Interview

"Man hat die Sprache des Gehirns noch nicht richtig verstanden"

In ihrem jüngst erschienen Buch "Fenster ins Gehirn" erläutern John-Dylan Haynes und Matthias Eckoldt, inwieweit es derzeit möglich ist, aus der Hirnaktivität eines Menschen auf dessen Gedanken zu schließen. hpd-Redakteurin Daniela Wakonigg sprach mit Hirnforscher John-Dylan Haynes über das Gedankenlesen und seine ethischen Grenzen. 

hpd: Herr Prof. Haynes, Sie haben gerade ein Buch über Ihre aktuelle Forschung veröffentlicht, in der es um die Möglichkeiten des Gedankenlesens geht. Wie schaut's aus: Wenn ich mich jetzt in Ihren Hirnscanner lege, können Sie dann erkennen, ob ich gerade an einen Hund oder an ein Auto denke?

Prof. John-Dylan Haynes: Also, wenn Sie sich bei uns in den Hirnscanner legen würden, müssten wir grundsätzlich zunächst erstmal wissen, wie in Ihrem individuellen Gehirn die Gedanken "Hund" und "Auto" gespeichert sind. Egal ob Sie "Hund", "Katze", "Maus" oder "Auto" denken – all diese Gedanken spiegeln sich in unverwechselbaren Aktivitätsmustern in Ihrem Gehirn wider. Und wenn wir wüssten, wie genau in Ihrem Gehirn "Hund", "Katze", "Maus" oder "Auto" gespeichert sind, könnten wir anhand einer Aufnahme Ihrer Hirnaktivität auch erkennen, woran Sie gerade denken.

Wie funktioniert das dann genau?

Prof. John-Dylan Haynes ist Psychologe und Neurowissenschaftler. Als Direktor des Berlin Center for Advanced Neuroimaging und Professor am Bernstein Center for Computational Neuroscience der Charité Berlin erforscht er die Entstehung von Gedanken im Gehirn.

Da gibt es drei Möglichkeiten. Wir können entweder Ihre eigenen Hirndaten für bestimmte feststehende Gedanken zum Training benutzen. Damit könnten wir dem Computer beibringen, Ihre persönlichen Muster zu erkennen. Oder, wenn wir nicht jeden einzelnen Gedanken vorher lernen wollen, könnten wir versuchen, Ähnlichkeitsbeziehungen auszunutzen. Ein Auto zum Beispiel ist ein Fortbewegungsmittel und es fährt mit Benzin, und wenn wir wüssten, wie Fortbewegungsmittel und Benzin in Ihrem Gehirn abgelegt sind, könnten wir versuchen, aus dem Kontext zu schließen, woran Sie denken, ohne dass wir vorher wüssten, wie der konkrete Gedanke "Auto" bei Ihnen codiert ist. Und drittens wäre es auch noch denkbar, dass wir bei anderen Menschen lernen, wie in deren Hirnaktivität der Gedanke "Auto" codiert ist. Wir könnten dann versuchen, diese Daten auf Sie zu übertragen. Was allerdings nicht ganz so gut funktioniert, als hätte der Computer zuvor Ihre persönliche Gehirnsprache gelernt.

Lassen Sie uns zunächst bei den ersten beiden Möglichkeiten bleiben, denn die lassen ja unweigerlich die Frage aufkommen, wie Informationen in meinem Hirn eigentlich abgelegt sind. Ist es eher so, dass es einen klar umgrenzten Bereich gibt, der bei dem Gedanken "Hund" aufleuchtet, während ein anderer beim Gedanken "Auto" aktiv ist? Oder ist es eher so, dass das Hirn Informationen in Kategorien ablegt, also dass bei "Hund" Bereiche für "belebt/Tier/vier Beine/Fell" aktiv sind und bei "Auto" welche für "unbelebt/Fortbewegungsmittel/vier Reifen"?

