Was ist Schwalbe, was ist böses Foul? Ein Plädoyer für mehr Besonnenheit, kritische Solidarität und einen bewussteren Umgang mit den Erregungskurven der Sozialen Netzwerke.
Ein junger Mann sitzt auf der Straße und ist fertig mit der Welt. Er hat soeben eine heftige antisemitische Diskriminierung erfahren und weiß sich nicht zu helfen, als sein Erlebnis in den Sozialen Medien zu teilen. Nicht einmal besonders vorwurfsvoll wirkt er in seiner Video-Nachricht, sondern einfach wirklich angefasst. Und gerade das hat enorme Wirkung: Die erregte Nation überhäuft ihn mit Solidaritätsbekundungen und Aufmerksamkeit.
Nur Tage später stellt sich heraus, dass die Geschichte, die der jüdische Sänger Gil Ofarim in seinem Video erzählt hat, so nicht stimmen kann. Er sei aufgrund eines Davidstern-Anhängers, den er oft trägt, nicht bedient worden. Erst wenn er diesen abnehme, dürfe er ins Hotel einchecken. Auf Überwachungsvideos war dann unter anderem zu sehen, dass er die Kette gar nicht sichtbar trug. Möglich also, dass er jemandem grob Unrecht getan hat.
Seine virale Nachricht wird zerrissen, er hat seiner Sache völlig überraschend einen Bärendienst erwiesen. Die gezeigte Solidarität hält irritiert inne. Und das unvermeidliche Hohngelächter der Gegenseite sorgt für indignierte Selbstrechtfertigungen.
Was tun wir, wenn wir liken?
Statements gegen Antisemitismus sind nie falsch. Aber mitgedacht ist hier ein Adressat der Empörung, und der hat den durchlittenen Shitstorm womöglich nicht verdient. Ganz so einfach können wir es uns also nicht machen, zu sagen: Eine politisch korrekte Solidaritätsbekundung ist immer richtig. Eine Runde Gratismut, der Herzchen und Zuspruch abgreift. Die Selbstvergewisserung, auf der Seite der Guten zu stehen.
Hendrik Wieduwilt schlug in einer Kolumne vor, wir sollten selbst Verantwortung übernehmen, statt Schuld zuzuweisen: Wir sind Westin. Ein kluger Ansatz. Allein, die Headline dürfte für das Hotel eine weitere PR-Katastophe sein, nun schon als neues Synonym für Antisemitimus zu stehen. So wie Algorithmen einen Fehler skalieren, ins Hunderttausendfache, so kann auch ein falscher Eindruck von einem Geschehen zu hunderttausendfacher Falschverurteilung führen.
Es ist ein verständlicher und guter Impuls, mit den Schwachen zu sein, es ist ein zivilisatorischer Fortschritt. Aber wenn er nur ein bisschen zerstreut, nebenbei oder ungefähr ist, dann kann sich der beschriebene Lapsus zu einer donnernden Welle aufbauen. Die oben beschriebene Sache mit Gil Ofarim könnte also noch lange nachhallen. So wie manche "Relotius" rufen, wenn sie die Presse diskreditieren wollen. (Auch wenn sie damit zeigen, dass sie keine Ahnung haben, ist ihnen damit in ihrer Bubble Zuspruch gewiss.)
Das Opfer-Spiel
Um das Bild zu vervollständigen, müssen wir einen unangenehmen Blick auf die Rolle werfen, die Opfer in unserer Gesellschaft spielen. Unangenehm ist er, weil wir Gefahr laufen, jemandem Unrecht zu tun. Weil wir in die zynische Rolle kommen, einzuschätzen, wer wohl "berechtigt" leidet und wer nur "simuliert". Doch auch, wenn wir uns Mühe geben – wehe jemand entspricht nicht unserem Bild, das wir von einem Opfer haben.
Die Schwulenbewegung hatte 1968 noch nichts zu lachen – während sich die APO mit unterdrückten Völkern der Welt solidarisierte. Der sowjetische Dissident Andrej Sacharow war bei deutschen Linken kaum ein Thema – weil sich Konservative und Amerikaner für ihn einsetzten. Bei den politischen Gefangenen in Spanien, der Türkei oder in Südafrika war es umgekehrt. Sinti und Roma komen immer ziemlich schlecht weg, wenn den Opfern des Faschismus gedacht wird. Antiziganismus ist selten ein Thema. Den Russen gegenüber fühlen wir Deutschen uns aus einer historischen Schuld verpflichtet, die Ukrainer vergessen wir eher mal. Beim Wort "Rassismus" denken wir gern an Schwarze, wie sie in den Medienberichten aus den USA oder in Kinofilmen vorkommen. Mit den türkisch- und arabischstämmigen Minderheiten im eigenen Land fremdeln wir dagegen immer noch. Unsere Betroffenheit beim Nachrichten-Schauen ist flüchtig, unser Mitgefühl reagiert auf starke Bilder.
