Das Abendland - eine säkulare Perspektive

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Dr. Paul Schulz / Fotos: Dennis Merbach

FRANKFURT/M. (hpd/sh) Dr. theol. Paul Schulz bestritt den letzten Frühjahrsvortrag bei den Säkularen Humanisten – Regionalgruppe Rhein-Main. Am 6. Mai stellte er seine Thesen unter dem Titel „Wir sind kein jüdisch – christlich ( – islamisches) Abendland“ vor und präsentierte erstmalig auch sein neues Projekt „Atheodoc“.


Bericht und Kommentar von Mathias Mendyka

Der ausgebildete Theologe und ehemalige Pastor Paul Schulz, der für seine kritischen Ansichten bereits 1979 von der Evangelischen Kirche Deutschlands ein Lehrverbot erhielt, sprach an diesem Abend im Saalbau Bornheim vor einem Publikum von ca. 50 Interessierten. Dabei gelang es ihm, die Debatte zur europäischen Wertebasis um seine historisch fundierte Perspektive auf das „säkulare Abendland“ zu bereichern.

Der Referent, dessen letzte Veröffentlichung „Atheistischer Glaube. Eine Lebensphilosophie ohne Gott“ 2008 erschienen ist, zog jedoch auch die notwendigen Konsequenzen für die Gegenwart und Zukunft – und lieferte mit der Vorstellung seines Internetprojektes einer atheistischen Enzyklopädie „Atheodoc“ gleich selbst einen Beitrag.

Schulz, der sich an mehreren Stellen des Abends als Anhänger der Theorien Samuel Huntingtons („Kampf der Kulturen“) bekannte, hob zum Einstieg die Brisanz des war on terrorism heraus und stellte fest, dass die zu Grund liegenden, religiösen Konfliktlinien (auf die sich etwa die US-Präsidenten Bush jun. und Obama beziehen) durch Politik und Presse meist schöngeredet und verunklart werden. Daraus leitete der Referent den Vorsatz ab, im Vortrag zunächst die notwendigen historischen Informationen darzulegen.

Die säkulare Antike

Als für das Denken des Abendlandes prägend ging Schulz zunächst auf die griechische Antike ein. Neben ihrer ursprünglich religiösen Weltdeutung, wie sie etwa in der Illias nachzulesen ist, hob er als spezifisches Merkmal der griechischen Kultur die Ausformulierung der ersten Naturphilosophie (die ionische Aufklärung) hervor. Diese Gegenbewegung bezog sich erstmals auf ein materialistisches Weltbild und die säkulare Rationalität. So finden sich z.B. erste Konzepte vom atomaren Aufbau der Materie bei Demokrit (und später bei Epikur). Aber auch die Ausweitung politischer Freiheiten, etwa der attischen Demokratie sei für die weltlich begründete Befreiung des Denkens und des Handelns in der griechischen Antike zentral.

Die spätere, römische Antike lieferte laut Schulz ideengeschichtlich dann durch die stärkere Betonung des Praktischen und Juristischen das Prinzip von Ursache und Wirkung, also das Prinzip der Kausalität. Die säkulare Vernunft und die Naturphilosophie der Griechen sei damit also in Richtung eines wissenschaftlichen Naturverständnisses fortgeführt worden.

Der Monotheismus des Orients

Als „Wesen des Orients“ arbeitete Schulz dann kontrastiv und lose chronologisch die Geschichte des Monotheismus heraus. Dazu ging er etwa auf die Situation der Juden und der Christen im Römischen Reich ein und attestierte eine „geistige Unterwanderung des Westens“ durch die Konfrontation mit den konkurrierenden Denksystemen. Durch Kaiser Konstantins Liaison von Kirche und Kaisertum, die Zementierung der Staatskirche und schließlich Kaiser Justinians Verbot des „heidnischen“ Wissens sei das antike Abendland schließlich endgültig vom nunmehr christlichen Abendland abgelöst worden. Was folgte war die Verödung Roms, das Nachwachsen des Papstes als Führungsmacht und 600 Jahre christliche Lethargie.

Die Rolle des Islam

Schulz fuhr mit einer kurzen Übersicht zum Aufstieg und Konsolidierung des Islam fort, sah in den militärisch erfolglosen Kreuzzügen schließlich aber das eigentlich bedeutsame Moment kulturellen Austausches zwischen Orient und Okzident. Die Wiederentdeckung des in der islamischen Wissenskultur überlieferten Aristoteles und des antiken säkularen Bewusstseins seien die eigentlich bahnbrechenden Folgen für das Abendland gewesen und hätten sich in der Renaissance letztlich in der Aufteilung weltlicher und geistlicher Gewalt, der Zerstörung der katholischen Absolutheit und dem Ende des Christentums als Machtfaktor niedergeschlagen.

Vor dem Hintergrund der wissenschaftshistorischen Kontinuitätsdebatte kann Schulz damit als nahe an der Theorie des umfassenden Weltbildwandels z.B. Alexandre Koyrés eingeordnet werden. Nach den frühneuzeitlichen bürgerlichen Revolutionen hob Schulz jedenfalls das säkulare 19. Jahrhundert als „Antwort auf die Antike“ hervor und resümierte, dass spätestens ab diesem Zeitpunkt die maßgeblichen Erkenntnisse (etwa durch Feuerbach, Marx, Darwin und Freud) völlig von der Tradition des mittelalterlichen, christlichen Abendlandes entfremdet seien.

Periodisierungsversuche

Schulz bezog sich an diesem Abend auch mehrfach auf die Thesen Sigmund Freuds. Verständlicherweise, denn schon der Begründer der Psychoanalyse verglich in „Die Zukunft einer Illusion“ die Kulturentwicklung mit der menschlichen Psyche, indem er beispielsweise schrieb: „Die Abwendung von der Religion [muss sich] mit der schicksalsmäßigen Unerbittlichkeit eines Wachstumsvorganges vollziehen“. Was Freud hier mit dem Festhalten der kindlichen Psyche an der mächtigen Vaterfigur verdeutlichte (die früher oder später zu überwinden sei, um nicht in einen dauerhaft neurotischen Zustand zu verfallen), versuchte der Referent anhand eines Rasters zur Menschheitsgeschichte des Abendlandes zu abzubilden.