Wie genau unsere Gedanken im Gehirn codiert sind und welchen Prinzipien sie dabei folgen, ist etwas, woran noch viel geforscht wird. Man hat die Sprache des Gehirns noch nicht richtig verstanden. Wenigstens weiß man, dass die Gedanken im Gehirn codiert sind. Und man weiß, dass komplexe Gedanken manchmal aus einfachen "Bausteinen" zusammengesetzt sind. Das heißt, wenn ich jetzt einen komplizierteren Gedanken habe, wie "Hund läuft neben Auto her", dann wäre dieser Gedanke wahrscheinlich – sehr vereinfacht gesagt – zusammengesetzt aus den Bausteinen "Hund" und "Auto" und "Laufen". Diese Zusammensetzung funktioniert zu einem gewissen Grad, also nicht komplett. In der Biologie ist das Glas nie voll oder leer, sondern eher halb voll und halb leer, die Antworten sind also nie schwarz oder weiß. Es gibt nämlich auch Beispiele, wo dieses Baukastenprinzip versagt. Das Wort Hasenfuß hat zum Beispiel weder mit Hasen noch mit Füßen zu tun.

Nun haben Sie eben gesagt, dass der Computer grundsätzlich erstmal darauf trainiert werden muss, wie mein Hirn bestimmte Gedanken ablegt – was nachvollziehbar ist. Sie haben aber auch gesagt, dass Sie ganz ohne Trainingsphase mit meinem Hirn aus den Hirnscans von anderen Menschen gewisse Rückschlüsse ziehen können, woran ich gerade denke. Das finde ich ausgesprochen spannend, denn das würde ja bedeuten, dass das Hirn keine tabula rasa ist, die bei jedem Menschen völlig individuell beschrieben wird, sondern dass tatsächlich alle Menschen bestimmte Gedanken in ähnlichen Hirnbereichen ablegen.

Beispielbild

Jedes Gehirn ist unverwechselbar und einzigartig. Allein schon, wenn ich mir die Anatomie anschaue. Die meisten Menschen haben, bis auf wenige Ausnahmen, ähnliche makroskopische Strukturen, zum Beispiel die verschiedenen Hirnlappen. Wenn man sich die Details anschaut, unterscheidet sich jedes einzelne Gehirn dann aber wieder ein bisschen von den anderen, so ähnlich wie sich auch jedes Gesicht ein bisschen von allen anderen Gesichtern unterscheidet. Aber reden wir nicht so viel von der Struktur, sondern von der Aktivität des Gehirns. Jedes Gehirn speichert die Gedanken etwas unterschiedlich. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zum einen hat jede Person immer eine individuelle Lebenserfahrung. Mein Lieblingsbeispiel: Der Eine hat als Kind einen Hund gehabt, der immer ein treuer Freund war und mit dem er viel Gassi gegangen ist, er hat also sehr viele positive Erlebnisse gehabt und hat positive Assoziationen. Der Andere wurde vielleicht als Kind von einem Hund gebissen und verbindet vor allem das mit dem Gedanken "Hund". Unsere individuelle Lerngeschichte prägt uns da. Das heißt, dass, wenn Sie und ich an einen Hund denken, unsere Hirnaktivitätsmuster nicht komplett ähnlich sind. Es gibt Unterschiede und die kommen halt aus der unterschiedlichen Anatomie und den unterschiedlichen Lernerfahrungen. Und trotzdem sind unsere Gedanken an einen Hund zu einem gewissen Grad ähnlich codiert. Wie gesagt: Glas halb voll, Glas halb leer. Das Muster hat gewisse Ähnlichkeiten, aber wenn ich wissen möchte, wie das jetzt in einem konkreten Individuum genau realisiert ist, muss ich bei diesem konkreten Gehirn erst einmal lernen, wie dort alles abgelegt ist.

Ok, Sie können also mit Hilfe von Hirnscans erkennen, woran ich während des Scans gerade denke – sofern der Rechner vorher die Gelegenheit hatte, meine entsprechenden Gedankenmuster zu erlernen. Aber können Sie auch erkennen, was ich über das denke, woran ich gerade denke? Können Sie erkennen, ob ich Autos doof finde und Hunde toll?

