Deutschland Deine Kinder (8)

(hpd) Manfred Kappeler hat mit seinem neuen Buch „Anvertraut und ausgeliefert. Sexuelle Gewalt in pädagogischen Einrichtungen“, das im Februar 2011 im Berliner Nicolai Verlag erschienen ist, einen der in der aktuellen Debatte wichtigsten Beiträge zur Aufklärung und Prävention von sexueller Gewalt in Heimen und Internaten veröffentlicht.

Das Buch ist im essayistischen Stil verfasst und erörtert wesentliche Fragestellungen: Welche innere Haltung und Integrität sind von Seiten der MitarbeiterInnen und welche Organisationsstruktur ist notwendig, um den anvertrauten Kindern gerecht zu werden? Heime sind oft die letzte Möglichkeit, Kinder vor ihren erziehungsunfähigen Eltern zu schützen und ihnen einen sicheren und entwicklungsfördernden Lebensraum zu ermöglichen. In der Vergangenheit waren die Einweisungsgründe jedoch häufig von Willkür und Machtmissbrauch von Seiten der Jugendämter und Heime geprägt: die Elternrechte und Menschenrechte der Kinder wurden in den Heimen mit Füßen getreten. Eliteinternate hingegen dienen häufig einer doppelten Funktion: ehrgeizige Karrierepläne der (meist wohlhabenden) Eltern an eine Institution zu delegieren und gleichzeitig Erziehungsprobleme ohne Gesichtsverlust zu kompensieren. Mit welcher bewussten oder unbewussten Motivation vertrauen Eltern ihre Kinder der Heimerziehung oder Internaten an - seien es christliche Klosterinternate oder Eliteschulen der Reformpädagogik?

Den Anstoß für dieses lesenswerte Werk gab der Verlag selbst. Der Verleger des in der Tradition der Aufklärung stehenden Berliner Nicolai-Verlages ging, angeregt durch die öffentliche Diskussion um sexuelle Gewalt in der so genannten „stationären Jugendhilfe“ von sich aus auf den emeritierten Professor für Sozialpädagogik zu. Dieser war in den 1960er und 1970er Jahren selbst Sozialarbeiter und Heimleiter und war maßgeblich an der Verbesserung der damals unhaltbaren Zustände in den Heimen beteiligt. Später wurde er Professor an der TU Berlin.

So tritt die Fachdiskussion um die geeignete pädagogische Haltung und Organisationsstruktur aus der Ebene der Fachverlage heraus an eine allgemeine Leserschaft. Das Buch richtet sich nicht nur an Fachkräfte der Sozialen Arbeit, sondern auch an Eltern, erwachsene Betroffene sexueller Gewalt und die interessierte Öffentlichkeit. Dies ist zu begrüßen und ein notwendiger Schritt in die öffentliche Diskussion um Erziehung und Kinderrechte als Menschenrechte. Zur Demokratie gehören Öffentlichkeit, Transparenz, Diskussionsbereitschaft, Meinungsfreiheit, Mitbestimmung und die Einhaltung der Menschenrechte. Diese demokratischen Tugenden in die Diskussion um das öffentliche Erziehungswesen und die stationäre Jugendhilfe mit Deutlichkeit einzubringen und einzufordern, ist ein Anliegen dieses engagiert geschriebenen Buches.

Zum Inhalt:

Einleitung: Worte müssen gewogen werden: Warum der Begriff „sexueller Missbrauch“ nicht im Titel dieses Buches erscheint

Manfred Kappeler ist sprachbewusst. Und dies mit gutem Grund, denn die Wirkungsmacht von Worten ist groß. „Missbrauch“ setze „Gebrauch“ sprachlogisch voraus und vermittle, dass es einen „sexuellen Gebrauch“ von Kindern geben könnte. Er fordert insbesondere von Fachkräften einen „reflexiven, kritischen und selbstkritischen Umgang“ mit Sprache in Wort und Schrift als professionelle Haltung. Er kritisiert die Bundesregierung, die den „Terminus sexueller Missbrauch“ zu einem „innenpolitischen Hauptbegriff“ gemacht habe und fordert von Sozialarbeitern eine konsequente Auseinandersetzung mit dem Sprachgebrauch in der eigenen Arbeit und auch in der Auseinandersetzung mit Institutionen, ReligionsvertreterInnen und PolitikerInnen. Auch den Begriff „Aufarbeitung“ nimmt er kritisch unter die Lupe. Denn dies verrate, er zitiert Adorno, eine „Schlussstrichmentalität“. Manfred Kappeler geht es in seinem Text um Aufklärung.

 

Erster Teil mit Unterkapiteln:

Sexualität – sexuelle Gewalt – sexuelle Selbstbestimmung

In diesem ersten Kapitel wird der Kampf um die Definitionsmacht der verschiedenen Disziplinen Sexualwissenschaften, Psychiatrie, Theologie, politische Ideologien (z.B. nationalsozialistische Rassenideologien), Bevölkerungswissenschaften und Kulturanthropologie mit ihren jeweiligen Einflüssen auf das Gesundheitswesen, die Pädagogik, Justiz und Politik thematisiert. Es werden die Konkurrenzen der Disziplinen und der sozialen Bewegungen (z.B. die Frauenbewegung, die Studentenbewegung) und der Kampf um die Deutungshoheit analysiert und vor diesem Hintergrund der Begriff der „sexuellen Selbstbestimmung“ erörtert.

Exkurs: Personelle und institutionelle Verantwortung

Die Vertuschungspraxis von institutionellem Fehlverhalten und die Argumente der Organisationen, je nachdem, ob sie in christlicher, reformpädagogischer oder staatlicher Trägerschaft stünden, variierten jeweils, ebenso wie die Unterdrückungsmethoden gegenüber den Opfern, die sich öffentlich zu dem ihnen widerfahrenen Unrecht äußerten. Differenziert wird zwischen personaler und institutioneller Verantwortung, die nicht „gegeneinander verrechnet“ werden sollte.