BERLIN. (hpd) Der Vorsitzende der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer Dieter Birnbacher hat eine medizinethische Stellungnahme zur “Kampagne für das Recht auf Letzte Hilfe” verfasst. Es handelt sich dabei um die persönliche Position Birnbachers, der für sich keineswegs in Anspruch nimmt, im Namen der gesamten Kommission zu sprechen. Der hpd dokumentiert nachfolgend die Stellungnahme des renommierten Medizinethikers im Originalwortlaut.
In der Medizinethik gelten seit längerem zwei Prinzipien als oberste Leitbegriffe des Arzt-Patient-Verhältnisses: die Fürsorge für das Wohl des Patienten und die Respektierung seines Selbstbestimmungsrechts. Spätestens seit dem Nürnberger Kodex gilt dabei das Gebot, den Patientenwillen zu respektieren, als vorrangig. Der Grundsatz “voluntas aegroti suprema lex” hat grundsätzlich – wenn auch nicht absolut – Priorität vor dem Grundsatz “salus aegroti suprema lex”.
Durch nichts anderes setzt sich die moderne Medizinethik deutlicher von der paternalistischen Tradition der hippokratischen Medizin ab. Heute ist weithin akzeptiert, dass der Arzt den Willen des Patienten gegen eine bestimmte Behandlung selbst dann respektieren muss, wenn die Behandlung im Sinne des Patientenwohls indiziert ist und die Ablehnung der Behandlung durch den Patienten als selbstschädigend gelten muss. Immer dann, wenn ihr der Wille des Patienten entgegensteht, endet die Verpflichtung des Arztes, Krankheiten zu heilen und Leben zu erhalten.
Selbstbestimmung ist ein Recht, keine Pflicht, und Selbstbestimmung ist nicht allen Patienten gleich wichtig. Es ist ethisch zutiefst problematisch, einen Patienten zur Selbstbestimmung zu drängen, der sich – wie nach empirischen Erhebungen ungefähr die Hälfte aller Patienten – lieber vertrauensvoll der Fürsorge anderer – seiner Ärzte, seiner Angehörigen oder seiner Weltanschauungsgemeinschaft – überlässt, als mit eigenen Entscheidungen über das Ob und Wie einer Behandlung belastet zu werden. Aber auch die Verpflichtung, keinen zur Selbstbestimmung zu drängen, ist in gewisser Weise eine Respektierung von Selbstbestimmung. Nur dass sich die Respektierung in diesem Fall auf den Wunsch richtet, über eine Behandlung nicht selbst zu bestimmen.
Selbstbestimmung ist in erster Linie ein Abwehrrecht – es dient der Abwehr von Zwang, Nötigung, Druck und Suggestion von Seiten anderer. Damit ist der Gehalt von Selbstbestimmung aber nicht erschöpft. Die Möglichkeit zur Selbstbestimmung hängt nicht nur davon ab, dass andere Eingriffe in die eigene Lebensführung unterlassen, sie hängt auch davon ab, dass der Einzelne zur Selbstbestimmung allererst befähigt wird (durch Information, Aufklärung, Bildung) und zumindest eine Chance hat, sein Recht auf Selbstbestimmung zu betätigen. Wie für andere von der Aufklärung erkämpfte bürgerlichen Rechte – das Recht auf Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit oder Religionsfreiheit – gilt auch für das Recht auf die je eigene Lebensführung (“Entfaltung der Persönlichkeit”), dass es darauf angewiesen ist, dass seine Voraussetzungen gesichert sind und dass es Chancen hat, unter den realen gesellschaftlichen Bedingungen – solange es andere nicht schädigt oder unverhältnismäßigen Risiken aussetzt – ausgeübt zu werden. Das Selbstbestimmungsrecht bedarf wie alle anderen Freiheitsrechte der “Effektivierung”: Es muss Sorge dafür getragen werden, dass das in abstracto eingeräumte Recht auch in concreto in Anspruch genommen werden kann.
Damit kommt erneut das Gebot der Fürsorge ins Spiel. Gerade an den Lebensgrenzen bedarf es ärztlicher Hilfe, wenn Selbstbestimmung nicht nur proklamiert, sondern auch gelebt werden soll. Fürsorge für den Patienten zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die Wünsche des Patienten ernst genommen werden (was eine kritische Prüfung dieser Wünsche nicht ausschließt), der Patient sachgerecht beraten wird und ihm Wege zur Verwirklichung seines Lebensentwurfs aufgezeigt werden.