Wenn man davon ausgeht, dass die verschiedenen Gedanken in dem Substrat des Gehirns codiert sind, sollte es keine prinzipiellen Grenzen geben. Aber das heißt nicht, dass in der Praxis immer alles so einfach geht. Unter Gedanken verstehen wir nicht nur sprachliche mentale Zustände, sondern auch zum Beispiel Bilder, Erlebnisse, Gefühle, Pläne und so weiter und so fort. Und bisher hat man eigentlich immer wieder gezeigt, dass jede neue Kategorie von Gedanken auch decodierbar war. Man muss nur erst einmal einem Computer beibringen, in die Komplexität bestimmter Gedanken einzusteigen. Nehmen wir die emotionalen Assoziationen von Begriffen, wie etwa der treue Hundebegleiter. Solche können zu einem gewissen Grad ausgelesen werden. In unserem Buch geht aber auch um die Herausforderungen und die Grenzen, die uns in der Praxis derzeit noch begegnen. Und da ist gerade die Komplexität der menschlichen Gedanken ein großes Problem.

Genau darüber musste ich nachdenken, als ich mich auf unser Interview vorbereitet habe. Im Radio lief die "Bohemian Rhapsody" von Queen und ich ertappte mich dabei, wie ich die ersten Textzeilen der Klavier-Passage mitträllerte: "Mama, just killed a man / Put a gun against his head / pulled my trigger, now he's dead." Ein unglaublich brutales Bild, aber ich empfand es beim Hören und Singen nicht im Geringsten als brutal, weil es mit schöner Musik einherging. Nun kann man dieses sehr einfache Bild "Kopf-Waffe-Abdrücken" ja in den verschiedensten Varianten denken und empfinden. Ich kann der Täter sein, der gerade die Waffe an den Kopf eines anderen hält und im Begriff ist abzudrücken. Ich kann eine andere Person im Raum sein, die die Szene beobachtet und Angst hat, als nächste erschossen zu werden. Oder ich kann das Ganze einfach nur in einem Thriller lesen. Ist es wirklich möglich, mit einem Hirnscan einerseits dieses konkrete Bild "Kopf-Waffe-Abdrücken" im Gehirn aufzuspüren und anderseits zu sagen, in welchem emotionalen oder planerischen Kontext es gerade steht?

Man kann ja den Raum der menschlichen Gedanken und Erlebnisse zerlegen in bestimmte Aspekte. Und das heißt, man kann bei menschlichen Erlebnissen eine abstrakte Information wie "jemand wird getötet" von der emotionalen Konnotation, die man damit hat, zum Beispiel "ich finde es jetzt gar nicht so schlimm, weil ich gerade schöne Musik dazu höre" zerlegen. Und diese verschiedenen Teile des Erlebnisses finden sich dann an unterschiedlichen Stellen, in unterschiedlichen Netzwerken im Gehirn. Das heißt, ich kann auf der einen Seite versuchen, Fakten zu decodieren aus der Hirnaktivität, und auf der anderen Seite kann ich versuchen, Gefühle zu decodieren. Und dann werde ich vielleicht feststellen: Meine Güte, diese Fakten und diese Gefühle, die da codiert sind, passen ja gar nicht zusammen. Das wäre erstmal aus der Sicht eines Hirnscans ganz neutral, weil wir ja nicht annehmen müssen, dass bestimmte Fakten-Repräsentationen mit bestimmten Gefühls-Repräsentationen systematisch zusammenhängen müssen. Wenn jemand gerade getötet wurde, muss das ja nicht automatisch dazu führen, dass man traurig ist. Auf Hitlers Tod haben sicherlich viele Menschen mit Freude reagiert. Man könnte sogar spekulieren: Wenn man den Umweg über einen Hirnscan geht, hilft uns das vielleicht dabei, die ganzen Vorannahmen darüber, welche Fakten mit welchen Gefühlen zusammenhängen müssen, über Bord zu werfen und wirklich nur zu schauen, was steckt im Gehirn eigentlich wirklich drin, ohne unsere Erwartung eine große Rolle spielen zu lassen.

