Grenzen kirchlichen Selbstbestimmungsrechts

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Ingrid Matthäus-Maier / Foto © Evelin Frerk

KASSEL. (hpd) Bei der Fachtagung zum kirchlichen Arbeitsrecht der "dia" (Diakonische ArbeitnehmerInnen Initiative e. V.) unter dem Titel "Haben die kirchlichen Sonderrechte noch eine Zukunft?" am 17.11.2010 in Kassel referierte Frau Ingrid Matthäus-Maier, ehemalige Verwaltungsrichterin, langjährige Bundestagsabgeordnete und Beiratsmitglied der Giordano-Bruno-Stiftung zur Frage "Grenzen des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts".

Sie vertrat die Ansicht, dass die Kirchen sich unter Berufung auf Art.137 Abs. 3 Weimarer Reichsverfassung i.V. mit Art.140 Grundgesetz ein kirchliches Sonderarbeitsrecht geschaffen hätten, das in dieser Form in Europa einmalig sei und die Rechte der ArbeitnehmerInnen und ihrer Gewerkschaften aus Art. 9 Abs. 3 GG (Koalitionsfreiheit) und Art. 4 GG (Religionsfreiheit) unzulässig einschränkten.

Unter Verweis auf den Wortlaut des Art. 137 Abs. 3 („Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde.“) betonte Frau Matthäus-Maier, dass dort von Selbstverwaltungsrecht und nicht von Selbstbestimmungsrecht die Rede sei. Schon durch diese anscheinend leichte sprachliche Verschiebung usurpierten die Kirchen ein höheres Regelungsrecht, als es der Wortlaut zulasse. Zum anderen begrenze der Artikel dieses Recht ausdrücklich durch den Hinweis auf die Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Zu diesen Gesetzen gehörten nun aber die Grundrechte auf Koalitionsfreiheit (incl. Streikrecht) und Religionsfreiheit.

Die Forderung der Gewerkschaft VERDI nach Tarifverträgen und - wenn es denn sein muss - auch Streikrecht sei demnach juristisch und auch politisch gerechtfertigt. Frau Matthäus-Maier ist sich sicher, dass die bisherige äußerst kirchenfreundliche Rechtsprechung vor allem des Bundesverfassungsgerichts auf Dauer von den Untergerichten aufgeweicht würde. Zumal immer mehr MitarbeiterInnen in Diakonie und Caritas sich die bisherige Behandlung in den Kommissionen des Dritten Weges nicht mehr gefallen ließen. Arbeitsniederlegungen z. B. an Universitätskliniken oder in Heimen der AWO hätten gezeigt, dass der Schutz der Patienten durch Notdienstvereinbarungen sichergestellt werden könnte.

Sie betonte dabei, dass es in diesen Fragen um die Belange und die Rechte von mehr als einer Millionen Beschäftigten gehe.

Auch die völlige Freistellung der ArbeitnehmerInnen von Diakonie und Caritas vom Betriebsverfassungsgesetz nach § 118 Abs. 2 sei nicht gerechtfertigt. Die Behauptung der Kirchen, dies ergebe sich aus Art. 137 Abs. 3 WRV und sei somit verfassungsrechtlich geboten, ist leicht zu widerlegen. Galt doch in der Weimarer Zeit die Betriebsverfassung (Betriebsrätegesetz) auch für diese ArbeitnehmerInnen. Wenn aber unter der Weimarer Verfassung die Betriebsverfassung galt, kann es schon denknotwendig nicht sein, dass der gleiche Artikel heute die Geltung des Betriebsverfassungsgesetzes ausschließe. Dies sei vielmehr eine politische Entscheidung der Adenauerzeit gewesen und könne selbstverständlich wieder durch einfachen Gesetzgebungsakt revidiert werden. So könnten die Kirchen wie Tendenzbetriebe nach § 118 Abs. 1 Betriebsverfassungsgesetz behandelt werden mit entsprechendem Tendenzschutz mit der Folge, dass bei den MitarbeiterInnen der Kirchen unterschieden werden kann nach der Nähe zur Verkündigung. Für den Pfarrer und Seelsorger würde dann etwas anderes gelten als für die Krankenschwester und den Klinikarzt in Diakonie und Caritas.

Frau Matthäus-Maier kritisierte schließlich scharf die Loyalitätsrichtlinien in diesen Einrichtungen. Das Recht der kirchlichen Arbeitgeber, einer Krankenschwester, einem Arzt, einer Pflegerin bei Kirchenaustritt außerordentlich zu kündigen, verstoße gegen deren Religionsfreiheit. Dies gelte vor allem, wenn man berücksichtigt, dass etwa 2/3 der karitativen und sozialen Einrichtungen von freien Trägern in kirchlicher Trägerschaft seien, so dass schon aus Arbeitsmarktgründen die Beschäftigten Angst vor einem Kirchenaustritt hätten und auf diese Weise quasi lebenslang zu Mitgliedschaft in der Kirche gezwungen seien.

Sie zeigte sich allerdings zuversichtlich, dass auch hierüber die Zeit hinweggehen würde. Denn angesichts von 34 % Konfessionsfreien an der Bevölkerung in Deutschland ( zum Vergleich: 29 % Katholiken und 29 % Protestanten) sei klar, dass auf Dauer nicht genug Kirchenmitglieder für die Tätigkeiten zu gewinnen seien. Zum anderen seien Entscheidungen wie die Kündigung eines Chefarztes in einem katholischen Krankenhaus, weil er als Geschiedener nach jahrelangem Zusammenleben mit seiner Geliebten nun diese heiratete, derart weltfremd und stießen auf soviel Unverständnis in der Bevölkerung, dass die Kirche sich solche Skandalentscheidungen auf Dauer nicht mehr leisten könnte. Entsprechend habe ja das Landesarbeitsgericht Düsseldorf die Kündigung für unwirksam erklärt.

Dass es den Kirchen gelungen sei, sich im neuen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) fast unbemerkt von der Öffentlichkeit einen § 9 zu "ergattern", wonach eine wegen der Religion oder Weltanschauung eigentlich unzulässige unterschiedliche Behandlung von Bewerbern oder Beschäftigten in Deutschland doch zulässig sei, ist eine kirchenlobbyistische Meisterleistung und kein Highlight des Gesetzgebers. Hat doch schon die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik eingeleitet, weil das Recht der Kirchen nach § 9 AGG entgegen der Europäischen Richtlinie voraussetzungslos ist.

Sie schloss ihren Vortrag mit den Worten: „Wie schon beim Kreuz in der Schule kann man auch hier nur darauf hoffen, dass Europa einem wichtigen Artikel des Grundgesetzes zum Durchbruch hilft, der da heißt: " Es besteht keine Staatskirche". (Art. 137 Abs. 1 i.V. mit Art. 140 GG.) Im Moment ist die Realität in Deutschland eher so, als gebe es zwei Staatskirchen. Leider !“

Ihre Ausführungen stießen bei den rund 250 TeilnehmerInenn auf Zustimmung und wurden mit großem Beifall belohnt.

C.F.