Interview

Warum der Weltärztebund das "Genfer Gelöbnis" veränderte

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Professor Dr. med. Dr. phil. Urban Wiesing
Professor Dr. med. Dr. phil. Urban Wiesing

Das Genfer Ärztegelöbnis gilt als die moderne Fassung des Eids des Hippokrates. Es wurde 1948 vom Weltärztebund in Genf beschlossen und ist seitdem nur in Details überarbeitet worden. Im Herbst 2017 gab es eine ganze Reihe von substanziellen Änderungen. Professor Dr. Dr. h. c. Dieter Birnbacher sprach darüber mit dem Scientific Advisor der Arbeitsgruppe des Weltärztebunds, dem Tübinger Medizinethiker Professor Dr. med. Dr. phil. Urban Wiesing.

Birnbacher: Herr Wiesing, was waren die Gründe für die Änderung des Ärztegelöbnisses?

Wiesing: Zunächst einmal Routine. Alle Dokumente des Weltärztebundes werden nach zehn Jahren erneut überprüft. Doch 2014 stellte sich schnell heraus, dass weitergehende Änderungen notwendig sind. Manche Formulierungen galten als nicht mehr zeitgemäß, wichtige Aspekte sollten ergänzt werden, wie die Autonomie des Patienten, die Verpflichtung auf good medical practice, die Reziprozität zwischen Lehre und Schüler u.a. Daraufhin gründete der Weltärztebund eine Arbeitsgruppe, die der Generalversammlung 2017 einen Vorschlag unterbreitet hat.

In der Medizinethik gilt das Prinzip der Achtung der Selbstbestimmung vielfach als das höchste der vom Arzt zu beachtenden Prinzipien. Rechtlich gilt sogar jeder ohne die Einwilligung eines einwilligungsfähigen Patienten vorgenommene Eingriff als Körperverletzung. Andererseits wissen wir, dass in der Praxis häufig gegen dieses Prinzip verstoßen wird. Wird die Einfügung der Patientenautonomie in das Ärztegelöbnis daran etwas ändern?

Das dürfte weltweit unterschiedlich ausfallen. Mit der Entscheidung der Generalversammlung von Chicago ist das revidierte Genfer Gelöbnis für 114 Ärztekammern bzw. Ärzteverbände verbindlich. Aber die Aufnahme des Respekts vor der Autonomie des Patienten hat in den Ärztekammern bzw. -verbänden ganz unterschiedliche Bedeutung. In Deutschland ist dieses Prinzip längst in Gesetzen und anderen Normen verankert. Hier kann sich also allenfalls etwas in der Praxis verändern.

Ich bin aber skeptisch, ob man nachweisen kann, dass eine Änderung dann am neuen Genfer Gelöbnis liegt. In anderen Ländern ist das Autonomieprinzip weit weniger in Normen verankert. Für diese Länder hat die Revision eine ganz andere Bedeutung, hier könnten sich die Normgebung und die Praxis ändern. Auch gibt es weltweit unterschiedliche Auffassungen davon, was konkret der Respekt der Selbstbestimmung bedeutet, zum Beispiel wenn es darum geht, Patienten über eine infauste Prognose zu informieren.

Ich vermute, dass die Revision auch hier langfristig die Interpretationen beeinflussen wird. Insofern kann man diese Änderung bei all den zu erwartenden unterschiedlichen Auswirkungen als einen weiteren Schritt in die Richtung interpretieren, die die Bioethik seit den 70er Jahren des vorherigen Jahrhunderts überwiegend eingeschlagen hat: vermehrter Respekt von der Selbstbestimmung des Patienten.

Auffällig ist, dass die Neufassung neben der Autonomie des Patienten, die der Arzt achten soll, auch die Würde des Patienten als Gegenstand der Achtung nennt. Was verbirgt sich dahinter?

Zumindest keine explizite ethische Theorie mit Alleinvertretungsanspruch. Man darf sich das Vorgehen im Weltärztebund nicht so vorstellen, dass aufgrund einer bestimmten ethischen Theorie die einzelnen Sätze quasi deduktiv formuliert würden. Nein, es gab den Vorschlag, "dignity" aufzunehmen, aus welchen Gründen auch immer, und er wurde diskutiert und akzeptiert. Letztlich steht die Ergänzung aber im Einklang mit einem Menschenrechtsansatz, der sich auch in anderen Sätzen des Gelöbnisses wiederfinden lässt. Insofern stärkt der Begriff diesen Ansatz, und das ist wohl auch gewollt.