Es gibt einen Grund, warum ich Sie an dieser Stelle so quäle. Denn die Frage, was in meinem Hirn mit einem bestimmten Bild verbunden ist, dürfte eine Anwendung des Gedankenlesens sein, die das Ganze zum Beispiel für Sicherheitsbehörden sehr interessant macht. Also: Kann ich allein anhand der Hirnaktivität eines Menschen herausfinden, ob er gerade tatsächlich im Begriff ist, einen Menschen umzubringen oder ob er einfach nur Queen hört? Wird so etwas Ihrer Meinung nach in absehbarer Zeit möglich sein?

Nehmen wir das Beispiel "Absicht" und exerzieren es mal anhand von Terroristen durch. 9/11 ist im Buch ein Beispiel. Da sind die Attentäter morgens in Portland am Flughafen durch die Sicherheitsschleuse gegangen und dabei gefilmt worden. Die Fotos findet man im Internet. Wenn nun am Flughafen bei der Sicherheitsschleuse nicht einfach nur ein Metalldetektor gewesen wäre, sondern möglicherweise auch ein Hirnscanner, der terroristische Gedanken entdecken kann, dann hätte man vielleicht feststellen können, dass diese beiden Attentäter planen, das Flugzeug in die Twin Towers zu fliegen. Prinzipiell, wenn sie diesen Plan haben, müsste das irgendwo in ihren Hirnaktivitäten zu diesem Zeitpunkt codiert gewesen sein. Aber es ist wirklich sehr schwierig solche Gedanken auszulesen.

Es gibt verschiedene komplizierende Faktoren: Zuerst mal müssten wir in der Lage sein, eine echte Absicht von einem unverbindlichen Gedanken zu unterscheiden. Stellen wir uns mal vor, da wären zwei Personen zugestiegen, die sich Sorgen machen, dass jemand das Flugzeug entführen und in die Twin Towers fliegen könnte. Die beiden würden nur abstrakt darüber nachdenken, ohne es tun zu wollen. Wir wissen nicht, wie man solche unverbindlichen Gedanken wie "Ich denke jetzt mal nur drüber nach" von echten Absichten wie "Ich hab mich jetzt wirklich dazu entschieden" unterscheidet. Wir wissen also noch nicht, wie das geht. Man müsste erstmal einen Marker im Gehirn dafür finden. Man sieht also: Es ist in diesem Bereich schon viel herausgefunden worden, aber es gibt auch noch viel zu tun.

Man kann verschiedene Phasen in diesen Handlungen unterscheiden. Da wäre eine Phase, wo jemand vielleicht einfach nur anfällig dafür ist, durch andere Terroristen rekrutiert zu werden. Ein Zweiter hat vielleicht gar keinen festen Plan und lässt sich den Plan einfach nur durch den Kopf gehen. Eine dritte Person denkt "Meine Güte, ich hoffe, niemand möchte das Flugzeug in die Luft jagen" und eine vierte Person "Oh mein Gott, es kommt gleich dieser Hirnscanner, der stellt fest, ob ich die Absicht habe, das Flugzeug in die Luft zu sprengen" und kriegt den Zwangsgedanken, dass er das Flugzeug in die Luft sprengt. Und dann gibt es eine fünfte Person, die tatsächlich diesen Plan hat, ist aber ganz geschickt und sagt sich "Ich muss mich einfach nur ablenken, damit der Hirnscanner nicht feststellen kann, was ich gerade plane" und er denkt vielleicht an die Geburt seines Kindes oder irgendwas emotional ganz Aufwühlendes, wodurch alle anderen Gedanken temporär überschattet werden. Diese ganzen verschiedenen Situationen müsste man erstmal systematisch auseinanderhalten können. Um es klar zu sagen: Das ist Zukunftsmusik. An diesem Punkt sind wir noch nicht.

Halten Sie es denn für wahrscheinlich, dass man diesen Punkt überhaupt irgendwann mal erreicht? Und wenn ja, was glauben Sie, wie weit dieser Punkt in der Zukunft liegt?

