Vor 150 Jahren begann der sogenannte Kulturkampf. Der Schwerpunkt der MIZ wirft einen Blick auf diese historische Auseinandersetzung zwischen Katholizismus und preußisch-deutschem Staat. Dabei geht es sowohl um die (gar nicht so eindeutige) Einordnung der Ereignisse in die Geschichte von Emanzipation und Repression als auch um eine grundlegende Reflexion kultureller Kämpfe.
In einem umfangreichen Überblicksartikel stellt Historiker Olaf Blaschke sieben Aspekte des "Kulturkampfes" vor. Er betont, dass die häufig in den Vordergrund gerückte Erklärung als "Machtkampf" zwischen Staat und Kirche, teilweise sogar personalisiert in Reichskanzler Bismarck und Papst Pius IX., die Ereignisse nur unzureichend erklärt, und eröffnet weitere sozial- und ideengeschichtliche Perspektiven. Wie ambivalent der Kulturkampf wirkte, lässt sich für Blaschke beispielsweise an der antiklerikalen Polemik der zeitgenössischen Satirezeitschriften zeigen, an deren Bildsprache die Kirchenfeindlichkeit des Nationalsozialismus anknüpfen konnte.
Im Editorial verweist Gunnar Schedel darauf, dass der Kulturkampf heute meist herausgelöst aus dem europäischen ideengeschichtlichen Kontext wahrgenommen wird. Dieser Blickwinkel weist der Kirche die Opferrolle zu – was zwar angesichts der tatsächlichen Repression nicht falsch ist, aber unter den Tisch kehrt, dass einige der damals ergriffenen Maßnahmen als Modernisierungsschritte gesehen werden sollten. Die Einführung der Zivilehe oder die Ablösung der kirchlichen Schulaufsicht wurden von der Kirche als großes Unrecht begriffen, trugen letztlich aber nur einer sich verändernden Gesellschaft Rechnung.
Kulturelle Vielfalt und Multikulturalität
In zwei Interviews wird die Auseinandersetzung mit dem Begriff "Kultur" und den Kämpfen, die um diese in jeder Gesellschaft stattfinden, vertieft. Eine wichtige Aussage des Ethnologen Christoph Antweiler ist, dass die "Überbetonung kultureller Vielfalt" leicht dazu führen könne, dass Kultur auf Differenz reduziert werde. Diese Sichtweise blende jedoch aus, dass es in jeder über eine gemeinsame Kultur definierten Gruppe große interne Unterschiede gebe und andererseits Menschen über Gruppengrenzen hinweg in vieler Hinsicht gleich sind – auch kulturell.
Die Philosophin Cinzia Sciuto kritisiert das Konzept des Multikulturalismus, da es die Komplexität von Kulturen "verflache". Kultur werde als zu bewahrendes "Museumsstück" verstanden, während sie doch lebendig und wandelbar sei. Eine Folge sei die Blindheit des Konzepts gegen Menschenrechtsverletzungen beispielsweise in religiösen Gemeinschaften.
Corona und Silvester
Mit der Impfgegnerschaft in Zeiten des Coronavirus befasst sich Frank Welker. Bei seiner Ursachensuche stößt er auf eine lange Tradition der Ablehnung des Impfens, die sich bis heute gehalten hat und sich in Fake News über vermeintliche Nebenwirkungen des Impfens (zum Beispiel Autismus) oder den neuen RNA-Impfstoff (beispielsweise Veränderung der menschlichen DNA) niederschlägt.
Rebecca Schönenbach erinnert an die sexualisierte Gewalt in der Silvesternacht vor fünf Jahren. Damals waren hunderte von Frauen am Hauptbahnhof in Köln, aber auch in anderen Städten, sexualisierter Gewalt ausgesetzt, die von Gruppen von Männern ausgeübt wurde. Eine wirkliche Diskussion über Ursachen und Hintergründe kam damals nicht auf, weil die Mehrzahl der Täter als nordafrikanisch aussehende Männer beschrieben wurde und sich der Diskurs sehr schnell verlagerte. Nicht mehr die Opfer standen im Vordergrund, sondern die Täter, die vor rassistischen Zuweisungen geschützt werden sollten. Die Autorin fordert deshalb, die Debatte um "Köln" neu aufzurollen, diesmal die Perspektive der Opfer einzunehmen und endlich Ursachenforschung zu betreiben.
Kirchenfinanzen und Freidenkertum
In der Rubrik "Staat und Kirche" nimmt Gerhard Rampp die jüngsten Überlegungen der Partei Die Linke zur Kirchenfinanzierung zum Anlass, das in Deutschland bestehende Kirchensteuersystem grundsätzlich zu kritisieren. Dabei geht es vor allem um den Einzug der Steuer durch die Finanzämter und die Taufe als Rechtsgrundlage für die Kirchensteuerpflicht.
