Kommentar

Stadt der Lobbyisten

KÖLN. (hpd) Was ist Lobbyismus? Häufig ein negativ konnotierter Begriff für professionalisierte Interessenvertretung in politisch bedeutsamen Gremien. Welche Interessengruppen etwa in Berlin sich in unmittelbarer Nähe zum Regierungsviertel befinden, lässt wahrscheinlich viele Menschen staunen. Die Organisation LobbyControl, Partner vom Online-Petitionsnetzwerk Campact, hat einen Stadtführer herausgegeben, der diese Interessengruppen benennt und genauestens lokalisiert.

Rund 300 Seiten umfasst dieses Werk und zeigt auf beeindruckende wie verstörende Weise, wie eng Wirtschaft und Politik mittlerweile miteinander verflochten sind und Gesetzgebungsprozesse maßgeblich von wirtschaftlichen Interessengruppen bestimmt werden. Die Arbeit dieser Gruppen geht allerdings noch wesentlich tiefer, wozu sich Projektbetreuerin Christina Deckwirth deutlich äußert: "Konzerne beeinflussen Unterricht an Schulen, Abgeordnete sind gleichzeitig Lobbyisten für die Rüstungsindustrie". Beim genaueren Durchlesen des Stadtführers könnte den meisten politisch Interessierten dämmern, auf welche Weise umstrittene Projekte wie die Freihandelsabkommen oder die Erhöhung von Waffenexporten zustande gekommen sind. Solche Zustände zeigen auf, dass sich meistens diejenigen durchsetzen, die über das meiste Kapital verfügen und darauf aufbauend den höchsten Organisations- und Professionalisierungsgrad besitzen.

Allerdings dürfen daraus nicht die falschen Schlüsse gezogen werden. Keineswegs handelt es sich hier um eine gemeine und hinterhältige Verschwörung, um dem Rest der Bevölkerung möglichst viel Schaden zuzufügen. Das entscheidende Problem sind vielmehr strukturelle Defizite, die politische Entscheidungsprozesse im Bundestag und in anderen Parlamenten aufweisen. Durch fehlende gesetzliche Regularien entstand bis heute ein außerordentliches Ungleichgewicht unter den Interessengruppen – meist profitierten Lobbygruppen multinationaler Konzerne. Zusätzlich fehlt es an Gesetzen, die den Umfang politischer Einflussnahme von Lobbygruppen offenlegen. Bis heute sind Ausschusssitzungen bzw. Kabinettsitzungen nicht auf eine Art und Weise zugänglich, dass ersichtlich wird, welche "Experten" an diesen teilnehmen. Allerdings gibt uns das folgende Beispiel eine Vorstellung davon, wie facettenreich Lobbyisten arbeiten können:

Satiriker und Europaabgeordneter Martin Sonneborn zeigte in einem seiner Videobeiträge über seinen parlamentarischen Alltag, wie leicht es ist, einzelnen Abgeordneten Gesetzesvorlagen äußerst schmackhaft zu machen. Er veranschaulichte, wie ein multinationaler Konzerne in der Politik integriert ist, nahm die Zuschauenden mit auf eine lockere Informationsveranstaltungen und gab uns einen Geschmack davon, mit welcher Überzeugungsarbeit sich deren Lobbyisten um die Gunst der Abgeordneten bemühten. Viele solcher Konzerne verfügen sogar über eigene Büroräumlichkeiten in Gebäuden europäischer Institutionen - soziale Bewegungen oder Bürgerinitiativen sucht man jedoch vergeblich. Diese sind häufig auf ehrenamtliches Engagement angewiesen und können sich nur mittels aufwendiger Kampagnen auf der Straße oder im Netz Gehör verschaffen. Falls diese einigen Akteuren, zum Beispiel einem Generalbundesanwalt, zu aufdringlich erscheinen, kann es dazu kommen, dass sie sogar juristisch verfolgt werden. Der jüngste Fall um die Plattform netzpolitik.org, gegen die ein Verfahren wegen Landesverrats eingeleitet aber mittlerweile eingestellt wurde, bestätigt dies ziemlich deutlich.

Wir dürfen uns aber nichts vormachen: Der politische Alltag ist ständig von verschiedenen Interessen und ideologischen Weltanschauungen geprägt, daran wird sich auch nichts ändern. Es muss sich auch nicht zwangsläufig etwas daran ändern, denn eine pluralistische Demokratie lebt von konkurrierenden Meinungen. Unser politisches System hat es allerdings mit einer besorgniserregenden Unverhältnismäßigkeit zu tun, denn es sind die wirtschaftlich dominantesten Akteure, die den leichtesten Zugang zum Entscheidungsprozess haben. Dieser Missstand trägt dazu bei, dass den Entscheidungsträgern ein unausgeglichenes Bild gesellschaftlicher Zustände vermittelt wird und auf diese Weise es häufig zu Gesetzen kommt, die sich zum Nachteil der Bevölkerungsmehrheit auswirken. Eine sich seit Jahren verschärfende ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung sowohl in Deutschland als auch weltweit ist eine Auswirkung davon.

LobbyControl hat mit seinem Stadtführer ein wichtiges Ausrufezeichen gesetzt und einen wertvollen Beitrag geliefert, um das Ausmaß unverhältnismäßiger Lobbyarbeit greifbar zu machen. Es wäre wünschenswert, wenn ein solcher Stadtführer auch für die Städte Brüssel und Straßburg entstünde.


Weitere Infos: www.lobbycontrol.de