Wenn man sich die Anwendung von sogenannten Brain Reading-Techniken ansieht, dann gibt es welche, die heute bereits Wirklichkeit sind, zum Beispiel durch Gedankenkraft eine Prothese zu steuern. Sowas kann man heutzutage bereits machen und zwar durch implantierte Elektroden. Wenn man sich aber andere Anwendungen anschaut wie zum Beispiel Gehirn-Marketing oder Lügendetektoren auf Hirnscannerbasis, dann ist das heute noch nicht machbar. Leider hält das einige Anbieter nicht davon ab, solche Techniken gegen Bezahlung anzubieten.

Nehmen wir nochmal die Sicherheitsschleuse. Es gibt so unglaublich viele verschiedene kriminelle Absichten, die man auslesen können müsste. Jemand könnte ja beispielsweise etwas schmuggeln. Sie könnte planen, das Flugzeug in die Luft zu sprengen. Die Menge der möglichen mentalen Zustände, die wir als kriminelle Pläne klassifizieren würden, ist ja riesig. Und das alles müsste ein Gehirnscanner in diesem Moment erkennen können. Und das steht uns wirklich im Wege. Wir können auf so viele verschiedene Art und Weisen problematische Dinge denken, die man möglicherweise im Flughafen-Sicherheitscheck erkennen wollen würde. Das Beispiel ist übrigens nicht aus der Luft gegriffen. Viele Menschen haben mich in den letzten Jahren über solche Möglichkeiten ausgefragt. Wenn das ginge, wäre das Interesse groß. Aber da gibt es ja neben den Schwierigkeiten in der Umsetzung auch ernsthafte ethische Bedenken.

Bei der rein technischen Seite hilft es, wenn man das Problem auf einfache Ja-oder-Nein-Fragen runterbrechen kann. Man würde zum Beispiel eine Liste mit kriminellen Aktivitäten zeigen und ganz allgemein fragen "Planen Sie solche kriminellen Aktivitäten?" Wir müssten natürlich immer noch feststellen, ob die Antwort, die die Person gibt, stimmt oder nicht. Aber das ist leichter zu entwickeln, als wenn man alle denkbaren kriminellen Pläne auslesen müsste.

Prinzipiell wäre es aber möglich?

Ja, wenn wir genug Energie da reinstecken wollten. Aber natürlich muss man sich auch fragen, ob man den Willen haben sollte, sowas zu entwickeln. Diese Frage sollten nicht nur wir Hirnforscher uns stellen, sondern die gesamte Gesellschaft. Seit Jahren suche ich die Debatte mit allen möglichen Gruppen darüber, dass man sich rechtzeitig überlegen sollte, welche ethische Haltung man zu diesen Techniken haben sollte. Wenn jemand eine Prothese steuern kann durch Gedankenkraft, dann finden wir das wahrscheinlich super. Wenn aber jemand im Düsenjäger sitzt und seinen Gegner durch reine Gedankenkraft abschießen kann, dann ist das wohl nicht ganz so gut, denn wenn etwas schief läuft könnte dies lebensgefährlich sein.

Aber was ist, wenn man den Aufenthaltsort eines entführten Kindes feststellen könnte, indem man den Entführer in einen Kernspintomographen legt? Da wird wahrscheinlich jeder sagen: Wenn man damit dem Kind das Leben retten kann, auf jeden Fall, auch wenn man dies wieder kritisch diskutieren kann. Und über Lügendetektoren denken wir vielleicht wieder anders. Unsere ethischen Intuitionen, was richtig ist und was falsch ist, gehen sehr weit auseinander. Leider gibt es auch schwarze Schafe in dem Bereich. Nehmen wir zum Beispiel das Gehirn-Marketing – den Versuch, Leuten Produkte zu verkaufen, indem man ihre Hirnantworten mit diesem Verfahren optimiert. Das geht zurzeit noch nicht. Das hält aber bestimmte Anbieter, wie gesagt, nicht davon ab, solche Techniken anzubieten.