Früher haben sich Menschen, die krankhaft Beachtung suchten, Adelstitel und Weltreisen ausgedacht – heute begeben sie sich in eine Opferrolle. Auch Menschen, die in dieser bunten Welt dringend nach einer Identität suchen, machen wir es leicht, sich an den Stereotypen eines Opfers zu bedienen. Wer bin ich denn, wenn ich keiner angesagten Gruppe angehöre? Das Minderheiten-Quartett ist ein Kartenspiel, das sich darüber lustig macht.
Wenn man mit Kiezdeutsch Anerkennung findet, weil Gangsta-Hip Hop so angesagt ist, dann spricht man halt so, wie Philipp Möller es in seinem Buch "Isch geh Schulhof" porträtiert. "'Schab doch keine Schonse, wallah!" Doch, du hättest Chancen, aber du findest sie nicht cool genug, um in deiner Peer-Group zu punkten. Sich als Börsenopfer oder Analphabetin zu outen ist dagegen sinnlos – es bringt keine Punkte.
Wie gesagt ist es ein zivilisatorischer Fortschritt, vom Recht des Stärkeren1 abzurücken und sich um Schwächere und Unterdrückte, um Minderheiten und Marginalisierte zu bemühen. Aber wie leicht geht das schief? Wie oft schauen wir nur oberflächlich hin, gerade wenn wir online sind und uns unser Urteil aus kurzlebigen Reizen bilden?
Je größer die Hoffnung auf einen Elfmeter, desto eleganter die Schwalbe
Wer kennt das nicht aus Familien: Große Geschwister sind kleinen Geschwistern überlegen. Und die Versuchung ist groß, diese Überlegenheit umzumünzen. Das reicht von kleinen Gefälligkeiten und Manipulationen über das Wegnehmen von Sachen bis zum offen ausgelebten Sadismus und dauernde Tyrannei. Nicht alle Kinder "sind so", schon gar nicht immer. Manchmal siegt auch die Empathie oder die goldene Regel. Erziehung spielt in jedem Fall eine gewaltige Rolle, das Gewissen, die Moral, dass Kooperation am Ende der bessere Weg ist. Ohne diesen mitfühlenden Impuls wäre die menschliche Zivilisation undenkbar gewesen. (Und anders als die Sozialdarwinisten glaubten, ist das Prinzip der Kooperation auch im Tierreich verbreitet – wie schon der Anarchist Kropotkin wusste.)
Wer sich also in der Opferrolle findet, erkennt seine Chance darin, an diese Moral zu appellieren. Zu petzen, Alarm zu schlagen. Und wenn das allzu gut funktioniert, ist die Verlockung groß, bei jeder Kleinigkeit loszuheulen oder sich durch erfundene Qualen Aufmerksamkeit zu erkaufen. Kindergarteneltern sind oft hin und hergerissen zwischen den Impulsen, lenkend einzugreifen und die Kinder das untereinander ausmachen zu lassen. "Ist mir jetzt egal, wer schuld war, ich bin sauer!", wird dann oft gesagt.
Erst bei systematischem Mobbing, da ist man sich seit einigen Jahren einig, muss eingegriffen werden.
Die Opferkarte ist ein mächtiger Moral- und Identitätsspender
So betrachtet wird klar, warum es gelegentlich Frauen gibt, die eine Vergewaltigung vorspielen. Oder Menschen, denen ein erlittener Kindesmissbrauch eingeredet wird. Schon diese beiden Sätze auszusprechen ist kreuzgefährlich, denn wir sollten und wollen den Opfern ja zunächst einmal glauben – in den allermeisten Fällen zurecht. Ein empathisches Umfeld ist lebenswichtig für sie.
Doch in dem Moment, wo Dinge viral gehen, gelten andere Gesetze, gilt die bombastische Gunst oder Missgunst der zertreuten Masse. Kein Opfer und kein vermeintliches Opfer ist darauf vorbereitet und so erleben wir Dramen, die uns tiefer und unangenehmer berühren als uns lieb ist. Die Sozialen Netzwerke lieben das, sie verstärken es und bombardieren uns damit. Und nur eine Gruppe liebt diese Mechanismen noch mehr: kluge Strategen, die diese Mechanismen für sich arbeiten lassen.
