Ehemalige Heimkinder sorgten für Überraschung

 Brief vom 12.08.1963 von der Anstaltsleitung an das Jugendamt Bochum:

Brief vom 19.11.1963 von der Anstaltsleitung, Pastor Lähnemann, an das Landesjugendamt:

 

 

46 Jahre nach der Entlassung

Im Januar 2011 schreibt Heiner Conrad Satz "... und nach jahrelangen Nachforschungen erhielt ich eine Kopie meiner Heimakte". Seine Akte erhielt er aus Freistatt.

Auf Nachfrage erfuhr der hpd von dort: Die Gesamtzahl der von den
"v. Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel" für eine Fürsorgeerziehung in Obhut genommenen Kindern und Jugendlichen wird mit ca. 7.000 angenommen. Pro Woche wird durchschnittlich eine Akten-Anfrage gestellt, ca. 1.000 Akten in Form von Fotokopien sind an Betroffene aufgrund derer Anfragen versandt worden.
Vier Jahre sei bei Fürsorgezöglingen die durchschnittliche Verweildauer in den Heimen gewesen.

Heiner Conrad ist inzwischen 62 Jahre alt, als der Runde Tisch Heimerziehung in seinem Abschluss-Bericht schreibt: Es habe Erkenntnisse in der Aufarbeitung gegeben und Punkte der Erziehungspraxis in den Heimen als "Regel- und Rechtsverstöße in der Heimerziehung" zusammengefasst auf den Seiten 35 ff. aufgeführt.

Schlicht heißt es: „Bei Arbeits- und/oder Ausbildungsverhältnissen seien keine Sozialbeiträge eingezahlt worden." Wie diese dürren Worte nicht nur bei einzelnen Menschen das Verständnis übersteigen lässt sich vorstellen.

Heiner Conrad schreibt dazu am 11. 1. 2011 über seine Zeit in Freistatt:

Das Leben, wenn man es als solches bezeichnen kann, war in Freistatt die sprichwörtliche Hölle. Von früh bis spät Arbeiten. Aufstehen. Betten machen. Anziehen. Frühstücken. Umziehen. Kartoffeln schälen, Arbeitszeug anziehen. Draußen zum Appell antreten. Dann gab es schon die ersten Prügel z. B. weil an sich nicht ordentlich gekämmt hatte oder irgendwo ein Knopf fehlte. Dann „abzählen“. Einteilung für die Moorkolonnen. Mit einer Pump-Lore raus ins Moor. Ca. 4 bis 6 km. Arbeit bis zu Mittag, dann wurde das Essen (was man auch immer darunter verstehen sollte) gebracht. Essen – Zigaretten-Pause – weiter arbeiten und ca. 17 Uhr: Feierabend. Wieder auf die Lore und zurück zum Heim. Kalt Duschen. Umziehen. Keller aufräumen. Abendbrot. 2 Stunden Freizeit – ab in Bett. Das habe ich 5 Monate gemacht. Dann wurde ich zum Bauern in der Umgebung ‚entliehen’. In der Erntezeit 12 bis 14 Stunden Arbeit.
Wenn der Herbst kam – wieder ins Moor zum Torf stechen. Dann an anderen Tagen Kuh-, -Schweine- und Schafställe ausmisten. Unsägliche Knochenarbeit. Oder man kam in die Sandgrube und musste für die umliegenden Baufirmen Sand ranschaffen.

Zwischendurch war ich in mehreren Etappen in der Arrestzelle, weil ich aufmüpfig war. Insgesamt war ich dort drei Wochen und das immer mit Unterbrechungen. Eben ganz, wie es den sogenannten „Brüdern“ gefiel. Ich habe Ausschlag an beiden Beinen bekommen, offene Stellen, die nicht heilen wollten und auch nicht behandelt wurden. Es hieß: Das kam von alleine, das geht auch wieder von alleine.

Den Dauerarrest bekam ich für das „Abhauen“, Diebstahl eines Fahrrades und Schwarzfahren mit der DB und Zweckentfremdung von Heimkleidung weil ich damit in der Öffentlichkeit war.

Im Oktober 1964, ich war 16 Jahre alt, wurde ich entlassen und das ohne Geld, ohne Textilien. Ich hatte nur eine Fahrkarte für Bus und Bahn bis Bochum im Wert von 16 DM und die hatte ich an das Jugendamt Bochum zurückzuzahlen.
Ich habe keine Arbeit gefunden, ein Heimkind war damals sowie wert wie ein Zuchthäusler. Ich bekam nur Absagen, kein Geld vom Staat, nix. Und das schlimmste war in meinen Augen, dass man meiner Mutter die Waisenrente wegnahm, die sie bis dahin nach Freistatt zu meiner Verfügung mit 60 DM pro Monat überwiesen hatte. Ich habe aber NIE Geld bekommen, das war wohl die Übernachtung mit Vollpension.

Dann die Beurteilung meiner Familie, unglaublich. Es hatte sich nie jemand vom Amt um uns gekümmert . Meine Schwester wurde als geisteskrank eingestuft weil sie eine Hirnhautentzündung hatte. Sie ist weder dumm gewesen noch dumm geworden.

Nach jahrelangen Nachforschungen bekam ich aus Freistatt meine Heimakte. Nur meine schlechtesten Seiten wurden darin festgehalten. Das man sch aber wie in einem Gefängnis fühlte oder schwer misshandelt wurde, davon steht nichts drin.
Verlogen und verkommen, egal ob evangelisch oder katholisch. Durch die Heimerziehung (damals die unterste Stufe) blieb ich zwei Jahre ohne Arbeit und das zur Zeit eines Wirtschaftswunders. An allen Ecken fehlten Arbeitskräfte schon alleine durch die Väter, die im Krieg geblieben waren. Und da war für ein Heimkind kein Platz und keine Arbeit? Die Freunde von früher waren plötzlich keine mehr. Man wurde gemieden wie die Pest. Wenn ich bei uns auf die Strasse ging, wurden die Freunde von früher von ihren Eltern reingerufen.