Wie sehr beschäftigt Sie die ethische Dimension Ihrer Forschung? Sie betreiben ja Grundlagenforschung und könnten damit möglicherweise das Fundament für eine Gesellschaft legen, in der die Gedanken eines Menschen nicht mehr sein Geheimnis sind, sondern zum Beispiel für betriebliche oder gar staatliche Gesinnungsprüfungen genutzt werden könnten. Wie sehr beschäftigt Sie das?

Die ethische Dimension meiner Forschung beschäftigt mich sehr. Und zwar seit 15 Jahren, also seitdem ich diese Forschung betreibe, suche ich auch immer wieder Diskussionen darüber. Das ist nicht einfach nur dahergesagt. Ich organisiere seit über zehn Jahren eine jährliche "Berlin Winter School Ethics and Neuroscience". Das ist ein Nachwuchsworkshop, der für Studenten, Doktoranden, Postdocs und alle anderen Interessierten offen steht, wo wir in die ethischen Probleme der Hirnforschung einführen und darüber intensiv diskutieren. Dort haben wir jedes Jahr über 100 Teilnehmer aus Berlin, Deutschland und dem Rest der Welt. Ich war auch schon zweimal beim Deutschen Ethikrat und suche immer wieder die Diskussion über die ethische Dimension unserer Forschung. Und ich hätte auch niemals das Buch geschrieben, wenn es mir nicht darum ginge, auch die ethische Dimension unserer Forschung zu betrachten. Denn ein Teilbaustein der Ethik ist ja überhaupt erst einmal, realistisch darüber zu informieren, was überhaupt geht. Und in diesem Bereich gibt's einfach unglaublich viel Desinformation. Nicht nur beim Neuromarketing und bei der Lügendetektion. In den letzten Jahren haben alle möglichen Chefs von amerikanischen Hightech-Firmen große Versprechungen gemacht, das Problem des Gedankenlesens bald zu knacken. Leider haben die bisher nicht sehr viel vorzuweisen. Aber jeder kleine Erfolg wird mit großem Brimborium angepriesen und die Bevölkerung kriegt den Eindruck: Oh mein Gott, die Gedankenlese-Maschine kommt jetzt bald. Das Buch soll zeigen, dass man die Kirche einfach mal im Dorf lassen muss. Wenn Firmen sowas kommerziell anbieten, ist das hochgradig unseriös. Derzeit ist es vor allem ein spannendes Forschungsgebiet und im Labor können wir auch unglaublich viel. Aber diese Labor-Forschung auf Anwendungen zu übertragen, das wird noch lange dauern, bis man das wirklich richtig kann.

Nach der Information darüber, was überhaupt realistisch ist, kommt dann die zweite Frage: Was sollte man dürfen? Also welche Einsatzgebiete dieser Forschung finden wir gut oder nicht so gut. Da sollte man versuchen, erstmal ein paar einfache Prinzipien herauszuarbeiten. Ich denke so eine Formel könnte sein: Nur wenn etwas im Interesse, mit dem Willen und dem Wissen der betroffenen Person passiert, dann ist es gut, dann sollten wir das dürfen. Und in allen anderen Situationen, wo die Person nicht richtig aufgeklärt ist, es gegen ihren Willen ist oder gegen ihr Interesse, sollten wir, denke ich, solche Verfahren nicht anwenden. Und es ist nicht nur eine Frage für uns Hirnforscher, sondern das ist auch eine Aufgabe für die Bevölkerung, sich zu überlegen, wie man damit umgehen möchte.

John-Dylan Haynes/Matthias Eckoldt: Fenster ins Gehirn – Wie unsere Gedanken entstehen und wie man sie lesen kann. Ullstein 2021, 304 Seiten, 24 Euro. ISBN: 9783550200038

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Im morgen erscheinenden zweiten Teil des Interviews geht es um philosophische Themen rund um die Hirnforschung – den Leib-Seele-Dualismus, die Frage nach dem "Ich" und die Willensfreiheit.

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