NIEDERLANDE. (hpd) Die Diskussionen um Sarrazin lassen vergessen, dass unsere westliche Nachbarn mit schlimmeren Konsequenzen aus den nicht gelösten Problemen der Immigration und der ethnischen Diversifizierung zu kämpfen haben als in Deutschland.
Scheinbar bewahrheitet sich europaweit die politische Weisheit, dass dann, wenn soziale Konflikte sich verschärfen, der Bevölkerung emotional geladene Scheinprobleme suggeriert werden, und diese leider auch sofort aufgenommen werden. Es droht zunehmend die Gefahr, dass dadurch jede demokratisch verantwortete Politik verhindert wird.
In Frankreich droht die durch Sarkozy initiierte Sicherheitsdebatte um die Immigranten und insbesondere die Roma, die Diskussion um seine asoziale Regierungspolitik zu ersticken. In Belgien gibt es noch immer keine Lösung für die dortige Regierungskrise. Einig sind sich die flämischen und wallonischen regierungswilligen Parteien über die notwendigen ökonomischen Reformen, aber sie können sich nicht über die politische Vertretung der Ethnien in Brüssel einigen. Und auch die Niederlande sind de facto noch immer regierungslos. Auch hier Einigkeit um die Staatsfinanzen zu sanieren, aber Zerstrittenheit über die Migrationspolitik und die Bewertung des Islams.
Schon im Juni diesen Jahres schätzte hpd nach dem Wahlsieg der nationalistischen Neu-Flämische Allianz (N-VA) und des populistischen Nationalisten Wilders die zukünftige politische Entwicklung in Belgien und den Niederlanden als sehr kompliziert ein (Nationalisten und Sozialisten gewinnen Wahlen / Deutsche Zustände in den Niederlanden?). Danach würden die christendemokratischen Parteien eine zentrale aber konfliktreiche Rolle beim Finden von Regierungskoalitionen mit den Nationalisten zu spielen haben. So ist dann heute auch die Lage.
Belgien
In Belgien scheiterten bis jetzt alle Versuchen einer Regierungsbildung an den radikalen Forderungen der N-VA im Bezug zum ethnischen Statut Brüssels. Die wird aber von den flämischen Christdemokraten (CD&V) stillschweigend mitgetragen, von den wallonischen jedoch explizit verweigert. Tatsache ist, dass das politische System die Stärke der Nationalisten kaum noch beherrschen kann. Fast alle Parteien sind durch die N-VA erpressbar geworden. Nur noch eine Koalition der Liberalen und Sozialisten aus den beiden Sprachgebieten unter eventueller Einbeziehung der wallonischen Christdemokraten könnte die Situation retten, aber dafür liegen deren sozioökonomische Vorstellungen bis jetzt noch zu weit auseinander.
Niederlande
In den Niederlanden nun schien die Hochzeit der Christendemokraten (CDA) mit Wilders bis Dienstag dieser Woche fast beschlossene Sache, obwohl innerhalb der Partei ein starker Widerstand dagegen besteht. Zusammen mit den Liberalen wollte die CDA eine Mitte-Rechts-Minderheitsregierung bilden. Sie brauchte dafür aber die Duldung der Wilders Partei. Viele CDAer haben aber Angst vor den Positionen der PVV von Wilders hinsichtlich der Rolle der Religion im Staat. Dies auf dem Hintergrund von deren radikalen Positionen zum Islam. Es bildeten sich dann auch während der Verhandlungen zwei christdemokratische Fraktionen zum Duldungsvertrag. Einerseíts die, die nur sehr zögernd oder gar keine Regierungsbeteiligung der PVV akzeptieren will. Sie wird in den Gesprächen vertreten durch Minister Ab Klink und hat Unterstützung u. a. von Ex-Premier Ruud Lubbers und eine Anti-PVV Kampagne mit Unterschriften von mehr als 1000 Mitgliedern bekommen. Andererseits die Fraktion von Fraktionsleiter Verhagen, die keine Probleme mit Wilders hat, obwohl Verhagen unmittelbar nach der Wahl angeblich nie mit der PVV verhandeln wollte. Die provokatorische Ankündigung Wilders, am 11. September in New York eine Rede gegen den geplanten Moscheebau an Ground Zero zu halten, verschärfte die Gegensätze noch mehr.
