Über Würde, Verrohung und den Verlust des Politischen

Wenn Arbeit zur Schuld wird

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Man muss sich derzeit nur ein paar Tage lang durch politische Reden, Talkshows und Meinungsbeiträge kämpfen, um das neue Leitmotiv deutscher Krisenrhetorik zu erkennen: Die Bevölkerung – oder jedenfalls große Teile davon – sei zu bequem geworden.

Schon der Altkanzler gab sich vage und forderte "mehr Bock auf Arbeit". CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann wird deutlicher und warnt vor dem "Mentalitätsproblem der Deutschen". Und Friedrich Merz, inzwischen Bundeskanzler, legt nach: Zu viele Menschen hätten sich offenbar "vom Arbeitsleben verabschiedet".

Was hier als Debatte über den Arbeitsmarkt und die Ursachen der wirtschaftlichen Schwäche inszeniert wird, ist längst eine moralische Aufladung – ein sozialpolitisches Ressentiment, das ganze Gesellschaftsgruppen stigmatisiert: Rentner, Erwerbslose, Geringverdiener, Kranke, Behinderte. Unterstützt wird dieses Framing nicht nur von der politischen Rechten, sondern auch von liberal-konservativen Ökonomen, die den Produktivitätsbegriff moralisch aufladen. Und dass sich die Sozialdemokratie glaubwürdig davon distanziert, kann man beim besten Willen nicht erkennen.

Hier geht es nicht um Arbeitsmarktreformen. Es geht um ein Deutungsmuster, das Arbeit nicht mehr als Teilhabe, Würde oder Selbstverwirklichung begreift, sondern als Bringschuld. Wer sie nicht mehr leisten kann – oder nicht mehr leisten will –, wird moralisch abgewertet.

Dass hunderttausende krankheitsbedingt aus dem Erwerbsleben gedrängt werden, dass Pflege- und Sorgearbeit systematisch entwertet und unsichtbar gemacht wird, dass Menschen durch strukturelle Bedingungen in Unsicherheit gehalten werden – all das bleibt in dieser Debatte ausgeblendet.

Von der Würde zur Verwertung

Noch vor wenigen Jahrzehnten war Arbeit mehr als nur Erwerbstätigkeit. Sie galt als identitätsstiftend, als Brücke zwischen individueller Lebensführung und gesellschaftlichem Zusammenhalt. Das war mehr als sozialpolitisches Wunschdenken – es war Bestandteil des Sozialstaatsversprechens, das das Grundgesetz in Artikel 1 und 20 garantiert.

Heute hat sich der Ton geändert. Arbeit ist zur ökonomischen Kenngröße geworden, deren Wert sich an Kosten, Output und Einsparpotenzial bemisst. Wo einst Respekt war, ist heute Rechtfertigungsdruck. Wer nicht mehr den Anforderungen genügt, gilt zwar formal als "geschützt", aber faktisch als jemand, der den gesamtgesellschaftlichen Respekt nicht mehr verdient.

Von Respekt zu Vorwurf

Was lange als Randdenken galt, ist im politischen und medialen Mainstream angekommen: Die Vorstellung, dass der Wert eines Menschen mit seiner Verwertbarkeit steht und fällt. Wer aus der Erwerbsarbeit ausscheidet, wird nicht in Kategorien der Hilfe, sondern der "Belastung" gedacht. Soziale Sicherheit wird zur Gnade, nicht mehr zum Recht.

Das war nicht immer so. In der frühen Bundesrepublik war Arbeit ein Grund für Anerkennung – unabhängig von Status oder Einkommen. Ich erinnere mich an meinen Vater, der als Werkstattmeister auf der Zeche Zollverein arbeitete. Sein Beruf war kein Makel, sondern Teil einer Biografie, auf die man stolz sein konnte. Erst später, in der gymnasialen Welt der Bildungsbürger, wurde mir klar, dass diese Haltung im Schwinden begriffen war.

Der enttäuschte Fortschrittsglaube

Wer – wie ich – in den 1970er Jahren politisch sozialisiert wurde, wuchs in einem Klima auf, das von der Hoffnung auf mehr soziale Gerechtigkeit getragen war. Auch Konservative waren damals keine Gegner im heutigen Sinne, sondern Mitstreiter in einem gemeinsamen demokratischen Projekt.

