Die Vorstellung, Steuersenkungen für Reiche und Deregulierung für Unternehmen würden den Wohlstand aller fördern, ist ein altes Narrativ – und wird erneut zur politischen Leitidee erhoben, als hätte die Geschichte nicht längst gezeigt, dass der Wohlstand der Wenigen nicht automatisch den Vielen zugutekommt. Vier historische Stationen aus der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Vereinigten Staaten zeigen exemplarisch, warum diese Idee in die Mottenkiste gehört: William Jennings Bryan, der Mellonismus, der New Deal – und ein Schuhfabrikant, der mit Menschenwürde wirtschaftlichen Erfolg schuf.
In den 1890er Jahren boomte die US-Wirtschaft – auf Kosten der einfachen Menschen, insbesondere der Migranten in die USA übrigens. Streiks wurden gewaltsam niedergeschlagen, Gewerkschafter kriminalisiert. Die Demokratie selbst drohte zur Fassade zu werden.
Der erste Präsidentschaftskandidat, der sich offen dagegenstellte, war William Jennings Bryan. In seiner berühmten "Cross of Gold"-Rede prangerte er die absolute Dominanz des Kapitals über die Politik an. Er warnte: "America stands at a crossroads" – entweder Reformen für Gerechtigkeit oder die vollständige Unterwerfung unter das Großkapital.
Doch Bryan unterlag. Der von Industriebaronen massiv kampagnengestützte William McKinley versprach schlicht: "Prosperity". Es reichte. Bryans Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit verhallten, die Reichen regierten weiter. Und – besonders perfide – bei wirtschaftlichen Eliten reifte gar die Idee, das allgemeine Wahlrecht einzuschränken, um "irrationale Reformbewegungen" zu stoppen.
Für unsere Unternehmer: "Happy Workers" statt Entlassungswellen
Ein Gegenbeispiel lieferte kurz darauf Henry Endicott, Chef von Endicott-Johnson, dem größten Schuhhersteller New Yorks mit rund 10.000 Angestellten. Als die Kündigungsrate stieg und seine Firma deshalb wirtschaftlich ins Straucheln geriet, entschied er sich – wider alle ökonomische Lehrmeinung – für einen mutigen Schritt: Lohnerhöhungen und Einführung des Achtstundentags.
Das Ergebnis? Die Kündigungsrate fiel auf null. Die Produktivität stieg. Und die Gewinne ebenfalls. Endicott warb fortan stolz mit dem Slogan: "32 million pairs of shoes – made by happy workers."
Die Geschichte belegt: Soziale Reformen sind kein Kostenfaktor, sondern oft der Schlüssel zu Stabilität und Innovation. Und nichts anderes als die Einsicht, dass dem Faktor Arbeit die gleichen Rechte und die gleiche Würde zukommen wie der Kapitalseite – mindestens.
Von Mellon zu Merz – der Irrweg der Trickle-Down-Theorie
Ein abschreckendes Gegenmodell lieferte der berüchtigte US-Finanzminister Andrew Mellon, selbst steinreich und der "Aluminiumkönig" der USA. Von 1921 bis 1932 senkte er, in der Rolle eines Erben der Politik McKinleys, die Steuern der Upper Class systematisch – in der Annahme, dies würde einen wirtschaftlichen Automatismus in Kraft setzen, der nach und nach auch auf die unteren Schichten "durchtröpfeln" würde (Trickle-Down-Effekt). Selbst nach dem dramatischen Börsencrash von 1929 hielt Mellon an seiner Politik fest. Insgesamt senkte er die Spitzensteuersätze für Unternehmen von 73 auf 24 Prozent. Eine Einkommensteuer, die nur von rund 4 Prozent der US-Amerikaner erhoben wurde, betrug gerade einmal 7 Prozent – und war gleichwohl Anlass für die Reichen, nach Steuervermeidungsstrategien zu suchen. Sie fanden diese in der steuerlichen Freistellung philanthropischen Engagements, die sie ohne große Mühe erreichten.
