Ich bin kein Opfer!

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Nourig Apfeld. Fotos: F. Lorenz

MASTERSHAUSEN. (hpd) Nourig Apfeld schrieb das Buch, Gudrun Landgrebe las Passagen daraus vor, Michael Schmidt-Salomon stellte die Fragen: Die Postmatinee „Ich war Zeugin des Ehrenmords an meiner Schwester“ im Forum der Giordano-Bruno-Stiftung in Mastershausen beeindruckte und rührte die Gäste zutiefst.

Gudrun Landgrebe bewies in Filmen wie „Die flambierte Frau“, „Heimat“, „Rossini“ oder „Jud Süß – Film ohne Gewissen“, dass sie eine der großen, deutschen Schauspielerinnen ist. Wie die FAZ unlängst schrieb, ist sie „auch mit sechzig noch eine der wenigen Frauen, die dem deutschen Kino Sex verleihen“. In der beeindruckenden Lesung von fünf Passagen aus dem Buch von Nourig Apfeld spürte man, wie intensiv sich Gudrun Landgrebe in den Text eingearbeitet hatte.

Zwischen den Passagen stellte Michael Schmidt-Salomon der Autorin Fragen – zum Teil inhaltliche und persönliche, zum Teil politische. Nourig Apfeld ist eine sehr starke Frau, die viel zu erzählen hat und ihr tiefes Verständnis für Zusammenhänge zu vermitteln versteht. Zusammenhänge, welche die Kulturen von Migranten und der Deutschen aufeinanderprallen lassen. Die gegenwärtig häufig unversöhnlich sind, weil sich kaum jemand die Mühe macht, wirklich zu verstehen. Weil in Deutschland ein Kulturrelativismus vorherrscht, der Gewalt als scheinbar unveränderlichen Bestandteil der anderen Kultur toleriert und die Geltung der Menschenrechte letztlich nur für weiße Mitteleuropäer einklagt. Diese Einstellung hat Nourig Apfelds 17jähriger Schwester das Leben gekostet: Waffa wurde von der eigenen Familie ermordet. Ein so genannter Ehrenmord.

Unvereinbare Kulturen

Nourig Apfeld war sieben, ihre Schwester drei Jahre alt, als sie 1979 in Begleitung der Mutter in Deutschland ankamen. Ihre Mutter hatte die Aufgabe, die Mädchen zu demütigen Frauen zu erziehen. Der Vater war liberaler und gab sein letztes Hemd dafür, seinen Töchtern Bildung zu ermöglichen. Die Mutter war Analphabetin. Den Deutschkurs, in den sie der Ehemann schickte, brach sie nach wenigen Stunden ab. Hier hätte der Staat eine Handhabe, meint Apfeld. Die Isolierung der Mutter hätte beidseitig aufgehoben werden können, indem der Mutter per Gesetz ein Deutschkurs aufgezwungen worden wäre. Ein Demokratisierungskurs. Während die Mädchen in der Schule waren, hätte die Mutter Deutsch und demokratische Werte lernen können.. Hat sie aber nicht.

So blieb die Angst vor der eigenen Selbstständigkeit. Die Angst, vor der Familie das Gesicht zu verlieren, wenn sie ihre Töchter nicht zum Dienen erzieht. Eine Angst, die dazu führte, dass sie ihre Töchter würgte und biss, wenn diese sich nicht fügten, eine Angst, die sie dazu brachte, von ihrem Mann zu verlangen, dass er die Kinder ebenfalls züchtigte. Nourig und Waffa gingen aber ihre eigenen Wege, jede auf ihre Art. Die Ältere zog aus den Schulfächern Deutsch und Philosophie die Fähigkeit zum eigenen Denken. Sie überlegte sich bereits im jungen Alter eine Strategie, da sie wusste, dass Abweichungen innerhalb der Familie streng bestraft würden. Also hielt sie still und tat bis zum Abitur so, als sei ihr Wille gebrochen. Nicht so die Jüngere. Diese war weitgehend in Deutschland aufgewachsen und nahm die Drohungen, mit denen die Kinder erzogen wurden, nicht ernst: Wenn du nicht spurst, werden wir dich töten.

Als Waffa sich ans Jugendamt wandte, verstieß sie gegen die Familienehre. Sie beging in deren Verständnis Hochverrat. Waffa wollte ins Heim. Die Frau vom Jugendamt verstand leider nicht die komplexen Zusammenhänge und die Unterschiede zwischen den Kulturen. Die Kultur bildungsferner Migranten vom Lande ist, so erklärt es Nourig Apfeld, eine Schamkultur, keine Gewissenskultur. Es geht vor allem darum, nicht das Gesicht zu verlieren. Es gibt so gut wie keine Individuation. Menschen werden vorrangig als Teil einer Gemeinschaft betrachtet, nicht als Individuen. Sie sollen funktionieren, spätestens ab dem Schuleintritt. Da hört die Kindheit auf.

Verdrängter Mord

Über die Ankunft eines fundamentalistischen Cousins, die Verschleppung Waffas in die Türkei, wo sie geschlagen und vergewaltigt wurde, eine Zwangsheirat in der Fremde sowie die Flucht der Schwester zurück nach Deutschland nahm das Unglück seinen Lauf. Nourig Apfeld wird eines Morgens im August 1993 sehr früh vom Vater geweckt und ins Wohnzimmer geführt. Der Cousin Kaan hält das Seil noch in der Hand, der noch um den Hals der Schwester geschlungen ist. Sie soll es in die Hand nehmen. Die Schwester ist noch warm.

Waffas Körper wird in einer großen Kiste abtransportiert und ist bis heute nicht aufgetaucht. Nourig Apfeld versteht ihr Buch als Gedenkort für die Schwester. Sie hat es auch ihrem Vater, der an der Tat zerbrach, gewidmet, und ihren Halbgeschwistern.

Nourig Apfeld erzählte zunächst niemandem von der Tat, sie verdrängte und sie funktionierte. Das hatte sie von klein auf gelernt. Nach neun Jahren – sie war inzwischen verheiratet – klappte das Funktionieren nicht mehr. In einer Therapie konnte sie Selbstwertgefühl und Urvertrauen erarbeiten, ihre eigene Resilienz half. Sie ist sehr stark.