Kommentar

Die Hölle im Netz oder: Der Untergang des digitalen Abendlandes?

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Der Tod von Dr. Lisa-Maria Kellermayr, einer engagierten und tapferen jungen Ärztin, die den Druck eines irrational und verblendet agierenden Mobs und das Alleingelassenwerden damit nicht mehr ertragen konnte, hat wohl niemanden mit einer humanistischen und empathischen Grundeinstellung unberührt gelassen. Von manchen selbst engagierten Menschen erforderte dieser Kulminationspunkt eine Entscheidung, wie weiterzumachen sei. Eine Frage, die nur individuell zu beantworten ist.

Sich auf einer Plattform wie Twitter als exponierter Aufklärer weiterhin mehr oder weniger subtilen Angriffen und Herabwürdigungen (ja, sie werden gerade "subtiler", weil die Szene sich in der Wortwahl derzeit zurücknimmt, was aber an der Intention nichts ändert) auszusetzen, ist sicher ein Ausdruck von Zivilcourage. Sich von dieser inzwischen so toxischen Plattform abzuwenden, die buchstäblich nichts tut, um ihre User zu schützen und damit Hate Speech aktiv Vorschub leistet, ist aber auch kein Ausdruck von fehlender Zivilcourage. Twitter ist nicht der einzige und sicher nicht der Königsweg, um sich für Aufklärung und Humanismus zu engagieren. Es nicht mehr nutzen heißt nicht verstummen.

Der Rückzug mancher Aufklärer ist daher einmal der Versuch, denen die Reibungsflächen und damit auch Reichweite zu nehmen, die unter "öffentlichem Diskurs" nicht nur die Verbreitung der eigenen Meinung als allgemeingültigem Fakt verstehen, sondern die jenen unverblümt drohen, die sich erdreisten, solche Meinungen als faktenfrei zu entlarven.

Es geht aber auch darum, Twitter unter Druck zu setzen. It's your choice, Twitter: wollt ihr zu einem zweiten Telegram werden, zum Tobeplatz einer wildgewordenen Minderheit, oder versteht ihr euch im Wortsinne als Social Media, eine Bezeichnung, die sich doch wohl nur rechtfertigt, wenn aktiv ein soziales Miteinander gewährleistet wird, das nach den Maßstäben einer aufgeklärten Gesellschaft diesen Namen auch verdient?

Das sollte den Blick aber nicht nicht von der Tatsache ablenken, dass die eigentliche Ursache die Menschen sind, für die im Diskurs der andere buchstäblich nichts gilt, nicht nur dessen Meinung, sondern das Gegenüber selbst, das ganz im Sinne des "und willst du nicht mein Bruder sein …" entwertet wird. Dass die postfaktische Gesellschaft Realität ist, dass sie in der Ära Trump und während der Pandemie von einem Schattenbild zu einer deutlich sichtbaren Realität geworden ist, darüber wurde schon viel geschrieben.

Neuere Untersuchungen haben ergeben, dass die Zahl der Verschwörungsgläubigen (subsumieren wir einmal die Fans von Hass und Hetze als Teilmenge unter diesen Begriff) während der Pandemie durchaus nicht zugenommen habe. In der Tat scheint mir die eingetretene Eskalation nicht von einer quantitativen, sondern von einer qualitativen Ausweitung der Unkomfortzone geprägt zu sein.

Themenverschränkung von Corona und Klimawandel

Es gibt zweifellos eine Wanderung der Szene zwischen den Themenblöcken. Wir erleben ja ganz aktuell, wie die Corona-Krise in den Hintergrund geriet, offensichtlich eine Konzentration auf das Klimawandel-Thema stattfand und jetzt schon wieder für einen "heißen Herbst" vorbereitet wird, der wahrscheinlich dann beide Themen gleichzeitig bespielen soll.

Diese Themenverschränkung bedeutet aber auch eine Emergenz, ein qualitatives "Mehr" der Szene auch ohne quantitative Zuwächse. Diese Emergenz äußert sich dann eben auch in einer zunehmenden Aggressivität, ja Militanz gegenüber Menschen, die in den Sozialen Medien als "Feindbilder" identifiziert werden. Dies geht so weit, dass eine Umkehr der Tatsachen stattfindet, indem diese vorgeblichen Feindbilder als Quelle von "Hass und Hetze" ausgemacht werden und dies dann als Legitimation angesehen wird, "Widerstand" zu leisten und dabei nicht nur die Grenzen des Anstands, sondern auch die des Strafrechts überschritten werden.

