"Alles ist relativ" – ein Satz, der sich seit Einsteins Zeiten in die Alltagsrhetorik eingeschlichen hat. Er klingt tiefsinnig, ist aber als Allaussage falsch. Denn wenn alles relativ wäre, gäbe es nichts, zu dem etwas relativ sein könnte. Relativität setzt Bezug voraus – und genau dieser Bezug fehlt oft dort, wo er am dringendsten gebraucht wird: in der politischen Kommunikation.
Ob in der Werbung ("Hautverbesserung bei unserer Creme um 54,32 %") oder in der Politik ("25 % Bürokratieabbau", wie es im Modernisierungspapier der jüngsten Regierungsklausur steht): Relativwerte werden gern ins Schaufenster gestellt, ohne dass ihre Grundgrößen genannt werden – so es solche überhaupt gibt. Das erzeugt Wirkung – aber keine Erkenntnis.
Der Bürgergeld-Gap: Mehr Anspruchsberechtigte, weniger Anteil
Ein Beispiel dafür ist die Diskussion um das Bürgergeld, zu dem vorletzte Nacht eine Reform beschlossen wurde. Immer wieder wird auf die "gestiegenen Ausgaben" verwiesen – nominal, also in absoluten Zahlen. Doch wer diese Zahlen ins Verhältnis zum Bundeshaushalt oder auch zum Bruttoinlandsprodukt setzt und einen sinnvollen zeitlichen Bezugsrahmen wählt, erkennt: Der relative Anteil ist gesunken. Inflationsbereinigt und pro Kopf betrachtet, kann man im Zehnjahreszeitraum ab 2015 sogar von einer faktischen Reduzierung sprechen.
Und das Bemerkenswerte: Dieser Rückgang vollzieht sich trotz einer realen Ausweitung der Anspruchsberechtigten. Denn nach 2015 sind hunderttausende ukrainische Geflüchtete hinzugekommen, die — politisch gewollt und gesellschaftlich begrüßt — Zugang zum Bürgergeld erhielten.
Dass sich trotz dieser Ausweitung ein relativer Rückgang im Verhältnis zum Gesamthaushaltsvolumen ergibt, zeigt: Es gibt einen Bürgergeld-Gap – nicht nur als statistische Kuriosität – sondern als haushaltspolitischen Befund.
Es sind also Mittel durch die relative Verringerung des Anteils am Gesamthaushaltsvolumen aus dem Bürgergeldetat "herausgewandert". Wenn es früher, sagen wir, 20 Prozent von 100 Prozent am Gesamtvolumen waren und heute 18 Prozent von 100 Prozent, dann müssen diese "relativen" 2 Prozent, der Gap, entweder verdampft – oder an andere Stellen des Bundeshaushaltes gewandert sein.
Wohin? Die Antwort darauf bleibt aus. Stattdessen wird die nominale Steigerung als Argument für "Belastung" genutzt – und die reale Ausweitung der Anspruchsberechtigten rhetorisch in eine "Überforderung des Sozialstaats" umgedeutet. Das ist nicht nur analytisch fragwürdig, sondern auch politisch erinnerungslos.
Warum der Gap selten benannt wird
Auch in kritischen Diskursen wird der Gap selten explizit artikuliert – obwohl die fiskalische Engführung und die Mythen der "leeren Kassen" durchaus thematisiert werden. Doch die Frage, wohin die Mittel fließen, die aus dem Bürgergeld herauswandern, bleibt offen.
Das liegt nicht an mangelnder Einsicht, sondern an der Komplexität des Problems: Der Gap ist eigentlich keine Zahl, sondern eine Relation. Und Relationen sind schwer zu kommunizieren, besonders in einem politischen Klima, das auf Schlagworte und Empörung setzt.
Doch gerade deshalb ist es wichtig, ihn zu benennen. Denn der Gap zeigt: Nicht alles, was wächst, ist gestärkt. Und nicht alles, was schrumpft, ist gekürzt. Oft ist es die Relation, die entscheidet – und die politische Wahrheit liegt im Verhältnis, nicht im Volumen.
Die Ukraine-Flüchtlingsregelung: Ein Konsens, der vergessen wurde
Besonders deutlich wird diese rhetorische Verschiebung im Umgang mit ukrainischen Geflüchteten. 2022 wurden sie in breitem gesellschaftlichem Konsens aufgenommen – und erhielten Zugang zum Bürgergeld, ohne den Umweg über das Asylbewerberleistungsgesetz. Das war ein Akt der Würde und der pragmatischen Integration, weil damit der Zugang dieses Personenkreises zu den Dienstleistungen der Bundesagentur für Arbeit möglich wurde.
Heute, drei Jahre später, wird dieselbe Regelung als Belastung des Sozialstaats dargestellt. Die neue Regierung spricht von "leeren Kassen" und "Überforderung" – ohne Erinnerung an den Konsens, der diese Entscheidung trug. Die moralische Klarheit von damals wird durch fiskalische Rhetorik ersetzt. Und die Stimmung kippt.
Dabei ist der Zusammenhang offensichtlich: Die Entscheidung, ukrainischen Geflüchteten Bürgergeld zu gewähren, hatte reale haushaltspolitische Auswirkungen. Sie war politisch gewollt, demokratisch legitimiert – und wurde damals als Ausdruck europäischer Solidarität gefeiert. Zudem beförderte diese Entscheidung, wie man heute weiß, nachhaltig die Integration in den Arbeitsmarkt. Dass sie heute als fiskalisches Problem inszeniert wird, zeigt nicht etwa eine neue Realität, sondern eine neue Rhetorik.
Fazit: Relativität braucht Bezug – und Erinnerung
Relativwerte sind nicht per se problematisch. Aber ohne Bezug zur Grundgröße, zur historischen Entwicklung und zur moralischen Ausgangslage werden sie zu Nebelmaschinen. Wer politisch argumentiert, muss Zahlen nicht nur nennen, sondern auch verorten – im Verhältnis, im Verlauf, im politischen, gesellschaftlichen und moralischen Kontext.
Relativität ohne Bezug ist keine Tiefe – sondern Täuschung.







2 Kommentare
Kommentare
Peter Ofenbäck am Permanenter Link
Die andere Seite der Medaille ist das Operieren mit absoluten Zahlen. In der Klimaberichterstattung wird z. B.
Udo Endruscheit am Permanenter Link
Ja, das ist die Variante ohne Prozentzahl ...