Ob Julian Assange ein übergriffiger Narzisst oder ein ganz feiner Kerl ist, der verleumdet wurde, spielt juristisch kaum eine Rolle – aber in der öffentlichen Meinung eine gewaltige. Mit manipulierten oder geleakten Details über ein Privatleben können Existenzen vernichtet werden. Ist das Kopfkino erst angeworfen, ist es oft eine reine politische Reflexsache, wer für wen Partei ergreift. Und im umgekehrten Impuls ist für andere klar, dass es sich hier nur um eine billige Manipulation handeln kann.
Das Aberkennen der Opferrolle durch Denunziation ist eine tägliche Übung von interessierten Personen und Gruppen. Ein politisch engangierter Rentner wurde bei einer Demonstration in Buffalo im Sommer 2020 von Polizisten geschubst und ohnmächtig mit schwerer Kopfverletzung minutenlang nicht behandelt. Die Reaktion rechter Online-Mobs, ihn als "Antifa"-Aktivisten zu framen, der seine Verletzung selbst zu verantworten oder sogar vorgetäuscht hätte, ist ein atemberaubendes Beispiel, wie verblendet Menschen sein können.
Dreist wird es auch, wenn Parteien und politische Entscheidungsträger sich bewusst zum Opfer stilisieren – Menschen also, die Macht ausüben, der Macht huldigen und nichts anderes wollen. Sie werfen sich in die Pose des Machtlosen, dem übel mitgespielt wird. "Unterbrechen Sie mich nicht immer" ist ein beliebter Satz von Menschen, die selbst viel unterbrechen. "Die Wahlen sind gefälscht!" lässt als Kommentar zurecht erst einmal aufhorchen – doch als haltloser Standard-Vorwurf betäubt er diesen Reflex…bis dann vielleicht wirklich einmal Wahlen gefälscht werden. "Ich darf nicht mehr sagen, was ich denke!" ist auch so eine beliebte Floskel, die Mitleid erwecken will. Dass die "unterdrückte" Aussage dann doch kommt (und oft zielsicher andere Menschen diskriminiert), darf dann also als Akt der Befreiung gelten.
In wievielen Varianten wollen wir diese Spiele eigentlich noch mitspielen?
Eine Unschuldsvermutung gilt nur vor Gericht
Wir können nicht alles wissen. Unser Urteil hat aber Relevanz, weil es synchron mit tausenden anderen Menschen fällt, die exakt denselben Impuls haben. Wir kommen nicht umhin, anderen Menschen, Institutionen oder Journalistinnen heuristisch zu vertrauen und ihnen beizupflichten. Deshalb müssen wir darauf dringen, dass deren Urteil fundiert und in der Formulierung angemessen ist. Hier zeigt sich der Wert einer mehrstündigen oder mehrtägigen Recherche. Zeit für Sekpsis und Recherche muss sein – statt mit virtuellen ersten Steinen zu werfen.
Es mag für ein Opfer hart sein, mit Allgemeinplätzen wie "Gegen jeden Antisemitimus!", "Me too" oder "Black lives matter" abgespeist zu werden, die nicht an die Adresse des vermuteten Täters gehen. Muss es von einem Übergriff denn immer erst ein Video und zwei Zeugen geben, bis dem Opfer geglaubt wird? Andersherum: Gilt denn nicht die Unschuldsvermutung?
Weder das eine noch das andere: Die Unschuldsvermutung gilt vor einem urteilenden Gericht, in der Öffentlichkeit gelten Plausibilitäten. Aber weil Plausibilitäten eben nur aus Annahmen entstehen, muss ein Mob unter allen Umständen gemieden werden.
Ich hatte mir kürzlich vorgenommen, mich auf Twitter auf die Dinge zu fokussieren, in denen ich mich für kompetent halte. Und selbst da muss ich noch mal 30 Prozent abziehen. Nicht ganz einfach, zumal wenn Wahlkampf ist. Dass man dennoch Stellung beziehen kann, ist klar. Aber man sollte sich der eigenen Bedingtheiten stärker bewusst sein.
1Das Recht des Stärkeren ist ein konstituierendes Merkmal rechter Ideologien. Im Feudalismus glaubte man noch an das Recht der hohen Geburt. Wer es anzweifelte, setzte sein Leben aufs Spiel. Im Bürgertum und Manchester-Kapitalismus begann das wirtschaftsliberale Spiel der Kräfte, das Ringen um Profit. In einer Pervertierung der Evolutionslehre wurde das "Survival of the fittest" als Sozialdarwinismus zu einem universellen Gesetz stilisiert.
Der Chauvinismus erweiterte dieses Konzept auf das "Ringen der Völker" um einen imperialen "Platz an der Sonne". Die Sozialisten forderten dagegen bald das Gegenteil: die Solidarität unter den Armen und den Völkern, Absicherungen und Rechte wurden zum Markenzeichen linker Politiker. Und vernunftbegabte Rechte wie Bismarck kamen ihnen lieber einen Schritt entgegen, anstatt am Ende eine Revolution der Entrechteten zu riskieren. Sie kam dennoch und kehrte mancherorts die Verhältnisse für eine Zeit um. Wo dies von Dauer war, bildeten sich neue Eliten.
