ATHEN/BERLIN. (hpd/bpb) Seit mehr als drei Jahren durchleben die Griechen, vor allem in Athen, den Zusammenbruch alltäglicher Routinen und die Entfremdung von dem, was einst das "normale Leben" ausmachte. Allein die Arbeitslosigkeit stieg zwischen 2008 und 2013 von 7 Prozent auf 27 Prozent. Unter jungen Frauen beträgt sie 50 Prozent, unter Männern 23 Prozent.
Die Krise hat viele Gesichter
Wie sich die Krise auf griechischen Straßen anfühlt? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage wäre zwangsläufig vermessen. Extreme Unterschiede existieren zwischen der Hauptstadt Athen, die allem Anschein nach den Mittel- und auch Tiefpunkt der Krise darstellt, und der griechischen Provinz. Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung Griechenlands lebt im Großraum Athen. Extreme Unterschiede existieren selbst innerhalb dieses Großraums. Im Zentrum von Athen treffen die verschiedenen "Realitäten" in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit aufeinander: Hier gibt es sowohl Gegenden, vor allem Teile der Stadtmitte, wo die "Wunden" der sozialen Not schon beim ersten Blick sichtbar sind, als auch solche, wo der uneingeweihte Spaziergänger keine Spur von Krise, Armut und Not wahrnehmen kann.
Bleibt man beim äußeren Schein, bei dem also, was einem im Sommer 2013 durchs Land reisenden Besucher sichtbar vor Augen tritt, so öffnet sich ein breites Spektrum von Aspekten der Krise. Am finsteren Ende steht mit großer Wahrscheinlichkeit ein Teil der Stadtmitte Athen (grob skizziert als die weitere Umgebung des Omonoia-Platzes); das helle Ende würden wohl die touristischen Regionen des Inselstaates Griechenland ausmachen: Kreta, Mykonos, Santorini usw. In einer Grauzone dazwischen fänden sich zahlreiche Wohngebiete der Stadt Athen und des sie umgebenden Großraums (Piräus und Vororte), daneben ärmere Regionen der Stadt Thessaloniki sowie anderer Großstädte des Landes. Dort wird man zwar keineswegs direkter Zeuge von Phänomenen einer grassierenden Armut oder eines Zusammenbruchs, wie man sie aus der sogenannten "Dritten Welt" oder aus Krisengebieten kennt, wo Krieg und Gewalt herrschen. Es handelt sich eher um ein depressives Bild des allgemeinen Niedergangs und der Verlassenheit, das an die Länder in der Endphase des ehemaligen Ostblocks erinnert.
Verzerrte Wahrnehmungen
Einen weiteren, für den ausländischen Besucher weniger zugänglichen, Aspekt stellt der Krisendiskurs dar, wie ihn die Medien in Griechenland maßgeblich bestimmen. Dass Medien zur Übertreibung neigen, ist bekannt, in Griechenland ist ihre Hysterie aus einer Reihe von speziellen Gründen allerdings ganz außerordentlich hoch entwickelt. Erstens verzichtet der öffentliche politische Diskurs im Lande in der Regel weitgehend auf die Verwendung von Tatsachen, Daten oder Zahlen. Es herrscht die Meinungsmache vor, steile Thesen ohne Fakten. Zweitens gibt es aus kulturpolitischen und gesellschaftlichen Gründen – ich spreche von der unseligen populistischen Tradition in der griechischen Politik der letzten Jahrzehnte – eine gewisse Neigung zu lauten und dramatischen Tönen. Drittens entziehen sich die Medien weitgehend jeglicher Kontrolle und funktionieren praktisch ohne alle Regeln einer journalistischen Ethik oder Verantwortung. Diese Situation führte in den Jahren der Krise zu einer Zuspitzung der Spannungen, des Populismus, ja auch des Fanatismus; diese Phänomene werfen besonders schwere Schatten auch auf die deutsch-griechischen Beziehungen. "Die Deutschen" (oft generell als "Faschisten" oder "Nazis" bezeichnet) werden immer wieder als Anstifter und Urheber der Katastrophe dargestellt, von denen sich Griechenland regelrecht "heimgesucht" fühlt.
Was entspricht nun in der Wirklichkeit, was nicht? Wie groß ist die Not, in der Teile der Gesellschaft leben? Gibt es tatsächlich Menschen, die verhungern? Ist der Staat zusammengebrochen? – Gemeinsam ist all diesen berechtigten Zweifeln nur eins: die Verwirrung. Eine Desorientierung, die aber weniger auf den Straßen herrscht, als vielmehr in den Köpfen und in den Herzen der Bevölkerung. Dazu gesellen sich vielleicht noch weitere Zwischentöne, etwa Perspektivlosigkeit, Desorientierung, Depression, Nervosität, Spannung – erste Ansätze einer Psychopathologie der Krise.
Alltagszenen in Athen
Seit mehr als drei Jahren durchleben die Griechen, vor allem in Athen, den Zusammenbruch alltäglicher Routinen und die Entfremdung von dem, was einst das "normale Leben" ausmachte. Arbeitsplätze werden abgeschafft, die Arbeitslosigkeit steigt auf ein Rekordhoch nach dem anderen. Alle paar Monate kommt es im Laufe von Demonstrationen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die einst blühenden Einkaufsstraßen im Zentrum von Athen wirken zu einem großen Teil trostlos und verlassen. Ausgebrannte Gebäude können nicht renoviert werden und bieten einen gespenstischen Anblick. Zahlreiche Geschäfte stehen leer: an der Stelle von bunten Fassaden sieht man dreckige, mit Graffiti beschmierte, verlassene Gitter. Passagen, die bis vor einem oder zwei Jahren voller teurer Geschäfte und Cafés und des entsprechenden lebendigen Treibens waren, sind verwaist und leer. An den Ecken stinkt es nach Urin. Obdachlose und Drogensüchtige finden Unterschlupf in den Eingängen von einst gut besuchten Läden und Lokalen, die verschwunden sind; eine Szenerie der Härte, der Hoffnungslosigkeit, der Unbehaustheit. Immer mehr Menschen auch griechischer Abstammung, darunter Kinder und Jugendliche im Schulalter, betteln in der Stadtmitte, vor den klassizistischen Gebäuden, die einst den Stolz und den Optimismus des neuen griechischen Staates zum Ausdruck bringen sollten. Die touristische Fußgängerzone, die zur Akropolis hinauf führt, dient Bettelkindern als Arbeitsplatz: man sieht sie in regelmäßigen Abständen und der einheitlichen Kleidung einer "Bettler-Folklore" auf der Straße sitzen – offenbar handelt es sich hier um ein gut organisiertes Geschäft, das anscheinend von niemandem als Dorn im Auge der westlichen Kultur empfunden oder gar bekämpft wird.