Die Folge: Die Wirtschaft erholte sich nicht. Vier Jahre nach dem Crash stand das Land am Rand der Massenverelendung. Mellons Rezept war nichts als Ideologie.
Wenn Vertreter der aktuellen Bundesregierung erneut Spitzensteuersenkungen und Unternehmensentlastungen propagieren, ignorieren sie nicht nur historische Erfahrungen, sondern auch die ökonomische Realität: Kapitalstärkung ohne soziale Flankierung führt nicht zu Wohlstand, sondern zu Spaltung.
Es klingt beunruhigend vertraut, wenn Politiker der regierenden Koalition wieder suggerieren, mehr "Entlastung" für die Eliten würde automatisch allen nutzen. Die Geschichte lehrt das Gegenteil. Sie führt nur zu höchst beunruhigenden Kapitalkonzentrationen, denen die USA schon vor dem Krieg nur mit ihrer rigorosen Anti-Kartellgesetzgebung halbwegs Herr werden konnten. Und die, wenn die erhofften Investitionen unterbleiben, zu einem gefährlichen Überangebot an den Kapitalmärkten führt, das nach Anlagemöglichkeiten sucht – und, wie die Ereignisse um den Crash von Lehman Brothers seinerzeit gelehrt haben, oft genug in windigen Anlagekonstrukten endet.
Der New Deal – und Morgenthaus ernüchterndes Fazit
Mit dem "New Deal" trat Franklin D. Roosevelt 1933 an, die Fehler seiner Vorgänger zu korrigieren. Öffentliche Investitionsprogramme, Sozialpolitik und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sollten die Gesellschaft stabilisieren. Aber: Der große Wurf gelang nicht, entgegen heutigen eher verklärten Ansichten.
Roosevelts Finanzminister Henry Morgenthau kam 1939 zu einem bitteren Urteil: "We have tried spending money. We are spending more than we have ever spent before and it does not work. [...] We have never made the tax system fair." Morgenthau erkannte, dass ein gerechtes Steuersystem die entscheidende Voraussetzung für sozialen Ausgleich gewesen wäre – aber nie ernsthaft umgesetzt wurde. Er selbst zahlte, wie er offen einräumte, viel zu wenig Steuern.
Morgenthaus Eingeständnis ist mehr als ein historisches Dokument – es ist ein Mahnruf an jede Regierung, die glaubt, soziale Gerechtigkeit durch bloße Ausgaben oder symbolische Programme herstellen zu können, ohne die Steuerpolitik zu reformieren.
Heute: Der alte Fehler im neuen Gewand
Fast ein Jahrhundert später wird in Deutschland wieder offen dafür geworben, Spitzensteuern zu senken, Unternehmensgewinne zu schonen, Kapital zu subventionieren und "Leistung" mit Steuervermeidung zu verwechseln. Gleichzeitig schließt man eine Vermögenssteuer ebenso kategorisch aus wie eine stärkere Besteuerung großer Erbschaften. Austerität nach unten, Generosität nach oben.
Gleichzeitig: Armut trotz Arbeit, Verachtung für Empfänger von Bürgergeld, eine faktische Umverteilung von unten nach oben. Der "Wohlstand", der einst als Verheißung verkauft wurde, ist zur Fiktion geworden. Das Eigenheim? Für viele nur noch durch Erbschaft erreichbar. Ein volles Arbeitseinkommen – und dennoch bleibt das Leben prekär.
Jeder BWL-Studierende lernt im ersten Semester: Unternehmen siedeln dort, wo Ressourcen, Arbeitskräfte und Absatzmärkte erreichbar sind. Steuervergünstigungen sind bestenfalls sekundär – und in keinem Gründungsseminar das Fundament wirtschaftlicher Nachhaltigkeit.
Fazit: Wirtschaft braucht Gerechtigkeit – und Erinnerung
Die Wirtschaftsgeschichte der Vereinigten Staaten zeigt exemplarisch, wie fatale wirtschaftspolitische Mythen sich halten können – und wie wenig empirisch sie tragfähig sind. Heute liegt ein Fundus an empirischen Studien vor, die die Trickle-Down-Idee widerlegen.
