Athener Straßenbilder

Soziale Realität in Griechenland heute

Bröckelnde Stadtbilder

Aber weit schlimmer noch ist das Bild, das ausgerechnet jene Gegenden bieten, die in der Zeit unmittelbar vor der Krise einen kurzlebigen Aufschwung erlebten. Dies betrifft vor allem den Teil der Stadtmitte, der sich zwischen dem Omonoiaplatz und dem Hauptbahnhof befindet. Diese – ursprünglich berüchtigte – Bahnhofsgegend entwickelte sich während der Boom-Jahre im Vorlauf zu den Olympischen Spielen besonders rasch: Hotels wurden restauriert, Galerien siedelten sich an. Ein Teil der Kunst- und der Jugendszene schickte sich an, der Gegend zu glanzvollem neuen Leben zu verhelfen. Nur eine schmale Zone um die U-Bahn-Station Kerameikos und den Ausstellungscampus "Gazi" hat die Krisenwelle überlebt. Hotels und andere Betriebe erwiesen sich dagegen als nicht überlebensfähig; Millionen-Investitionen in Gebäude scheiterten kläglich, der Stadtteil verfiel rasch. Viele sprechen heute von einem echten Ghetto, wo Prostitution, Kriminalität und Gewalt das Stadtbild beherrschen.

Die Altmetallsammler

Eine weitere Szenerie des Elends ist sogar in jenen "besseren" Gegenden zu beobachten, welche die Stadtmitte umgeben und wo zum Teil auch der Athener Mittelstand ansässig ist: Männer in erbärmlicher Kleidung wühlen mit einem Haken in der Hand in den Mülltonnen nach Metallstücken oder schieben allein oder zu zweit Einkaufswagen voller Metallfragmente und Kabel vor sich her – die Altmetallsammler. In der Presse liest man von unkontrollierten Schmelzereien im westlichen Teil der Stadt, von Konkurrenz zwischen den neuen Sammlern und den Roma, die dieses Geschäft ursprünglich in der Hand hatten. Gestohlen wird anscheinend mehr oder weniger alles, was als Metall verwertet werden kann: Kabel von öffentlichen Einrichtungen, Teile von Brücken, Gitter, die die Abwasserkanäle von Straßenseite bedecken.

Außerdem stehen hunderte, vielleicht gar tausende von Wohnungen leer. Im Winter wird immer weniger geheizt, und es ist kein Geheimnis, dass selbst in den Nachbarschaften des Mittelstandes im letzten Winter viele Häuser gar kein Heizöl angekauft haben. Die eigentlich übliche Zentralheizung funktionierte in vielen Fällen überhaupt nicht oder nur selten. Wer sich ein Kaminfeuer leisten konnte, hat sich das Holz auf eigene Faust besorgt. Von einem Zusammenbruch des Gesundheitssystems bzw. des Sozialsystems kann allerdings nicht die Rede sein: die Krankenhäuser funktionieren nach wie vor – auch für Menschen, die nichts bezahlen können. Die Stadt Athen, die Kirche sowie mehrere Organisationen der Zivilgesellschaft bieten regelmäßig Nahrung und in den kalten Nächten auch Schlafmöglichkeit für Obdachlose an. In den Schulen gibt es neuerdings ein Pilotprojekt zur Ernährung von Schülern, nachdem wiederholt die Unterernährung mancher Kinder festgestellt worden war. Hinzu kommt die mittlerweile auch international bekannte Kartoffelbewegung als ein Versuch, armen Leuten – aber auch dem durchschnittlichen Konsumenten – preiswerte Nahrungsmittel anzubieten, indem man einen direkten Austausch zwischen Produzenten und Verbrauchern herstellt und auf preistreibende Zwischenhändler verzichtet. Kann man also angesichts dieser Ansätze neuer sozialer Bewegungen wie z.B. der Kartoffelbewegung von der Stärkung einer bislang eher unterentwickelten griechischen Zivilgesellschaft sprechen?