Das gilt auch für den Patienten, der lieber sterben als weiterleben möchte, dem dieser Wunsch aber nicht durch den Abbruch oder die Nicht-Aufnahme einer medizinischen Behandlung erfüllt werden kann. Selbstverständlich sollte kein Arzt verpflichtet sein, einem Sterbewilligen Mittel zu einem Suizid zur Verfügung zu stellen. Das sollte seine persönliche Gewissensentscheidung bleiben. Aber ihm sollten auch keine prohibitiven rechtlichen oder standesrechtlichen Hindernisse in den Weg gelegt werden. Das ist u. a. deshalb wichtig, weil vieles dafür spricht, Beratung und Praxis der Sterbehilfe – zumindest auf lange Sicht – in die Hände von Ärzten zu legen. Nur Ärzte können – sofern sie sich die dazu notwendigen Kompetenzen angeeignet haben – beurteilen, wie weit der Suizidwunsch eines Patienten Ausdruck einer behandelbaren Depression oder anderen psychischen Störung ist und wie weit er auf eine reale und dauerhafte Notlage zurückgeht, in der er einem nach seinen Maßstäben unerträglichem Leiden ausgesetzt ist und die sich mit keinem anderen Mittel beheben oder lindern lässt.
Eine solche Hilfe durch gesetzliche oder standesrechtliche Verbote zu vereiteln oder zu erschweren, ist nicht im Interesse der großen Zahl von Patienten, denen ihr Selbstbestimmungsrecht wichtig ist. Da so gut wie jeder ein potenzieller Patient ist, ist es gegen das Interesse großer Teile der Gesellschaft. Die Chancen schwerkranker Patienten, ihren Wunsch nach einem selbstbestimmten Sterben zu verwirklichen, würden weiter reduziert, die Aussichten, wenn nicht auf die Hilfe ihres Hausarztes, so doch auf die eines anderen Arztes zählen zu können, zunichte gemacht. Natürlich ist zu hoffen, dass die Verbesserung der Versorgung mit Palliativmedizin in Zukunft dazu führt, dass weniger Sterbenskranke sich in einer so verzweifelten Lage sehen, dass sie sich einen früheren als den “natürlich” eintretenden Tod wünschen. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Angesichts der realen Verhältnisse zeugt der Versuch, die in Deutschland ohnehin erheblich eingeengten Möglichkeiten der Sterbehilfe zu beschneiden, nicht nur von Geringschätzung des Rechts auf Patientenselbstbestimmung, sondern auch von mangelnder Fürsorge.
Prof. Dr. Dieter Birnbacher, geboren 1946, ist einer der renommiertesten Ethikexperten im deutschsprachigen Raum. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich mit den anthropologischen und ethischen Grundlagen- und Anwendungsproblemen der modernen Medizin (Organtransplantation, Prädiktive Medizin, Reproduktionsmedizin, Sterbehilfe, Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitssystem etc.). Bis zu seiner Emeritierung 2012 war er Professor für Philosophie an der Universität Düsseldorf, seit Ende 2013 ist er Vorsitzender der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer.
4 Kommentare
Kommentare
Stefan am Permanenter Link
Eine schöne Tellungsnahme, dem ich vollendst zustimme.
> Immer dann, wenn ihr der Wille des Patienten entgegensteht, endet die Verpflichtung des Arztes, Krankheiten zu heilen und Leben zu erhalten.
Sehr gut sichtbar an der "durch den Willen des Patienten" aufgehaltenen Pflicht, Menschen zu schützen, wenn sie z.Bsp. als Mitglieder einer Religionsgemeinschaft keine Bluttransfusion empfangen möchten. An dieser Stelle hat der Patient - obwohl der Arzt das Leben retten möchte - vorrang und darf demnach "glaubensbedingt" die Konsequenzen am eigenem Leib erleben. Es eixsitert kein "Zwang zur Heilung", welcher sich über der Freiheit des Menschen befindet.
Meiner Meinung nach ist die Sache keinesfalls in der pers. Freiheit zu suchen - eine Diskussion hierüber wäre angesichts unserer Prämisse der freiheitlich-orientierten Gesellschaft sowieso unfruchtbar - sondern einzigst und allein in der strafrechtlichen Verfolgung von "Mördern". In diesem Falle von Ärzten, die "das Gift" einführen.
Ist es eine bewusste, geplante und UNGEWOLLTE "Ermordung", die strafrechtlich verfolgt gehört? Oder ist es, wenn es bewusst dargelegt, testamentarisch-notariell vor Zeugen beglaubigt und abgestempelt wurde doch etwas anderes, was keine Verfolgung nach sicht zieht, weil es keine klar begründigte "Ermordung" war?