Wer also heute wieder auf Entlastung der Eliten setzt, ignoriert nicht nur soziale Realitäten und empirische Befunde. Er ignoriert auch die Lehren aus einer Geschichte, die uns längst mehr als genug gewarnt hat. Eine Gesellschaft, die auf Gleichheit vor dem Gesetz und die Würde jedes Menschen verpflichtet ist, kann keine Politik rechtfertigen, die objektiv zu wachsender Ungleichheit und sozialer Spaltung führt.
Eine Stärkung der Starken – und die gleichzeitige moralische Diffamierung der Schwachen – steht im Widerspruch zum humanistischen Anspruch auf Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und Chancengleichheit.







9 Kommentare
Kommentare
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Ob unsere Politik daraus etwas lernt ist fraglich, diese haben eher das Gegenteil im Sinn und nichts aus den Fehlern der vergangenen Politik gelernt, die Logik sollte eigentlich
siehe die Schweiz z.B. dorthin flüchten viele Gelder welche für alle ein Segen wäre, wenn diese dort nicht nur gehortet würden, sondern für die erarbeiteten Menschen verteilt würden. Ein Betriebsinhaber kann allein keinen Reichtum anhäufen, er braucht dafür viele
fähige Mitarbeiter, welche Kapital erarbeiten und diese sollten dann auch am Wohlstand mit partizipieren.
adam sedgwick am Permanenter Link
Ja, die Eliten, sie sind keine Eliten im humanitären Sinn, sie leben davon die Massen der ehrlich und anstrengend intensiv arbeitenden Menschen.
Gut, dass Sie den Unternehmer Endicott erwähnt haben, der ein gutes Beispiel für einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz war und eigentlich immer noch ist. Also, wenn die Löhne hoch sind und die Arbeitnehmer wie wichtige und richtige Menschen behandelt werden, dann erst erreicht man einen soliden Wohlstand, von dem alle was haben, auch die Uternehmer! Ich bin zwar kein Wirtschaftler, aber dennoch ein Anhänger unverbrüchlicher Wahrheiten, wie es beispielsweise die vier Grundrechenarten sind. Wenn die Löhne mickrig sind, wer kann denn dann das ganze produzierte Zeug überhaupt kaufen? Offensichtlich zu wenige. Daher leben die Billigläden, wie Aldi und Lidl sehr gut. Es sind die reichsten Unternehmen in Deutschland, sie leben von der Menge des noch vorhandenen Wenigen. Erhöht man die Löhne, dann kann auch mehr gekauft werden, vor allem mehr Dinge zur friedlichen Nutzung, und nicht das ganze Einweg-Kriegszeug, von dem keiner was hat, außer Rheinmetall und Konsorten.
Inseljunge am Permanenter Link
"Erhöht man die Löhne, dann kann auch mehr gekauft werden"
Bernd Neves am Permanenter Link
Erhöht man die Löhne, bedeutet das eine Erhöhung der Nachfrage, die in einer Marktwirtschaft nachhaltig zu einer Ausweitung der Produktion und damit der Waren und Dienstleistungen führt.
Inseljunge am Permanenter Link
Fakt ist, dass seit 2011 die Steigerung der Produktivität stest geringer war und ist als diejenige der Löhne. Der von Ihnen angenommene Effekt ist offenbar kein Automatismus.
Bernd Neves am Permanenter Link
Produktivität ist etwas Anderes als die Menge der Gesamtproduktion und vermutlich wissen Sie das auch.
Inseljunge am Permanenter Link
Sicher, das ändert jedoch nichts an der Tasache, dass die Lohnentwicklung der Produktivitätsentwicklung davon gelaufen ist — mit den genannten Folgen.
Frank Sch. am Permanenter Link
Und dabei ist es hierzulande offensichtlich mittlerweile unwesentlich, ob Konservative, Pseudo-Liberale oder Sozialdemokraten regieren. Von unten nach oben, die ewige Richtung...
Sunder Martin am Permanenter Link
Der neoliberale Steinzeitkapitalismus ist halt ein Verbrechen.