Überprüfung des Augenscheins

Serie "Athener Straßenszenen“, 2012 (© Panayiotis Lamprou)
Serie "Athener Straßenszenen“, 2012 (© Panayiotis Lamprou)

Die wissenschaftlichen Daten bestätigen mehr oder weniger das Auftreten akuter Armut, allerdings zumeist da, wo auch vor der Krise schon Armut existierte. Wissenschaftliche Erkenntnisse wie die, daß die relative Armut in den bisherigen "Jahren der Krise" nur wenig gestiegen ist, nämlich um 3% (19,4% im Jahre 2009 – 22,3% im Jahre 2013)[1], könnten über die Tatsache hinwegtäuschen, daß es zu einer massiven Ausweitung des Armut-Problems auf den Mittelstand gekommen ist. Dies erklärt wiederum, warum es in Griechenland bisher noch nicht zur Revolte kam. Der Mittelstand sieht sein Einkommen schrumpfen, macht sich klein und wartet ab. Die Armen aber, etwa 20 % der Gesellschaft, befinden sich im freien Fall. Zugleich sind ihre Stimmen kaum hörbar: Nicht sie waren es, die während der großen Demonstrationen 2011–2012 Straßen und Plätze griechischer Großstädte füllten, sie tragen kaum zu jenen organisierten Gruppen der Zivilgesellschaft wie Selbsthilfeorganisationen etc. bei, statt dessen tendieren diese Schichten der Bevölkerung zur extremen Marginalisierung.

Ein kleiner Datencheck zur Problematik Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Hilfe[2]:

  • Die Arbeitslosigkeit stieg zwischen 2008 und 2013 von 7 % auf 27 %. Unter jungen Frauen beträgt sie 50 %, unter Männern 23 %.
  • Die Situation wird erheblich dadurch erschwert, dass 80 % der Arbeitslosen überhaupt keine Sozialhilfe erhalten: das sind ca. 1,1 Millionen Arbeitslose. Dies bedeutet, dass die Arbeitslosigkeit bei diesen Menschen direkt in akute Armut führt.
  • Die relative Armut stieg von insgesamt 20,0 % auf 21,2 % (2009–2012). Das klingt überschaubar. Unter den Arbeitslosen bewegte sich der Prozentsatz der relativen Armut in der gleichen Zeitspanne aber von 32,2 % auf 40,6 %. Kinderarmut stieg ebenfalls von 21,8 % auf 26,6 %.
  • Im Durchschnitt haben die Einkommen in der Zeitspanne 2009–2012 um 28,4 % abgenommen. Das ärmste Zehntel der Bevölkerung des Jahres 2009 verlor bis 2012 durchschnittlich 24,2 % seines Einkommens. Das mag erschreckend genug erscheinen, doch im Laufe des Jahres 2012 stieg dieser Satz auf wahrhaftig schockierende 56,5 %!

Dies führte zur Änderung des demographischen Profils der Armen: Armut betrifft nicht mehr vorwiegend kleine Rentner und Bauern, sondern massenhaft Arbeitslose und ihre Kinder. Diese soziale Realität steht vollkommen im Einklang mit den oben skizzierten Szenen auf den Straßen der Großstadt Athen. Wie aber reagiert die griechische Zivilgesellschaft auf die Krise?

Die griechische Zivilgesellschaft

Obwohl weit entfernt von der Entstehung einer massiven sozialen Bewegung, finden sich doch einige, wenn auch noch schwache, hoffnungsvolle Signale dafür, dass die Krise in Teilen auch eine Mobilisierung der Zivilgesellschaft bewirken könnte.

Die bekannteste Bürgerinitiative in Athen stellt das Netzwerk "Atenistas" dar, das im Jahre 2010 gegründet wurde und auf Facebook über 50.000 "Unterstützer" hat. Das Netzwerk, das sich mittlerweile auch in 11 anderen Städten Griechenlands verbreitete, kümmert sich vor allem um Aktionen, die sich im weiteren Sinne auf das urbane Leben und das Erscheinungsbild der Stadt beziehen – etwa in Form der Reinigung und Verschönerung öffentlicher Räume, oder der Intervention im kulturellen Bereich. Die "Atenistas" entfernen Abfall, verputzen Wände oder organisieren Stadtführungen mit explizit politisch-historischem Bezug (z.B. die Führung an Orte der Altstadt Athens, die so genannte "Plaka"), die für die jüdische Vergangenheit der Stadt relevant sind – Aktionen, die an einem sonnigen Sonntagmorgen immerhin mehrere Hundert Athener mobilisieren können.

Weiterhin gibt es in den neuen sozialen Medien angesiedelte Netzwerke der gegenseitigen Hilfe, wie z.B. den "Ginetai Workshop" – und auch die bereits erwähnte "Kartoffelbewegung", die allerdings in der Stadt Katerini im Norden Griechenlands entstanden ist und in Athen wenig Verbreitung gefunden hat. Die Dichte kommunaler wie kommerzieller Netzwerke zur Verteilung von Nahrung, Kleidung und medizinischer Hilfe nimmt zu, immer mehr wirken sie in die Breite, darunter die sog. sozialen Lebensmittelläden, Arztpraxen auf freiwilliger Basis, kostenlos angebotene Unterrichtshilfen oder lokale bargeldlose Wirtschaftsmodelle, die auf der Basis des Austauschs von Dienstleistungen funktionieren. Gleichzeitig wachsen allerdings auch rassistische Hilfsnetzwerke, deren Leistungen explizit nur für Griechen angeboten werden (Nahrungsmittel, lokale Sicherheit).