Die frühen Faschisten wiederum huldigten dem Krieg und erteilten jedem Mitgefühl eine Absage – was nicht lange haltbar war. So spielten die Nazis denn nach Belieben propagandistisch mit einer rein national verstandenen Solidarität. Als Sündenböcke mussten politische Gegner, Juden und andere Minderheiten herhalten. Erst die extremen Unmenschlichkeiten der Hitler-Ära führten zu einem allgemeineren Hochhalten des Humanismus, welcher politischen Couleur auch immer. Und bis heute ist es ein mühsames Geschäft, dieses Prinzip der Humanität und Fairness gegenüber rechten Ideologen zu verteidigen.
Insofern hat es immer auch etwas Lächerliches, wenn Rechtsextreme sich als Opfer darstellen.
Erstveröffentlichung auf dem Blog des Autors.
5 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
Nettes Plädoyer, scheitert aber an der Kombi 'sozial' + 'Medien'.
Angelika Wedekind am Permanenter Link
Danke für diesen klugen, ausgewogenen Artikel!
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Ja die Welt ist kompliziert geworden und sich darin zu recht zu finden ist nicht so einfach.
Als Denkanstoß meine Empfehlung:: Haltet euch primär an eine humanistische Anschauung als Werte-mass für alle Gegebenheiten und meidet nach Möglichkeit Soziale
Medien wie Twitter, Facebook, u.s.w. diese verwirren euch nur und sind per se nicht neutral, sondern haben fast immer partikulare Interessen in allen Richtungen.
Letztendlich geht es wie immer um Macht und Geld.
Stefan P. am Permanenter Link
Ein hervorragender Artikel – Aufklärung im besten Sinne! Ein Plädoyer dafür, sich jeden Fall unvoreingenommen einzeln anzusehen, sich mit Herz UND Verstand zu engagieren...
Nur zur Ergänzung: Das darf aus meiner Sicht nicht zu gegenteiliger Schlussfolgerung führen – zum Sich-Zurücklehnen, Wegschauen, Gleichgültigkeit mit der Haltung „man steckt da eh nicht drin“ oder „wenn ich nie Farbe bekenne, mach ich nie was falsch“. Dazu, sich nicht mehr gemeinsam öffentlich zu solidarisieren, während man es partout als Gratismut, Empörismus, Mit-Dem-Strom-Schwimmen, Sich-Instrumentalisieren-Lassen, Verlogenheit, Zur-Schau-Tragen, Gutmenschentum, Reden statt Handeln etc. abtut.
Ich schreibe das, weil ich in diesem Forum auch von Autorenseite her gelesen habe, dass bspw. die weltweite öffentliche Solidarisierung nach dem Mord an George Floyd pauschal lächerlich gemacht wurde – kann man noch nachlesen.
In einer Zeit, in der z. B. Rechte für sich proklamieren, „das Volk“ zu sein und mit fanatischer Motivation, Aufwand und Geschrei gerade auch in den sozialen Netzwerken diesen Eindruck erwecken*, in der sie es schaffen, die Demokratie zu diskreditieren, die Grenzen des Sagbaren immer weiter zu verschieben und den Boden zu bereiten für Gewalt gegen Minderheiten – ist es gesellschaftlich elementar wichtig und wertvoll, selbst mit einem einfachen Klick oder Statement, einer Symbolik, einen Unterschied zu machen und öffentlich zu demonstrieren, dass dem mitnichten so ist, dass sie „DAS VOLK SIND“.
Dabei aber immer respektvoll und sachlich bleiben – Wahrheit und Menschlichkeit haben am Ende die besten Argumente und macht sich durch Hetze nur selbst unkenntlich...
* Laut einer wissenschaftlichen Untersuchung von Hunderten Diskussionen in sozialen Netzwerken des NDR von 2018 geht die Hälfte der Likes bei Hass-Kommentaren auf Facebook auf nur 5% der Accounts zurück sowie ein Viertel der Hass-Kommentare auf nur 1% extrem aktiver hasserfüllter Kommentatoren...
David Z am Permanenter Link
Es geht bei vielen doch gar nicht um Mitgefühl. Es geht um moralische Selbstdarstellung, Selbstüberhöhung, Tugendschau und/oder das daraus gezogene Wohlbefinden bzw das Schulterklopfen der vermeintlichen peer group.
Mitgefühl als Ego-Trip. Etwas mehr entspannte Gelassenheit täte in der Tat gut.