Rudolf Steiner, der "Denker" der Waldorfschule

Gegenteil-Tag, 365 Tage im Jahr

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Das zweite Goetheanum in Dornach (1928 bis heute), Südansicht
Das zweite Goetheanum in Dornach (1928 bis heute), Südansicht

BERLIN. (hpd) Wer ihn kennt, kennt Rudolf Steiner (1861 – 1925) meist als Begründer der Waldorfschulen. 1919 finanzierte Emil Molt, Besitzer der “Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik” in Stuttgart, Rudolf Steiners erste “Waldorf”-Schule. Zuvor hatte Steiner mit mäßigem Erfolg ver­sucht, seine eigene, esoterische Weltanschauung – die “Anthro­poso­phie” – zu verbreiten, die er aus der Theo­sophie der Okkul­tistin Helena Petrovna Blavatsky abgeleitet hatte.

Nun sah Steiner mit der Waldorf­schule eine neue Chance und sagte in einer Ansprache am 20. August 1919 an seine zukünf­tigen Lehrer gerichtet: “Die Waldorf­schule wird ein praktischer Beweis sein für die Durch­schlags­kraft der anthropo­sophischen Welt­orien­tierung.”

Steiner übernahm persönlich die Aus­bildung der Lehrer. Alles was in der Waldorf­schule passieren sollte, wurde von ihm vorge­geben. Das ist bis heute so. Steiners Buch “Allge­meine Menschen­kunde als Grund­lage der Pädagogik”, in dem seine Vorträge für die Lehrer aus dem Jahr 1919 festge­halten sind, gehört noch heute “zur Grund­aus­stattung all jener Lehrer, die an einer Rudolf Steiner- oder Waldorf­schule unterrichten”, so das Vorwort, und wird in den anthroposo­phischen Aus­bildungs­stätten, beispiels­weise im “Seminar für Waldorf­pädagogik Berlin”, gelesen.

Das Wort Rudolf Steiners ist dem Anthroposophen heilig, nur so ist zu erklären, dass fast jede Äußerung Steiners fest­gehalten, und als Buch ver­öffentlicht wurde: Der letzte Band der “Rudolf Steiner Gesamt­ausgabe (GA)” trägt die fort­laufende Nummer “GA 354”.

Vor diesem Hintergrund erstaunt es, dass der “Bund der Freien Waldorf­schulen” der Öffent­lichkeit erklärt, Anthroposophie spiele in den Waldorf­schulen keine Rolle. Und auch öffentliche Schul­träger, wie die Hamburger “Behörde für Schule und Berufs­bildung” im Rahmen des Schul­versuches “Staatliche Waldorfschule”, betonen, “es gehe ledig­lich um die Inte­gration all­gemein akzeptierter Elemente der Waldorf­pädagogik” in eine staat­liche Regel­schule, nicht aber um die Über­nahme ihrer anthro­poso­phischen Grund­lagen.

Tabu ist, Rudolf Steiners Original-Texte als Grund­lage der Waldorf­pädagogik zu disku­tieren, es hat den An­schein, Waldorf­schulen hätten den inoffiziellen Bildungs­auftrag: “Verlernt Lesen!”

Wer überlegt, sein Kind in eine Waldorf­schule zu schicken, sollte vielleicht aber doch einmal zu einem Buch Steiners greifen. Nur so kann der Unter­schied von, Zitat Prof. Klaus Prange, “all­gemeiner öffent­licher Präsen­tation der Waldorf­schule, die sich der üb­lichen Vokabeln und Formeln bedient, und dem, was eigent­lich damit gemeint ist”, erkannt werden und man vermeidet, mit der anthro­poso­phischen Pädagogik eine “Mogel­packung” zu kaufen, “die ein sehr eigen­williges Produkt in einer geläufigen und höchst normalen Ver­packung an den Mann zu bringen versucht.”

Als ausgebildeter Waldorf­lehrer habe ich natürlich Steiner gelesen, bei der “Steiner-Exegese” im “Seminar für Waldorf­pädagogik Berlin”. Und mir ist etwas aufge­fallen. Nein, heute möchte ich nicht über “Rudolf Steiners Rassismus”, “Anthro­posophie und National­sozialis­mus”, oder “Atlantis in der Waldorf­schule” sprechen. Sondern über etwas anderes: Bei Rudolf Steiner ist Gegen­teil-Tag, 365 Tage im Jahr.

Rudolf Steiner erklärt am besten selber, was damit gemeint ist, Zitat Steiner: “Nun glaubt die Wissen­schaft, daß das Herz eine Art von Pumpe ist. Das ist eine groteske phantas­tische Vor­stellung. Niemals hat der Okkultismus eine solch phantas­tische Behauptung aufgestellt wie der heutige Materialismus. Das, was die bewegende Kraft des Blutes ist, sind die Gefühle der Seele. Die Seele treibt das Blut, und das Herz bewegt sich, weil es vom Blute getrieben wird. Also genau das Umge­kehrte ist wahr von dem, was die materialistische Wissen­schaft sagt.”

Ausgewählt habe ich meine Zusammen­fassung, “Das Herz ist KEINE Pumpe!”, weil hier vermut­lich jeder Leser um­denken muss. Aber das Prinzip, dass Rudolf Steiner jedem bekannte Tat­sachen als “falsch” hin­stellt, um das genaue Gegen­teil als “richtig” zu erklären, zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk. Auch hier gilt: selber lesen, selber staunen!