Herausforderungen hier und jetzt

Bei der Bewertung der "Widerstandskräfte" der griechischen Zivilgesellschaft gegenüber der Krise muss abschließend berücksichtigt werden, dass

  1. der Ausgangspunkt eine schon vor der Krise notorisch schwach ausgebildete Zivilgesellschaft war die staatliche Finanzierung der NGOs im Laufe der letzten Jahre aufgrund der Sparmaßnahmen noch erheblich abgenommen hat
  2. die Reaktionen der Gesellschaft auf die Staatsform der Demokratie zweischneidig, quasi janusköpfig [Sotiropoulos] ist.

Auf der einen Seite steht der bedeutende Aspekt der Bekräftigung der Demokratie durch die massiven Demonstrationen gegen das Memorandum. Gleichzeitig aber wurden der Anti-Parlamentarismus sowie die Anwendung von Gewalt als akzeptierte Formen der politischen Praxis bestärkt. Die atypische, informelle Zivilgesellschaft vor allem im Bereich der sozialen Solidarität wurde gestärkt und vertieft; zugleich aber entstanden neben den lokalen Organisationen der Neonazi-Partei "Chryssi Avgi" ("Goldene Morgenröte") noch eine Vielzahl rassistischer Gruppierungen, Hooligans und andere, die der Zivilgesellschaft ausgesprochen feindselig und sogar gewaltbereit gegenüberstehen. Nicht nur den gravierenden sozialen Folgen der Austeritätspolitik, auch den antidemokratischen Kräften gegenüber muss die griechische Zivilgesellschaft heute ihre Widerstandskraft unter Beweis stellen.


Literatur

Maloutas Th., Kandylis, G., Petrou, M., Souliotis, N., Das Zentrum von Athen als politische Frage, Nationales Zentrum für Sozialforschung (EKKE) und Harokopio University (gr.), Athen, 2013

Matsaganis, M., Levendi Chr., Die Anatomie der Armut in Griechenland, Newsletter 6/2013, Wirtschaftsuniversität Athen, Gruppe zur Analyse Öffentlicher Politik, in griechischer Sprache

Matsaganis, M., Dealing with the new social question, Beitrag zu den Seminaren von Ermoupolis 2013, Werkstatt unter dem Titel "Auf der Suche nach dem Gesicht Griechnelands während der Krise und danach", Koordinatoren Yannis Voulgaris, Panteion Universität und Panayis Panayotopoulos, Universität Athen, 13–14 Juli 2013 (nicht veröffentlicht)

Matsaganis, M., The Greek Crisis, Social Impact and Policy Responses, Friedrich Ebert Stiftung,, Study, November 2013, in englischer Sprache

Sotiropoulos, D., Die Zivilgesellschaft in Griechenland der Krise. Positive und negative Aspekte, Beitrag zu den Seminaren von Ermoupolis 2013, Die dort erwähnten Daten werden bald (Frühjahr 2014) in einer Studie im Auftrag der Konrad-Adenauer Stiftung veröffentlicht unter dem Titel "Civil Society in Griechenland in the Wake of the Economic Crisis".

Fußnoten

  1. Die Daten und die einschlägige Analyze findet man in Matsaganis, M., Levendi Chr., "Die Anatomie der Armut in Griechenland", Newsletter 6/2013, Wirtschaftsuniversität Athen, Gruppe zur Analyse Öffentlicher Politik, in griechischer Sprache, v.a. in der Tafel 1, Seite 3. Dort wird die relative Armut mit variablem Limit in der Zeitspanne 2009–2013 kalkuliert und nach Alter, Geschlecht, Beruf, Wohnort etc. präsentiert. Die ganze Studie findet man unter http://www.kritiki.gr/attachments/article/304/05%20NewsLetter.pdf
  2. Zu unten stehenden Daten vgl. Matsaganis u.a., ibid., sowie ausführlich (in englischer Sprache) Matsaganis, M., "The Greek Crisis, Social Impact and Policy Responses", Friedrich Ebert Stiftung,, Study, November 2013, v.a. Tafel auf Seite 13. Grundlage der dort genannten Daten ist EUROMOD (Version F4.00). Die gesamte Studie findet man unter http://library.fes.de/pdf-files/id/10314.pdf

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/de/ Autor: Maria Topali für bpb.de