Wobei wir beim Dilemma von Ermittlungsarbeit und Strafvollzug angekommen wären. Vielfach scheint es sich noch nicht bei den Dienststellen herumgesprochen zu haben, dass "Bedrohung" ein eigenständiger Straftatbestand ist (§ 241 StGB), der vor einiger Zeit sogar verschärft wurde. Anzeigen gar nicht erst anzunehmen ("ist ja noch nichts passiert – wenden Sie sich an den Verbraucherschutz …") oder damit zu kommentieren, man möge sich eben nicht so exponieren, sind geradezu unterirdisch, kommen aber immer wieder vor. Dass Polizei und Ermittlungsbehörden viel zu tun haben, wird niemand bestreiten. Selbst wenn man anerkennt, dass Prioritäten eine Rolle spielen, so sollte doch klar sein, dass das erreichte Ausmaß von Hate Speech und Bedrohungen inzwischen ein Niveau erreicht hat, bei dem es nicht nur um Individuen, sondern um die freiheitliche, offene Gesellschaft selbst geht. Möge der derzeitige Diskurs zu einem Bewusstseinswandel in diesem Sinne beitragen!

Ich bin der Letzte, der Probleme mit "harten Strafen" lösen zu können glaubt. Es gibt aber auch die umgekehrte Sichtweise. Immer noch setzen Gerichte darauf, eher schematisch immer dann den Schutz der Meinungsfreiheit für Beleidigungen und Bedrohungen schlimmster Art zu bejahen, wenn dieser Schutz auch nur den allergeringsten "Sachbezug" hat. Wird das wirklich einer Rechtsgutabwägung, die sich an den Lebensverhältnissen orientiert, gerecht? Meinungsfreiheit ist eines der höchsten Güter, gleichwohl aber nicht völlig grenzenlos und darf nicht irrationalisiert werden. Vergangene Woche ging ein Angeklagter, der öffentlich dazu aufgefordert hatte, Prof. Christian Drosten zu "erschießen", mit einer Verwarnung aus dem Gerichtssaal. Das halte ich für genauso falsch wie die Ansicht, nur mit "harten Strafen" käme man zu einer wirksamen Verbrechensprävention.

Selbst wenn man anerkennt, dass Prioritäten eine Rolle spielen, so sollte doch klar sein, dass das erreichte Ausmaß von Hate Speech und Bedrohungen inzwischen ein Niveau erreicht hat, bei dem es nicht nur um Individuen, sondern um die freiheitliche, offene Gesellschaft selbst geht.

Im Anschluss daran ein letzter Aspekt. Wie Anwalt Chan-jo Jun in seinem letzten YouTube-Video ausführte, gibt es den Straftatbestand der Bedrohung ja nicht, weil man die angedrohte Straftat verhindern will. Das geschützte Rechtsgut ist die Beeinträchtigung des Adressaten, weil solche Bedrohungen mit dem Adressaten "etwas machen" – wer so etwas einmal selbst live und in Farbe erlebt hat, weiß, was gemeint ist. So etwas versetzt einen immer in Unruhe, im Wiederholungsfall umso mehr, bis hin zu latenten, später manifesten Ängsten im Alltag und körperlichen Auswirkungen. Wer könnte dies angesichts des tragischen Falles von Dr. Lisa-Maria Kellermayr bestreiten? Es beeinträchtigt die Freiheit der Äußerung, erzeugt die berüchtigte "Schere im Kopf" und hemmt sogar den Fluss der Gedanken.

Es sind dies die Waffen der Feinde der Offenen Gesellschaft, die Karl Popper so treffend identifizierte, und denen es zu widerstreiten gilt. Deren Auswirkungen auf die Menschen, die ihnen ausgesetzt sind, stellen das geschützte Rechtsgut des Paragrafen 241 StGB dar. Eine Linie von dort zu Grundrechten, die der Staat zu schützen hat, ist nicht schwer zu ziehen. Für eine Marginalisierung von Hass, Hetze und Bedrohung, womöglich noch mit dem Tenor, es gehe ja "nur ums Internet", ist da kein Raum. Weder in der Zivilgesellschaft noch im Bereich staatlicher Verantwortung und staatlichen Handelns. Wobei uns selbst aber der humanistische Grundrespekt vor dem falsch agierenden Gegenüber nicht verloren gehen darf.

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