Der dritte Satz der neuen Version des Gelöbnisses in der Neufassung lautet: "Die Gesundheit und das Wohlbefinden meiner Patientin oder meines Patienten wird mein oberstes Anliegen sein." Vorher hieß es: "Die Gesundheit meiner Patientin oder meines Patienten wird mein oberstes Anliegen sein." Ist diese Erweiterung so zu verstehen, dass der Arzt nunmehr für das Wohlbefinden seiner Patienten im umfassenden Sinne zuständig ist, also etwa im Sinne der berühmt-berüchtigten Gesundheitsdefinition der WHO?

Die Ergänzung durch das "Wohlbefinden" oder "Wohlergehen" spiegelt nur die Realität wider: Gute Ärzte haben in ihren Tätigkeiten stets mehr als nur die reine biologische Gesundheit vor Augen. Ich interpretiere diese Änderung nicht als Paradigmenwechsel, sondern als sprachliche Anpassung an gute Praxis.

Der erste Grundsatz der in Deutschland geltenden (Muster-)Berufsordnung beginnt mit den Worten: "Ärztinnen und Ärzte dienen der Gesundheit des einzelnen Menschen und der Bevölkerung." Steht dieser Grundsatz nun zur Änderung an, oder kann es bei dieser Formulierung bleiben?

Eine Änderung kann man durchaus erwägen. Wobei ich das Wohlergehen dann aber auf den einzelnen Menschen begrenzen würde.

Das Genfer Gelöbnis steht aber aus einem ganz anderen Grund in einem Spannungsverhältnis zum ersten Satz der (Muster-)Berufsordnung. Denn die Berufsordnung erwähnt ohne Rangfolge die Gesundheit "des einzelnen Menschen und der Bevölkerung". Dies kann zu Konflikten führen, die das Genfer Gelöbnis zugunsten des Individuums löst. Das Gelöbnis ist individualethisch ausgerichtet. Ganz bewusst wurde immer der Singular "patient" gewählt und dessen Gesundheit zum obersten Gebot erhoben

Gab es auch Widerstände gegen die Neuformulierungen?

Keine grundsätzlichen Widerstände, aber umfangreiche Nachfragen, nicht zuletzt eine offene Diskussionsphase im Internet und zahlreiche Schwierigkeiten. Viele Probleme ergaben sich aus der weltweiten Anspruch des Gelöbnisses und den damit verbundenen, ganz unterschiedlichen Perspektiven. Ich gebe ein Beispiel. In einem Satz wurde ergänzt (fett): "I WILL PRACTISE my profession with conscience and dignity and in accordance with good medical practice". Für eine Norm mit Weltanspruch ist diese Änderung überaus heikel. Einige Länder gaben zu bedenken, dass man unter 'good medical practice' in verschiedenen Kulturen durchaus unterschiedliches verstehen könnte.

Was bedeutet das z. B. für Ärzte, die traditionelle chinesische Medizin in China praktizieren? Andere Länder verwiesen auf die Schwierigkeiten der evidenzbasierten Medizin und die Verbindlichkeit von Guidelines, vor allem für Regionen, in denen aus Armutsgründen nur bedingt nach Guidelines gearbeitet werden kann. Andere Ärztekammern gaben zu bedenken, dass es in ihrer Sprache keine Übersetzung für 'good medical practice' gäbe. Diese Probleme galt es zu lösen. Letztlich wurde 'good medical practice' als treffendster englischer Begriff für die wissenschaftlichen Standards aufgenommen

Sie hatten in den Beratungen die Funktion eines Scientific Advisor inne. Worin bestanden Ihre Aufgaben?

Zu einem guten Text beizutragen, ethische Begründungen zu liefern, auf Schwierigkeiten hinzuweisen, Vorschläge zu unterbreiten, Konsistenz zu überprüfen. Die anderen Mitglieder der Arbeitsgruppe waren Präsidenten oder Mitarbeiter von Ärztekammern (Indien, Türkei, Israel, Schweden, USA, federführend Deutschland). Die letzte politische Verantwortung für die Revision lag bei der Generalversammlung. Sie hat den Vorschlag der Arbeitsgruppe einstimmig angenommen.

Herr Professor Wiesing, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führte DGHS-Präsident Professor Dr. phil. Dr. h.c. Dieter Birnbacher für die DGHS-Verbandszeitschrift "Humanes Leben – Humanes Sterben" (2018-1, S. 32 f.), die Anfang 2018 erscheinen wird. Der hpd erhielt die Genehmigung für den Vorabdruck.