Vorstellen möchte ich nur noch eine Erkenntnis Rudolf Steiners zu einem Organ, das ähnlich elementar ist wie das “Herz”: der “Kopf”. Elementar wie der Waldorf-Werbe­slogan: “Lernen mit Kopf, Herz und Hand”.

Und der Leser erfährt ganz nebenbei, warum Joseph Beuys kein origineller Künstler ist, sondern ein dreister Steiner-Plagiator, wenn er mit seinem in die (Kunst-) Geschichte eingegangenen Zitat sagt: “Ich denke sowieso mit dem Knie.”

Wie Rudolf Steiner ‘denkt’, erklärt er in seinem Buch “Menschen­erkenntnis und Unterrichts­gestal­tung”, Pflicht­lektüre im “Seminar für Waldorf­pädagogik Berlin”.

In seinem Vortrag von 1921 appelliert Steiner zunächst an seine Leser – bzw. an die ihm zuhörenden Waldorf­lehrer –, sich von den “Vor­urteilen der Wissen­schaft” frei zu machen: “Es handelt sich ja so sehr darum, wenn man wirklich das Wesen des Menschen in der richtigen Weise sich vergegen­wärtigen will, dass man Abschied nimmt von mancherlei Vorur­teilen, die die neuere wissen­schaft­liche Welt­anschauung schon einmal mit sich heraufgebracht hat.”

Es folgt Steiners anthro­posophische Wahrheit über das Denken: “Von den logischen Funktionen: Vor­stellen, Urteilen, Schließen, ist eigentlich nur das Vor­stellen eine wirkliche Kopf­funktion. Und dessen sollen wir uns sehr bewußt werden, dass eigentlich nur das Vor­stellungen bilden, nicht aber das Urteilen und das Schließen, eine Kopf­funktion ist.”

Möglichen Einwänden noch ungläubiger Lehrer und Leser begegnet Steiner so: “Sie werden sagen: Allmählich wird der Kopf durch die Geistes­wissen­schaft [Anmerkung: “Geistes­wissenschaft” ist synonym für “Anthroposophie”] ganz außer Gebrauch gesetzt. – Aber das ist tat­sächlich etwas, was im tiefsten Sinn der Wirk­lich­keit ent­spricht, denn wir haben an unserem Kopf nicht so außer­ordentlich viel als Menschen im Leben zwischen der Geburt und dem Tode.”

Eine wirkliche Funktion hat der Kopf nur im Hin­blick auf die nach­todliche – bzw. vor­geburt­liche – Existenz des Menschen, “weil er eigentlich ein Abbild ist unserer geistigen Organisation zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Er ist in gewissem Sinn ein Siegel­abdruck desjenigen, was wir waren vor unserer Geburt, vor unserer Empfängnis.”

Um die anthroposophische Erkennt­nis zu vertiefen, benutzt Steiner dann ein eindrucks­volles Bild für den “Kopf”: “Er sitzt auf dem Körper wie ein Parasit darauf und benimmt sich auch wie ein Parasit. Es ist schon not­wendig, daß man die materia­listische Anschauung, als ob wir vom Kopf so außer­ordentlich viel hätten – wir brauchen ihn als Spiegelungs­apparat –, daß man diese Ansicht aufgibt. Das ist schon notwendig. Wir müssen den Kopf an­sehen lernen als ein Bild unserer vor­geburt­lich geistig-see­lischen Organisation.”

Wenn wir also nicht aus­schließlich mit dem Kopf denken, womit dann? Steiners Antwort: “Das Urteilen ist eigent­lich an den mittleren Organismus und nament­lich an die Arme und Hände gebunden. Wir urteilen eigentlich in Wirk­lichkeit mit den Armen und Händen. Vorstellen tun wir mit dem Kopf. Wenn wir also also den Inhalt eines Urteils vor­stellen, so geht das Urteilen selbst in den Mechanismus der Arme und Hände vor sich, und nur das vor­stellungs­gemäße Spiegel­bild geht im Kopfe vor sich. Sie werden da ja auch inner­lich begreifen können und es dann als eine wichtige didaktische Wahr­heit durch­schauen.”

“Das Schließen, das Schlüsse bilden, hängt nun zu­sammen mit den Beinen und Füßen. Natür­lich werden Sie heute aus­gelacht, wenn Sie einem Psychologen sagen, man schließt mit den Beinen, mit den Füßen, aber das letztere ist doch die Wahr­heit, und würden wir als Mensch nicht auf Beine und Füße hin organisiert sein, würden wir eben nicht Schlüsse bilden können. Die Sache ist so: Vorstellen tun wir mit dem Äther­leib, und der hat seinen Rück­halt an der Hauptes­organisation, aber urteilen tun wir – also in ursprüng­licher elementarer Weise – mit dem astralischen Leib, und der hat seinen Rück­halt an Armen und Händen für das Urteilen. Schließen mit den Beinen und Füßen, denn schließen tun wir mit dem Ich, das hat dabei Rück­halt an den Beinen und Füßen.”

Wer wollte hier lachen? Joseph Beuys wurde mit Steiners ‘Denken’ berühmt, und Rudolf Steiners Denk­schule Waldorf­schule erfreut sich größter Beliebt­heit.

 


Mit freundlicher Genehmigung des Autors nachveröffentlicht.