Interview

Die meisten Laienchristen haben längst eine erotische Kultur entfaltet

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Prof. Dr. Anton Grabner-Haider
Prof. Dr. Anton Grabner-Haider

WIEN. (hpd) Religion und Erotik stehen in einem spannungsreichen Verhältnis. Doch wer hier nur an christliche Askese oder islamischen Jungfräulichkeitswahn denkt, übersieht, dass es in der Geschichte der Religion nicht immer so war und in einigen Kulturkreisen auch heute noch anders ist.

In einem soeben erschienenen Buch wenden sich Anton Grabner-Haider, Franz M. Wuketits, Susanna Berndt und Lisz Hirn unterschiedlichen Facetten des Themas zu. Sie schlagen den Bogen von den biologischen Grundlagen der Sexualität und alten Fruchtbarkeitskulten über eine Kritik der christlichen Sexualmoral bis zur Frage nach einer erotischen Kultur der Zukunft. Mit dem Autor das Hauptaufsatzes, dem Professor für Religionsphilosophie Anton Grabner-Haider, hat der hpd gesprochen.
 

hpd: Erotik und Religion – wer im Dunstkreis des Christentums aufgewachsen ist, wird sich fragen, was Religion und Erotik denn miteinander zu tun haben, außer dass sie nichts miteinander zu tun haben…

Anton Grabner-Haider: Die offiziellen Lehren der Theologen und Bischöfe haben Sexualität und Erotik abgewertet, wegen ihrer Lehre von der "Erbsünde". Doch viele Laienchristen sind diesen Abwertungen nicht gefolgt. Ansätze zu einer erotischen Kultur sehen wir an den Fürstenhöfen (Minnelieder), in der Zeit des Humanismus und der Renaissance (Adel), in der Zeit der Aufklärung und der Moderne (Bürgertum, Künstler).
 

Cover

Wie ist es dazu gekommen, dass hier in Europa die Verbindung von Sexualität und Religion so nachhaltig gekappt wurde?

Im frühen Christentum gaben Asketen den Ton an, denn sie behaupteten, dass sie dem Göttlichen näher seien als die sinnlichen Menschen. Diese Tradition lebte in den Klöstern und im Klerus weiter. Vor allem Aurelius Augustinus hatte die Sexualität tief abgewertet.
 

Hängt die Geringschätzung der Frau in Christentum und Islam mit beider Einstellung zur Sexualität zusammen oder sind das zwei unabhängig voneinander zu betrachtende Phänomene?

Alle patriarchalen Religionen (Juden, Christen, Moslems) werten die Frauen ab, weil die Männer (Krieger und Priester) das Gottesbild nur männlich zeichnen. Aber die Bibel enthält auch egalitäre Texte, nach denen die Frauen den Männern gleichwertig sind (Gal 3,28). Doch die Emanzipation der Frauen wurde von den Kirchen stark behindert.
 

Sehen Sie im heute real existierenden Christentum überhaupt Potential zu einem positiven Beitrag zu einer erotischen Kultur?

Grundsätzlich kann auch die christliche Religion Sexualität und Erotik positiv bewerten – siehe das Hohe Lied der Liebe in der Bibel. Heute folgen die meisten Laienchristen nicht mehr den Lehren der Kleriker, sie haben längst eine erotische Kultur entfaltet.
 

Tut es der Erotik grundsätzlich gut, wenn sie religiös aufgeladen wird? Ist das nicht eine höchst irdische Sache zwischen Menschen?

Sie ist nicht notwendig, aber durchaus möglich, wie uns andere Kulturen (Indien, China, Japan) zeigen. Denn der Bezug auf Göttliches und Heiliges kann zur Vertiefung des erotischen Erlebens beitragen. Hier drückt Religion einfach Dankbarkeit für die Wunder des Lebens aus.
 

Sie gehen in Ihrem Beitrag auch auf zahlreiche Entwicklungen ein, die bestenfalls am Rande mit Religion zu tun haben. Würden Sie eine Prognose wagen, wie sich die erotische Kultur in Europa in den nächsten Jahrzehnten tendenziell entwickeln wird?

Erotische Kultur ist heute in vielen Partnerbeziehungen und in Meditationsgruppen sehr lebendig (Tantra, Yoga, Shakti, Bhakti, Dao). Die meisten Zeitgenossen suchen heute nach guten und gelingenden erotischen Beziehungen. Deswegen dürfte eine sensible erotische Lebenskultur in Europa und Amerika weiter zunehmen.
 

Die Fragen stellte Martin Bauer.
 


Anton Grabner-Haider / Franz M. Wuketits: Erotik und Religion. Aschaffenburg 2015, Alibri. 165 Seiten, kartoniert, 14,00 Euro, ISBN 978–3–86569–185–9

Das Buch ist auch bei unserem Partner denkladen erhältlich.