Der Islamismusforscher und Soziologe Gilles Kepel legt mit "Terror in Frankreich. Der neue Dschhad in Europa" eine Studie zur Entwicklung des Djihadismus im Nachbarland vor. Dabei kombiniert er gekonnt die Betrachtung des islamistischen Milieus mit der der französischen Gesellschaft, hätte aber analytisch noch klarer und stringenter sein können.
Frankreich war 2015 in besonderer Intensität vom islamistischen Terrorismus betroffen: Von den Anschlägen auf die "Charlie Hebdo"-Redaktion bis zu denen im Kontext eines Fußballspiels reichten die Gewaltakte. Damit wurde überdeutlich: Auch in Europa war der Terrorismus angekommen. Gleichwohl führten Dschihadisten bereits Jahre zuvor derartige Anschläge durch, nur nicht in dieser Intensität und mit einer so hohen Opferzahl.
Warum und wie es dazu in Frankreich kam, will der bekannte Islamismusforscher und Soziologe Gilles Kepel in seinem neuen Buch "Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa" darstellen und untersuchen. Der Professor am Institut d’ Études Politiques de Paris setzt damit frühere Analysen fort, kann er doch für sich beanspruchen, vor einigen Entwicklungstendenzen schon früh gewarnt zu haben. In "Terror in Frankreich" richtet der Autor den Blick nicht verengt auf die Gewalttaten als solche, sondern versucht die Handlungen in einen größeren Kontext einzubetten. Dazu gehört auch die französische Innenpolitik im Allgemeinen.
Dem entsprechend gibt es auch zwei große Teile "Die Inkubationszeit. Von Clichy zu Sarkozy (2005-2012) und "Die Eruption. Von Hollande zu Charlie und zum Bataclan (2012-2015)". 2005 erscheint Kepel da als Schlüsseljahr, einerseits bezogen auf die Aufstände in den Banlieues durch jugendliche Migranten, andererseits durch eine Änderung der Strategie des Djihaismus. Letztere sei angelegt in dem "Aufruf zum weltweiten islamischen Widerstand", der von Abu Musab al-Suri veröffentlicht wurde. Darin forderte dieser einen Bürgerkrieg in den europäischen Gesellschaften, welcher die Muslime auf die Seite der Islamisten ziehen würde. Durch die Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit vieler junger Muslime würden dieser Entwicklung viele potentielle Aktivisten und Sympathisanten zugetrieben. Insbesondere junge instabile Muslime seien die Zielgruppe. Auch das Gefängnis diene als Rekrutierungsbasis für zukünftige Dschihadisten, lässt sich doch bei vielen späteren Gewalttätern ein zumindest kleinkrimineller Vorlauf belegen.
Seit Anfang der 2010er Jahre hätten sich nach Kepel für viele Muslime die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen noch verschlechtert. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit und der sozialen Ungleichheit habe zu sozialer Ausgrenzung und dadurch zur Rückbesinnung auf die eigene "Ehre" geführt. Für das dadurch entstandene gesellschaftliche Milieu boten dschihadistische Deutungsmuster eine ideologische Orientierung, die auch zur individuellen Aufwertung in einem scheinbaren Sinne diente. Das Aufblühen von Fremdenfeindlichkeit und Rechtspopulismus in der Mehrheitsgesellschaft habe diesen Prozess noch verschärft. Entsprechend ausgerichtet sei dann auch die islamistische Strategie: Die Anschläge von 2015 sollten nicht bloß Entsetzen hervorrufen, sondern die "ungläubige" Gesellschaft "verrohen". Ein Anstieg der Muslimenfeindlichkeit und des Rechtsextremismus ist dabei Bestandteil des Kalküls. Als dessen Folge solle es einen "Bürgerkrieg" geben, welcher dann die "Glaubensbrüder" auf die Seite der Dschihadisten ziehen würde.
Kepel kombiniert erneut erkenntnisfördernd die Perspektive der Orientalistik mit der Soziologie, um einen bestimmten gesellschaftlichen Prozess in Form von terroristischen Gewalthandlungen mit der allgemeinen Entwicklung der Gesellschaft und der Zielgruppe zusammen zu untersuchen. Dies geschieht auf anschauliche Art und Weise. Der Autor erzählt indessen mehr die Entwicklung wie eine Geschichtsdarstellung, analytische Betrachtungen kommen dabei nur am Rande vor. Man versteht zwar immer, was jeweils die Deutung sein soll. Da Kepel sie aber nicht abstrakt herausarbeitet und inhaltlich erörtert, wird sie auch nicht ausführlicher begründet und untersucht. Mitunter sieht er die französischen Muslime auch nur als gesellschaftliche Objekte und nicht als handelnde Subjekte an. Deutlich und überzeugend betont der Autor indessen den wechselseitigen Kontext von Islamismusbedeutung und Muslimenfeindlichkeit. Auch macht er die strukturelle Erneuerung des Djihadismus hin zu einer Dezentralisierung immer wieder anschaulich deutlich.
Gilles Kepel mit Antonine Jardin, Terror in Frankreich. Der neue Dschiahd in Europa, München 2016 (Verlag Antje Kunstmann), 304 S., ISBN 978-3-95614-129-4, 24 Euro