Einen Blick auf die Geschichte des Freidenkertums wirft Siegfried R. Krebs in seinem Buch über organisierten Humanismus und Laizismus in Thüringen, dessen Einleitung die MIZ abdruckt.
Daneben gibt es die üblichen Rubriken Netzreport, Buchbesprechungen sowie die Internationale Rundschau.
Weitere Informationen zur aktuellen MIZ auf der Webseite der Zeitschrift: www.miz-online.de.
1 Kommentar
Kommentare
SG aus E am Permanenter Link
MIZ 4/20 ist ein interessantes Heft geworden. Gut, dass man sich mit Bismarck und dem 19. Jahrhundert beschäftigt. Man sollte die Deutung dieser wichtigen Zeit wirklich nicht einzig Herrn Gauland überlassen.
Im 19. Jahrhundert wurden Weichen gestellt, die sich bis heute positiv auswirken. Und es blieben Relikte zurück, die heute verwundern – z.B. der Vorschrift, dass neu ernannte Bischöfe einen Eid gegenüber dem Ministerpräsidenten zu leisten haben. Obwohl: Für islamische Gemeinschaften wünschen viele sich genau das. Auch wurde im 19. Jahrhundert der moderne Antisemitismus, wie wir ihn heute kennen, entwickelt und salonfähig. Das ist zwar keine Errungenschaft – aber prägend. Und die Ähnlichkeiten zwischen den antisemitischen Strategien von damals mit den antimuslimischen von heute sind frappierend.
Und ganz nebenbei: Im 19. Jahrhundert wurde den Religionsgemeinschaften u.a. die Einheitsgemeinde vorgeschrieben (d.h. nur eine Gemeinde pro Konfession und Kommune). Mit dem Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes war eine ähnliche Vorschrift für islamische Gemeinden in der Bundesrepublik leider nicht mehr möglich. Es hätte uns einigen Ärger mit Ditib, Milli Görüş & Co. erspart. Im Ergebnis wäre daraus das bosnische Modell für Deutschland geworden: eine ordentlich verfasste Religionsgemeinschaft, mit der man in kultivierter Form die nötigen Diskussionen führen kann.
Sehr angenehm zu lesen das Interview mit Christoph Antweiler: Er räumt auf mit der Vorstellung, dass Menschen eindeutig bestimmten Kulturen zugeordnet werden könnten. Ihn hätte ich gern gefragt, ob in der Migrationsgesellschaft von heute Milieus nicht viel bedeutender sind als Kultur. Zumindest auf kommunaler Ebene scheint mir das Zusammenleben so zu funktionieren. Angehörige gleicher Milieus, die eben nicht unbedingt gleiche Herkunft bedeuten, interagieren miteinander – und Konflikte entstehen, wenn unterschiedliche Milieus aufeinandertreffen.
So betrachtet wären die Konflikte um den Tübinger Oberbürgermeister Palmer dann nicht Kulturkämpfe zwischen alten, weißen Männern und antirassistischen Identitätslinken, sondern nur die üblichen Streitereien zwischen auf Ordnung bedachten schwäbischen Honoratioren und den Jugendmilieus einer Industrie- und Universitätsstadt.
Den Beitrag von Rebecca Schönenbach könnte man daraufhin befragen, ob sie Kultur als etwas Statisches oder als etwas Dynamisches begreift. Denn das, was sie 'Köln' nennt, nennt der Deutschlandfunk 'taharrusch dschama'i': „‚Das ist zwar Teil der kollektiven Kultur geworden’, sagt die ägyptische Kommunikationswissenschaftlerin Hanan Badr von der Arab-German Young Academy of Sciences and Humanities (AGYA) in Berlin, ‚aber es ist kein Teil der islamischen oder arabischen Kultur an sich. Es findet ja beispielsweise auch in Indien statt. In der arabischen Welt gab es das Phänomen vor 50 Jahren nicht. Da war die Gesellschaftsordnung noch strukturierter. Wer eine Frau belästigte, dem wurde damals der Kopf kahlgeschnitten.’” (1)
Wie gesagt: MIZ 4/20 ist ein sehr interessantes Heft geworden, das schließlich auch Anlass sein könnte, das Projekt 'Humanistische Leitkultur' zu aktualisieren – oder kritisch zu hinterfragen (2).
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(1) https://www.deutschlandfunk.de/sexuelle-gruppen-gewalt-gegen-frauen-vom-tahrir-platz-zum.2852.de.html?dram:article_id=342591
(2) https://hpd.de/artikel/leitkultur-humanismus-und-aufklaerung-14371