Dass diese Ära endete, war kein Zufall. Es war Ergebnis einer Politik, die mit der Agenda 2010 und einer radikalen Marktorientierung das gesellschaftliche Klima veränderte. Staatliche Fürsorge wurde zur "Holschuld", Solidarität zur "Eigenverantwortung". Viele der damaligen Reformen sind nie rückgängig gemacht worden. Und das Unbehagen darüber wächst – bei mir schon lange, bei anderen vielleicht erst jetzt.

Die Verwaltung als Seismograph

Fast fünf Jahrzehnte habe ich im öffentlichen Dienst gearbeitet, viele davon in der internen Revision. Ich habe erlebt, wie aus einer auf Gemeinwohl und Gerechtigkeit verpflichteten Institution eine betriebswirtschaftlich getrimmte "Kundenverwaltung" wurde. Zielvereinbarungen, Meilensteine, Kennzahlen – aber kaum noch ein Bewusstsein für den Menschen als Träger von Rechten.

Ich habe beobachtet, wie Verwaltung sich immer mehr in ihre eigene Simulation verwandelte. Das hatte Folgen – nicht nur für die Menschen, sondern auch für die politische Kultur: Verantwortung wich Technokratie, Gerechtigkeit wurde zur Restgröße.

Die unsichtbare Tragödie: ME/CFS und verlorene Biografien

Ein besonders drastisches Beispiel ist der Umgang mit chronisch Kranken wie ME/CFS-Betroffenen1. Hunderttausende Menschen, oft im produktiven Alter, werden durch diese Erkrankung dauerhaft aus dem Arbeitsleben gerissen – und vom System behandelt, als seien sie temporär aus dem Tritt geraten. Die Folgen: Frühverarmung, Isolation, Perspektivlosigkeit.

Diese Menschen fallen nicht durch das Netz. Sie werden systematisch an seinem Rand gehalten – als ließe sich ihre Existenz wegdefinieren, weil sie nicht ins Raster passt. Auch das ist ein Symptom der Verwertungslogik: Wer nichts bringt, zählt nicht.

Die stille Erosion: Wenn Politik sich von ihren Grundlagen entfernt

Es liegt auf der Hand, dass eine solche Politik das Vertrauen zerstört. Sie öffnet nicht nur soziale Gräben, sondern treibt Menschen in die Arme derer, die sich als "Alternative" inszenieren. Wer glaubt, mit einem solchen Kurs könne man die AfD "halbieren", irrt auf fatale Weise. Die Abwertung der Schwächeren ist ihr Geschäftsmodell – man bekämpft sie nicht, indem man ihr Weltbild übernimmt.

Besonders bitter ist: Gute und dringend nötige Ansätze der Ampel-Koalition – etwa bei Bürgergeld, Teilhabe oder Inklusion – sind ausgerechnet durch das eigene betriebswirtschaftlich verengte Politikverständnis zerstört oder kompromittiert worden. Auch das erklärt mein wachsendes Unbehagen – und mein zunehmendes Bedürfnis, diesen Themen eine Stimme zu geben.

Zwischen Verrohung und Verfassung

Was geschieht mit einer Gesellschaft, in der das Gefühl wächst, nur noch als Kostenfaktor behandelt zu werden? In der der Sozialstaat nicht mehr als Grundrecht erscheint, sondern als Kulanzleistung? In der Menschen sich fragen, ob diese Republik eigentlich noch ihnen gehört?

Wilhelm Heitmeyers Diagnose der "Durchrohung" ist deshalb mehr als ein Befund. Sie ist ein Warnruf. Wer Menschen systematisch das Gefühl gibt, nicht mehr zu zählen, riskiert nicht nur soziale Spaltung – sondern die innere Erosion der Demokratie.

Das Grundgesetz schützt keine bestimmte Wirtschaftsform. Aber es schützt sehr wohl die Menschenwürde – und die Verpflichtung des Staates auf soziale Gerechtigkeit. Politik, die diesen Rahmen ignoriert, stellt sich nicht nur gegen den Anstand, sondern auch gegen die Verfassung.

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1 Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS)