(Abb. Junker & Hoßfeld 2009) Und so kann man zusammenfassend sagen, dass die Eugenik (in Deutschland sprach man auch von ‚Rassenhygiene‘) aus der Evolutionstheorie und der Genetik entstanden ist und den Versuch darstellt, die evolutionäre Zukunft der Menschheit (oder einzelner Populationen) zu kontrollieren. Die Vertreter der Eugenik verband eine wissenschafts- und technologiefreundliche Grundüberzeugung, die sich auch auf die menschliche Fortpflanzung erstreckte. Die Frontstellung pro und contra Eugenik verlief also in erster Linie entlang der Einstellung zum technischen Modernismus und nicht nach einem politischen Rechts-links-Schema.
An den Konzepten der Eugenik wurde von Anfang an Kritik geübt. In Deutschland bestritt z.B. der Biologe Oscar Hertwig (1918) die Durchführbarkeit der eugenischen Ideen, da der dafür benötigte „Züchtungsstaat“ aus verschiedenen Gründen nicht realisierbar sei: Gesetze zur Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts und der Eheschließung würden am Widerstand der Betroffenen scheitern; zudem könne die Verantwortung für die Folgen der eugenischen Programme wegen der mangelnden Kenntnis der biologischen Grundlagen nicht übernommen werden.
In den 1970er Jahren kam es dann zu einer Abwendung von der Eugenik. Ein wichtiger Grund war die Verbindung zwischen Eugenik und Rassismus im Dritten Reich sowie Zwangssterilisationen in Ländern wie den USA, Deutschland und Schweden. Zu nennen ist auch die wissenschaftliche Weiterentwicklung von Genetik und Evolutionstheorie. So wurde der weitreichende genetische Determinismus kaum mehr vertreten und man betonte eher den Einfluss der Umwelt. Auch sind die übertriebenen Versprechungen bzw. Untergangsszenarien der Eugeniker wenig plausibel, wenn man bedenkt, dass es sich bei der Evolution um einen generationenübergreifenden und damit sehr langsamen Prozess handelt. Anderseits ist unbestritten, dass die erblichen Eigenschaften des Menschen wie bei jeder biologischen Art durch Selektion, Mutation und andere Evolutionsfaktoren verändert werden. Dies gilt auch für kognitive Fähigkeiten und Verhaltensmerkmale.
Einige eugenische Maßnahmen (Zwangssterilisation, Internierung) werden heute weithin abgelehnt. Andere, wie medizinisch indizierter Schwangerschaftsabbruch sind in vielen Ländern akzeptiert, und Maßnahmen zum Strahlenschutz sind sogar vorgeschrieben.
Die Verbindung von Eugenik und Rassismus ist – speziell in seiner antisemitischen Variante – ein historischer Sonderfall. Inhaltlich sind beide Konzepte nur unter bestimmten Voraussetzungen zu vereinbaren, etwa wenn man annimmt, dass einige menschliche Populationen (‚Rassen‘) schlechtere Gene aufweisen als andere. Es wurde auch behauptet, dass die Vermischung von Populationen als solche ungünstig sei. Beide Ansichten waren jedoch nicht allgemeines Gedankengut der Eugeniker. Wichtige Vertreter stellten vielmehr Individuen und ihre erblichen Eigenschaften in den Vordergrund; soziale Klassen oder geographische Varietäten (Rassen) waren, wenn überhaupt, nur insofern von Interesse, als man in den jeweiligen Populationen einen höheren oder niedrigeren Anteil an erwünschten Genotypen vermutete.
2) Menschenrassen
„Der Mensch, der die Rassengesetze verkennt und mißachtet, […] verhindert den Siegeszug der besten Rasse und damit aber auch die Vorbedingung zu allem menschlichen Fortschritt.“ (Hitler 1925-27: 317)
Ein zentraler Bestandteil von Hitlers Weltbild ist die Vorstellung, dass es beim Menschen scharf geschiedene Rassen gibt, die sich in ihren körperlichen und vor allem geistigen Eigenschaften unterscheiden und dass Fortschritte nur zu erwarten sind, wenn sich die überlegene Rasse durchsetzt und Rassenmischungen verhindert werden. All dies klingt biologisch und gibt sich einen wissenschaftlichen Anschein. Ist dieser Anspruch gerechtfertigt?
Der Begriff ‘Rasse’ wird bis heute in der Biologie verwendet. Er kommt nicht aus der Genetik, wie oft angenommen wird, sondern aus der Systematik und Tiergeographie. Eingang in die Biologie fand das Konzept bereits mehr als ein Jahrhundert vor Darwin bei dem schwedischen Naturforscher Carl Linnaeus, der im Jahr 1735 beim Menschen vier geographische Varietäten – Americanus, Europaeus, Asiaticus, Afer (Africanus) – unterschieden hatte. Bei Linnaeus und seinen Nachfolgern (J. F. Blumenbach, I. Kant u.a.) werden die Varietäten überwiegend wertfrei beschrieben. Es gab aber bereits im 18. Jahrhundert Autoren, die den so bestimmten Varietäten der Menschheit (den ‚Rassen‘) unterschiedliche Fähigkeiten zusprachen.
Die Unterteilung der Menschen in fünf geographische Varietäten
(Kaukasier, Mongolen, Amerikaner, Äthiopier, Malaien) durch
Johann Friedrich Blumenbach (1798) wurde im 19. Jahrhundert
weithin übernommen (Abb. Greßler 1853). Im 19. Jahrhundert begann man die ursprüngliche Einteilung in vier oder fünf Menschenrassen weiter auszudifferenzieren und auch kleinere Bevölkerungsgruppen als ‚Rassen‘ zu bezeichnen. So unterteilte der bedeutende Evolutionsbiologe Ernst Haeckel die Kaukasische Rasse (‚Mittelländer‘) in zwei Schwestergruppen, den hamosemitischen Zweig mit Arabern und Juden sowie den indogermanischen Zweig mit Ariern (Indern und Iranern), Slawen und Germanen. Allgemein werden die Kaukasier (d.h. Araber, Juden, Inder und Germanen) von ihm als die „höchstentwickelte und vollkommenste“ Rasse bezeichnet, die „allein jene Blüte der Kultur entwickelt [hat], welchen den Menschen über die ganze Natur zu erheben scheint“ (Haeckel 1911: 750).
Abb. Stammbaum der Menschenrassen nach
Ernst Haeckel (1911) Mittlerweile wird in der Biologie bei Menschen kaum mehr von Rassen gesprochen. Da der Begriff ‘Rasse’ für mehr als zwei Jahrhunderte eine große politische Rolle spielte und als Rechtfertigung für Diskriminierungen, Kolonialisierung und Völkermorde diente, wurde es zunehmend schwieriger, seine neutrale wissenschaftliche Bedeutung aufrechtzuerhalten. Aus diesem Grund bevorzugt man heute Begriffe wie ‘Unterart’ oder ‘Population’. Aus der Tatsache, dass man in der Biologie in Bezug auf Menschen nicht mehr von Rassen spricht, wird nun häufig geschlossen, dass es auch keine Menschenrassen gibt. In der Zoologie ist aber weiterhin völlig selbstverständlich von geographischen, ökologischen oder Haustier-Rassen die Rede. Ist nur die Sprachregelung inkonsistent und verwirrend oder ist es tatsächlich so, dass es bei Kohlmeisen, Pferden oder Hunden Rassen gibt, bei Menschen aber nicht?
Da getrennte Arten entstehen, wenn eine zunächst einheitliche Population unterschiedliche Räume besiedelt und sich dadurch genetisch auseinanderentwickelt, gibt es eine Vielzahl von Übergängen von vergleichsweise homogenen Populationen über beginnende Arten bis hin zu echten Arten. Wenn sich diese Populationen relativ deutlich voneinander abgrenzen lassen, dann spricht man von Rassen. Insofern ist die Rassenbildung eine Vorstufe zur Artentstehung und ein grundlegendes und überall vorkommendes biologisches Phänomen. Die Entstehung dieser Unterschiede zwischen Populationen ist ein kontinuierlicher Vorgang, der leicht rückgängig zu machen ist. Dies erklärt, warum es keine klar abgrenzbaren Bestimmungen gibt.
Die Frage ist also, ob bei Menschen durch natürliche oder künstliche (kulturelle) Grenzen Populationen entstanden, die sich genügend eindeutig identifizieren lassen? Dass dies der Fall ist, lässt sich bei jeder Fernreise nach Asien oder Afrika beobachten. Menschen sind auch in dieser Hinsicht keine Ausnahme und der Wunsch, Rassendiskriminierung dadurch aus der Welt schaffen zu wollen, dass man die Existenz genetisch unterschiedlicher Populationen leugnet, mag gut gemeint sein, aber da er auf der Verleugnung offensichtlicher Realitäten beruht, ist er letztlich kontraproduktiv. Was lässt sich aus Sicht der Biologie noch zu dieser Frage bemerken?
Zunächst sollte man beachten, dass einzelne äußere Merkmale wie die Hautfarbe trügerisch sein können. So ist Afrika als Ursprung der Menschheit der genetisch heterogenste Kontinent mit einer Vielzahl deutlich unterschiedener Populationen. Bis heute lässt sich zudem nicht eindeutig beantworten, ob es neben den äußeren Unterschieden in Körperbau oder Hautfarbe auch nennenswerte populationsspezifische Abweichungen in Charakter oder Intelligenz gibt. Da bei geistigen Merkmalen die Unterschiede zwischen den Individuen einer Population sehr viel größer sind als zwischen den Populationen, ist es aber nicht nur fair, sondern auch sachlich geboten, die Fähigkeiten einer Person nicht aus seiner Herkunft ableiten zu wollen, sondern diese individuell zu würdigen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Begriff ‚Rasse‘ in der Biologie bis heute gebräuchlich ist. Er steht für die durch lokale Abweichungen der Umwelt bedingten, nahe verwandten Populationen einer Art, zwischen denen eher geringfügige genetische Unterschiede bestehen. Der biologische Begriff der Rasse ist also gerade nicht wertend. Wie jeder andere beobachtbare Unterschied kann er dann sekundär diskriminierend verwendet werden. Wenn ein Autor schreibt, dass es Populationen (‚Rassen‘) beim Menschen gibt, dann muss dies ebenso so wenig mit Rassismus zu tun haben, wie aus der Tatsache, dass Frauen und Männer gibt, notwendigerweise Sexismus und die Diskriminierung eines Geschlechts folgt.
Thomas Junker
* Alle fremdsprachigen Zitate wurden vom Autor übersetzt.
Nächste Woche in Teil 2 von 2: Rassenmischungen, Menschenzüchtung, Judenfeindschaft, Der Kampf ums Dasein und: Was kann man aus der Geschichte lernen?
(1) Ohne Gott ist alles erlaubt? (29. Juni 2011)
(2) Ohne Gott ist alles erlaubt? - Atheistische "Helden" (5. August 2011)
(3) Wer behauptet, Atheisten = Mörder? (12. August 2011)
Weiterführende Literatur
Thomas Junker & Sabine Paul. Der Darwin-Code: Die Evolution erklärt unser Leben. 3. Aufl. Beck‘sche Reihe, 1966. München: C. H. Beck Verlag, 2010.
Thomas Junker. Die 101 wichtigsten Fragen: Evolution. Beck‘sche Reihe, 7033. München: C. H. Beck, 2011.
Zitierte Literatur
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