In Wahrheit tangiert der Wunsch des Einzelnen vom Leben abschied zu nehmen keineswegs die Freiheit der anderen Mitmenschen. Er ist genauso zu respektieren, wie jeder andere Wunsch auch. Man darf den Wunsch nicht per (religiösem) Gedankenverbot einfach vom Würdetisch fegen. Einen solchen Wunsch sollte ein freiheitlicher Staat nicht verbieten - aber auch nicht explizit fördern. Er hat sich da einzig und NUR darum zu kümmern, dass die Anbieter der "Aus dem Leben scheiden"-Dienstleistung in einem rechtlichen Rahmen agieren. Also z.Bsp. nicht GEGEN den Willen des Menschen handeln. Jegliche zusätzliche Bewertung, ob es z.Bsp. aus christlicher Sicht "nicht richtig" sei, ob die Person zu dunkelhäutig, zu groß oder zu dick sei oder die Haare zu lang, ist hier einfach zu ignorieren. Eine ethische oder gar moralische Ordnung durch solche individuellen Merkmalen, darf nicht geschehen! Jeder Mensch hat hierzulande ein (Menschen-)Recht und eine Würde - unabhängig des Alters, des Einkommens oder der Hautfarbe!(*)
(*) Ausnahme: männliche(!) Säuglinge und Kleinkinder. Sie müssen auch ohne einer medizinischen Notwendigkeit ertragen, dass aus religiös-ästhetischen Gründen ein ihnen niemals nachwachsender Teil eines Organes entfernt wird. Religion und Geschlecht bestimmen den Grad der Menschenfreiheit, die dieser Person rechtlich zugesprochen wird.
In diesem Maße entwickelt sich leider auch die mediale Debatte über die Sterbehilfe. Es geht schon seit langem nicht mehr um das "Recht zu sterben", zu der über 80% der deutschen Bevölkerung längst das Ja-Wort gegeben hat. Es geht auch nicht um die dringend notwendige Klärung des Strafrechtes diesbezüglich (= "Darf man den Arzt bestrafen, wenn er einen Sterbewunsch verwirklicht?"). Man weicht anscheinend bewusst solchen Fragen aus und verweist auf das eigene Gewissen. Doch wie man dann mit der Handlung umgeht, wenn das Gewissen des Arztes und des Patienten gelichwohl mitspielen, bleibt weiterhin ungeklärt.
Dabei ist es doch für mich ganz einfach: Ein mündiger und zu klaren Gedanken fähiger Mensch darf den Wunsch äußern. Wenn ausgebildete Ärzte das Leid des Menschen (im Hinblick auf dessen Würde) lindern können, dann sollten sie es im gegenseitigen Einverständnis tun dürfen. Wer der Mensch diesen Wunsch NICHT äußert, dann soll der Arzt demnach auch KEINEN Finger rühren. Punkt. Mehr ist auch nicht nötigt. Der Mensch hat dann das Recht, den Sterbewunsch zu äußern. Wenn z.Bsp. kein Gerichtsvollzieher und kein Psychater intervenieren und glaubhaft darlegen können, dass z.Bsp. der Mensch nur(!) aufgrund von Schulden sterben möchte um dessen Verpflichtung zur Zahlung zu entgehen, dann hat der Patient die Freiheit zu sterben. Wenn ein Arzt sich bereit erklärt, ihm das Leid nehmen zu können, da er das Wissen und die Fähigkeiten dazu besitzt, dann sollten sie es unter gegenseitigem Einverständnis tun dürfen. Schlicht und einfach.
Wer religiös ist, und z.Bsp. keinen Freitod in Anspruch nehmen darf, soll die Freiheit haben, sich nicht(!) für den Tod entscheiden zu dürfen. Kein Mensch, weder Familie, noch Staat oder Kirche, hat den Menschen hier zu bevormunden und vorzuschreiben, wann und wie man "Leben zu zeugen" oder "Leben abzugeben" hat.
Hans Trutnau am Permanenter Link
'Mangelnde Fürsorge' trifft es eigentlich sehr gut.
Fritz Basseng am Permanenter Link
Ich vermisse in dieser Diskussion eine Definition des Begriffs "lebenswertes Leben".
Dahinvegetieren, als Versuchskarnickel der Forschung zu "dienen", dem Pflegepersonal eine Mitleid erregende "Vorstellung" zu geben entspricht in keiner Weise meinem Bild eines "lebenswerten" Lebens.
Deshalb will ich, dass mein "letzter Wille" auch beachtet und geachtet wird!!
Andrea Pirstinger am Permanenter Link
Ich kann Dieter Birnbacher's Äußerung voll zustimmen.
Mehrfach in meinem bisherigen Leben von mangelnder Fürsorge betroffen kann ich nur hoffen, daß ich bez. einer eventuellen Lebensendbestimmung meinerseits diese Fürsorge erhalte resp. mein Wille - mit Hilfe anderer - geschieht.