Am Dienstag nun verkündete Ab Klink, kommissarisch amtierender Minister für Volksgesundheit, in der Presse, dass er nicht länger mit Wilders PVV verhandeln will. In dem Brief an den Parteivorstand begründet er seinen Schritt mit der fehlenden Gewährleistung einer solidarischen Regierungspolitik durch Wilders. Dieser verlangte im Austausch für die Annahme von Sparmaßnahmen (die er im Wahlkampf abgelehnt hatte) eine deutliche Verschärfung der Asyl- und Immigrationspolitik. Auch die christdemokratische CDA will das, aber zur Verbesserung der Integration der Immigranten. Wilders aber will es, so Klink, um jede Immigration und Integration zu verhindern. Klink dazu im Brief: „Wie wirkt das in der Gesellschaft? Wie fühlt sich eine Muslima, die am Montagmorgen mit ihrer Butterbrotdose zum obligatorischen Integrationskurs geht? Sieht sie die Schule als eine helfende Institution oder als eine, die ihre Glaubensgenossen aussperrt?“
Abgesehen von sich daraus in der Praxis ergebenden Differenzen, die ein Verständnis für die Konzeption der Regierung unmöglich macht, befürchtet Klink die Ausnutzung des Duldungskompromisses und seiner Resultate für die weitere Profilierung der PVV von Wilders als Retter der niederländischen Identität. Klink: „Der Aufmarsch der PVV hat durch den Vertrag begonnen. Die De-Islamierung ist angebrochen: hier und jetzt.“. Die CDA würde ständig in der Defensive gedruckt werden. Und das würde sicherlich die ohnehin tiefste Krise ihrer Geschichte noch verschärfen: Aktuelle Umfragen bescheinigen ihr nur noch 10 Prozent (bei den Wahlen 14 Prozent). Mit dieser Interpretation steht Klink aber im offenen Widerspruch zum Fraktionsleiter Maxime Verhagen. Eine spontan einberufene Krisensitzung der CDA-Fraktion blieb ergebnislos. Die Koalitionsgespräche wurden vorerst ausgesetzt.
Der Brief hat in der politischen Szene unterschiedliche Reaktionen erzeugt. Die Liberalen der VVD bezeichnen den Brief als einen Fehler. Über solche Verhandlungen dürfe man „sogar nicht mit seinem Hund reden“. Die linken und grünen Parteien begrüßen natürlich das Schreiben: als „einen Zwang zur Einkehr“. Wilders selbst widersprach der Klinkschen Bewertung seiner Haltung als falsch, will aber über die Verhandlungen nichts sagen.
Genützt hat der Schritt Klinks jedoch wenig. Nach zwei Tagen des Ausnahmezustandes und Gespräche an verschiedenen Orten haben alle 21 Abgeordneten (auch Klink und seine Anhänger) am Donnerstag beschlossen, dass die Verhandlungen weitergeführt werden, sie das Ergebnis abwarten und dann erst urteilen werden. Die Regierungskoalition von Wilders Gnade bleibt unsicher.
Rechtspopulisten umarmen, mit ihnen diskutieren oder negieren?
Offen bleibt hier, wie in Belgien, wie mit Rechtspopulisten umzugehen ist: Umarmen, mit ihnen diskutieren oder negieren? Die Spaltung der Parteienlandschaft beim Thema Integration und Islam widerspiegelt auch hier die Krise einer in vielen Bereichen polarisierten Gesellschaft. Die erdachten parteipolitischen Lösungen lassen in vieler Hinsicht Vergleiche mit der Situation in den dreißiger Jahren zu. Egal was passiert, die Nationalisten scheinen aus der Situation immer als Gewinner hinauszugehen: Ihre Themen werden salonfähig, ohne dass sie vorerst dafür Verantwortung übernehmen müssen, die wirklichen Probleme der Gesellschaft werden nebenbei und abseits jeder demokratischen Kontrolle durch obskure Personen und Gruppen erledigt.
Rudy Mondelaers