Kommentar

Die Wurzel des Terrors liegt tiefer

BERLIN. (hpd) Zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres schockt ein Terroranschlag in Paris die Welt. Im Januar galten die Kugeln der Meinungsfreiheit, dieses Mal werden noch größere Freiheiten in Angriff genommen. Es ist zu befürchten, dass die Anschläge in Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise gebracht werden. Carsten Pilger sieht die Wurzeln des Terrors aber tief im europäischen Abendland.

Als im Januar die Kugeln über ein Dutzend Menschen in der Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo und in einem jüdischen Supermarkt töteten, folgte auf Trauer Trotz. Mehrere Millionen Menschen wandelten ihre Trauer in Wut und Solidarität um. Der Unterschied zwischen dem 7. Januar und dem 13. November liegt im Gefühl: Ohnmacht. Die Anschläge auf Bars, Restaurants und eine Konzerthalle waren keine selektive Vergeltungsaktionen an Zielen symbolischer Kraft. Die Wahllosigkeit, die Härte und Anzahl der Anschläge sollte eben ein "Mehr" an allem sein: Mehr Angst, mehr Unsicherheit, mehr Hilflosigkeit.

Die Reaktionen seitens der Angegriffenen lassen sich vorhersehen. Die Forderung nach mehr Überwachung, mehr Mitteln für den Sicherheitsapparat kommt meist von Politikern, obwohl auch Sicherheitsexperten wissen, dass Prävention ihre Grenzen hat und auch Terroristen es angesichts strengerer Maßnahmen auf gering bewachte Ziele abgesehen haben. Die Forderung nach dem Eintreten für den Erhalt von Freiheiten stammt meist von den Feuilletonisten, obwohl auch sie wissen, dass sie in diesen Momenten oft von Seiten der Bürger und Regierenden auf taube Ohren stoßt. Und auch die Schuldzuweisung an die Flüchtlingsbewegungen wird zum Erklärungsmuster, obwohl viele Menschen selbst ihre Heimat überhaupt erst aufgrund von Terror und Folter verlassen.

Viel zu selten beschäftigen sich Politik und Kommentatoren mit der Herkunft der Terroristen. Waren die Kouachis und Coulibalys im Januar Einwanderer? Nein, denn sie waren in Frankreich geboren und aufgewachsen. Und auch die vielen Kämpfer des Islamischen Staats mit Pässen aus EU-Staaten sind mitten in unserer Gesellschaft aufgewachsen.

Warum lehnen sie nun diese Gesellschaft so vehement ab? Weil sie das Gefühl haben, dass diese Gesellschaft keinen Platz für sie hat. In Frankreich drückt sich das in den Vorstädten der großen Zentren aus, in denen Arbeitslosigkeit und fehlende Aufstiegschancen ein Gefühl von Ablehnung vermittelt. Ein Gefühl, das sich neben der bedrückenden Architektur auch oft noch in der schlechten Verkehrsanbindung an die Zentren ausdrückt.

Viele Jugendliche der dritten Einwanderergeneration Frankreichs sehen in ihren säkular orientierten Eltern keine Vorbilder, sondern angepasste Individuen, die oft einem laschen "Euro-Islam" anhängen. Radikale und extremistische Gruppen verlocken hingegen nicht nur mit unhaltbaren Versprechungen und dem vermeintlichen Gefühl der Rückkehr zu den eigenen Wurzeln. Sie vermitteln den Jugendlichen Anerkennung.

Können Perspektivlosigkeit und Wut auf "den Westen" Bluttaten rechtfertigen? Natürlich nicht. Die Antwort auf Terror muss die Sicherheit der eigenen Bürger garantieren. Aber eine Sicherheitsarchitektur darf nicht die Beweggründe der Täter ignorieren, gerade wenn sie aus der eigenen Gesellschaft stammen. Das Interesse einer Demokratie muss auch darin liegen, die eigenen Bürger möglichst davor zu bewahren, zum Mörder zu werden.

Frankreichs Regierung hat nach den Anschlägen im Januar versucht, mittels einer stärkeren Betonung "republikanischer Werte" im Bildungssystem auf dieser Ebene zu leisten. Geblieben sind die Wirtschaftsprobleme und die Perspektivlosigkeit der Jugend. Geblieben ist ein Verständnis von Laizismus, das anstelle der Vermittlung von Wissen und Austausch über Religionen den Glauben zur Privatsache machen will. Und durch das Fehlen kompetenter Wissensvermittlung erreicht, dass Rattenfänger mit falschen ideologischen Versprechungen Jugendliche radikalisieren können. Geblieben sind die Probleme.

Demokratien dürfen der Angst nicht nachgeben. Sie müssen sich nach außen verteidigen können. Doch wenn die Wurzel des Problems zu großen Teilen im Inneren liegt, ist es die Pflicht der Demokratie, seine Bürger im Zweifel auch vor sich selbst zu schützen. Indem sie zeigt, dass sie die bessere Alternative ist.