Definitionsmerkmale
Was ist eigentlich sexuelle Gewalt? Wird der Begriff eng gefasst und meint nur Penetration oder muss die Definition, was sexuelle Gewalt an Kindern ist, umfassender benannt werden? Kappeler untersucht verschiedene Begriffsklärungsversuche: Nach Wunibald Müller könne z.B. auch von sexueller Gewalt gesprochen werden, wenn die sexuelle Intimsphäre überschritten würde, einschließlich spiritueller Einflussname, er benenne auch Machtstrukturen (darunter können auch sexuelle Befragungen bei der katholischen Beichte gehören). In diesem Unterkapitel werden die Empfehlungen des Deutschen Caritasverbandes, die Änderungen im Deutschen Strafrecht in den letzten Jahrzehnten, die Angriffe des Vatikans auf Homosexuelle, die für die sexuelle Gewalt an Kindern verantwortlich seien und andere Definitionen erörtert.
Sexuelle Gewalt
Die so genannte „schwarze Pädagogik“, der viele Kinder bis in die 70er/80er Jahre ausgesetzt waren, sei wesentlich geprägt von sexueller Gewalt, die im Strafgesetzbuch nicht als solche definiert sei. Dies wird am Beispiel des Untersuchungsberichtes von Ursula Raue, die die sexuelle Gewalt am katholischen Aloisiuskolleg in Bonn untersucht hat, erklärt.
Das Onanie-Verbot
Manfred Kappeler benennt als „eine Motivation sexualisierter Gewalt, die kaum jemals erkannt und berichtet wird“ das Onanie-Verbot und seine Durchsetzung besonders in der christlichen Pädagogik. Aber auch die Medizin und Psychologie seien an der Stigmatisierung der Selbstbefriedigung beteiligt gewesen.
„Kinder der Sünde“ in kirchlichen Heimen
Die Verfolgung und Diskriminierung von nicht-ehelich geborenen Kindern und alleinerziehenden Müttern betraf vor allem Kinder in kirchlichen Erziehungsheimen. Sie wurden als „Kinder der Sünde“, „sexuell Gefährdete“ stigmatisiert und misshandelt. Die christlich-sexualfeindliche Ideologie bringe eine menschenverachtende Zurichtung hervor.
Heime für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen
Die besondere Schutzlosigkeit von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen und die bis heute vielfach noch wirksame Klassifizierung als „minderwertiges Leben“ bedeuteten ein erhöhtes Risiko, Opfer sexueller Gewalt zu werden. Auch die Unterdrückung der Sexualität und Fortpflanzung wird thematisiert.
Zweierlei Maß
Manfred Kappeler weist auf den unterschiedlichen Umgang der Bundesregierung mit den Opfern sexueller Gewalt in der Heimerziehung und in Internaten hin: Die Heimkinder berichteten seit Jahren über massive sexuelle Gewalt. Aber erst, als sich EliteschülerInnen öffentlich zu Wort meldeten und über die an ihnen begangene sexuelle Gewalt berichteten, habe es „den Aufschrei in der Republik“ gegeben. Auch die finanziellen Mittel, die von der Bundesregierung für den „Runden Tisch sexueller Missbrauch“ zur Verfügung gestellt worden seien, überschritten die Mittel des Runden Tisches „Heimerziehung“, deutlich.
Heimkinder – InternatsschülerInnen: Unterschiede und Gemeinsamkeiten
Manfred Kappeler differenziert Unterschiede im Erleben von sexueller Gewalt: Es macht nach seiner Erfahrung einen Unterschied, ob ein Kind in einer Internatsschule Opfer sexueller Gewalt wurde oder in einem Heim. InternatsschülerInnen hätten vor den Übergriffen häufig eine positive Bindung zu ihren erwachsenen Bezugspersonen aufgebaut. Durch den Vertrauensbruch der sexuellen Gewalt sei der Sturz in einen psychischen Abgrund groß. Ohne das erfahrene Leid gegeneinander aufrechnen zu wollen, zeigt Kappeler auf, dass die Internatsschulen jedoch umfangreichere Möglichkeiten boten, Ressourcen zu entwickeln. Im Gegensatz zu den InternatsschülerInnen hätten ehemalige Heimkinder keine emotionalen Widersprüche erlebt, denn sie erfuhren gleich mit ihrer Aufnahme ins Heim Gewalt und Entwertung, kaum menschliche Wärme und kaum Bildungschancen. So sei die erlebte sexuelle Gewalt „kein Bruch mit ihren Erfahrungen, sondern trieb sie auf die Spitze“. Diese Art der Gewalt bewirke keine Enttäuschung, denn sie sei keine Täuschung. Sie schlage andere Wunden, denn in diesen Kindern verfestige sich die umfassende Ohnmachtserfahrung, so dass sie die erfahrene Zuschreibung, minderwertige Menschen zu sein, verinnerlichten. So entwickelten sich die Lebensläufe der Internatsschüler und der Heimkinder auch verschieden. Die Eliteschulen boten Kompensationsmöglichkeiten und gesellschaftlich anerkannte Karrieren, im Unterschied zur Heimerziehung. In der Folge seien auch die Chancen auf und der Zugang zu Psychotherapie größer. Ehemaligen Heimkindern sei es erschwert, den Kreislauf von Gewalt, Schuld und Selbsthass zu durchbrechen.