt" betont, die Gefühlsebene erreichen, statt Leute zu verschrecken. In einem Podcast begründet er dieses suggestive Vorgehen mit der Hirnforschung: Unsere Gehirne seien darauf angelegt, sich mit etwas Positivem zu identifizieren.

Lichte: Die positive Identifikation findet bei Blume in der Religion statt:

Blume: "In einer Religion lernen wir, dass gute Mächte die Welt regieren, und man darf auch hinterfragen und zweifeln. Verschwörungsmythen lehren, dass böse Mächte alles lenken, nämlich die Verschwörer. Und es wird Panik erzeugt: Das Ende ist nah, alle lügen, man darf nur noch der eigenen Blase glauben."

Martins: Eine solche Trennung zwischen gutgläubiger Religion und pessimistischen "Verschwörungsmythen" funktioniert so wenig wie die Reduzierung des Antisemitismus auf "Verschwörungsmythen". Aussichten auf die Gewalt des Bösen und das Ende der Welt sind in Religionen ja keine Seltenheit und umgekehrt glauben viele sogenannte Verschwörungstheoretiker im Prinzip an gute Weltlenker.

Nehmen wir wieder Steiner: Erst als er erklären musste, warum trotz aller hilfreichen Engel und "Eingeweihten" etwas so Barbarisches wie der Erste Weltkrieg passiert, führte er schwarzmagische Geheimgesellschaften als Machtfaktoren ein. Juden traute Steiner dabei gar keine weltbeherrschende Kraft zu und keine Verschwörung. Er begründete die Überholtheit des Judentums innerhalb seines evolutionären Gott- und Fortschrittsvertrauens. Sein Antisemitismus ist mit dem, was Blume "Religion" oder "Semitismus" nennen würde, ebenso kompatibel wie all die Varianten des scheinbar liberalen, progressiven Antisemitismus aus der viel beschworenen "Mitte der Gesellschaft".

Lichte: Können Sie kurz erläutern, wie Blume den Begriff "Semitismus" gebraucht?

Martins: Die Kategorie "semitisch" bezeichnet bestimmte Sprachen des Nahen Ostens mit weitgehenden strukturellen Ähnlichkeiten, zu denen auch Hebräisch zählt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eigneten Antisemiten sich den Begriff dann an, um ihrem Judenhass einen wissenschaftlich-seriösen Anstrich zu geben und zu verdeutlichen, dass es ihnen um mehr als den tradierten religiösen Gegensatz zwischen Christen und Juden ging.

Hieran knüpft Blumes Verwendung des Begriffs "Semitismus" insofern zu Recht an, als er betont, dass der Antisemitismus stets mit einer umfassenderen ideologischen Orientierung einhergeht. Antisemitismus sei Verschwörungstheorie gegen "Semitismus". Und "Semitismus" definiert er so ähnlich wie Religion: ein optimistisches Zukunfts- und Gottvertrauen, entstanden mit der Erfindung der Schrift im Zweistromland, jüdisch, christlich, islamisch und säkular zugleich. In dem Maße, in dem er einen fiktiven "Semitismus" zur eigenständigen Größe erhebt, entfernt sich Blumes Konzept des Antisemitismus dann allzu weit von dessen antijüdischer Stoßrichtung. Denn wenn am Ende so gut wie alles "Semitismus" ist, dann sind "wir" am Ende fast alle Semiten. Vermutlich ist auch diese Ausweitung des Begriffs pädagogisch und strategisch motiviert. Je umfassender das so geschaffene "Wir", desto eingängiger erscheint die Annahme, dass der Antisemitismus "uns alle bedroht".

Lichte: Die vermeintliche Originalität – "Wir sind alle Semiten!" – führt zur ganz großen Beliebigkeit. Wer dann auch noch wie Blume in einem Podcast die "Schlümpfe" mit Luther vergleicht, verharmlost Antisemitismus, und verhindert seine wirksame Bekämpfung.


[i] Jana Husmann, "Schwarz-Weiß-Symbolik: Dualistische Denktraditionen und die Imagination von 'Rasse'. Religion – Wissenschaft – Anthroposophie", Transkript, 2010, Seite 256

[ii] Rudolf Steiner, "Gesammelte Aufsätze zur Literatur 1884 bis 1902", GA 32, Seite 152

[iii] Ansgar Martins, "Hans Büchenbacher. Erinnerungen 1933 – 1949", Info 3, 2014

[iv] "There’s more to the picture than meets the eye"! – frei übersetzt: "Es steckt mehr dahinter, als auf den ersten Blick zu sehen ist"

[v] Michael Blume, "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht", Patmos Verlag, 2019

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