(hpd) Der Historiker Heinrich August Winkler legt den zweiten Band seiner „Geschichte des Westens“ vor, worin auf über 1300 Seiten die seinerzeitige politische Entwicklung in Nordeuropa und Westeuropa beschrieben wird. Es handelt sich um ein beeindruckendes Werk der Geschichtsschreibung, das aber den „Schattenseiten“ westlicher Politik nicht genügend Aufmerksamkeit schenkt und dem die analytischen Ansätze bezüglich der westlichen Werte im Laufe der Darstellung etwas verloren gehen.
Als „den Westen“ in einem politischen Sinne bezeichnet man die Länder in Nordamerika und Westeuropa, die durch Grundfreiheiten und Marktwirtschaft, Parlamentarismus und Rechtsstaatlichkeit geprägt sind. Die „Geschichte des Westens“ will der Historiker Heinrich August Winkler, einer der bedeutendsten deutschen Repräsentanten seines Fachs, in einer gleichnamigen voluminösen Darstellung in drei Teilen beschreiben. Nach dem ersten Band, der den Zeitraum von der Antike bis 1914 auf über 1300 Seiten behandelt, liegt jetzt der zweite Band zur „Zeit der Weltkriege 1914 – 1945“ ebenfalls mit über 1300 Seiten vor. In der Einleitung formuliert der Autor: „Im Mittelpunkt steht die Entwicklung dessen, was ich das normative Projekt des Westens nenne. Gemeint sind vor allem die Ideen der beiden atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts, der Amerikanischen und der Französischen Revolution ...“ (S. 11). Deren Aneignungen und Verwerfungen prägten für Winkler auch die „Geschichte des Westens“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Seine Darstellung dieser Zeit gliedert sich in vier große Teile: Zunächst geht es um den Ersten Weltkrieg als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, wobei nicht nur das militärische Geschehen, sondern auch die politischen Folgen im Mittelpunkt stehen. Der zweite Teil widmet sich dann der Zeit vom Waffenstillstand bis zur Weltwirtschaftskrise und nimmt nicht nur die Entwicklung in Mitteleuropa und den USA, sondern auch in Nordeuropa und der Sowjetunion in den Blick. Ihm folgt das Kapitel zu Demokratien und Diktaturen über den Zeitraum zwischen 1933 und 1939, worin auch der Umgang mit politischen und wirtschaftlichen Krisen in Deutschland, Italien und Spanien einerseits und Frankreich, Großbritannien und den USA andererseits thematisiert wird. Und im vierten Teil stehen unter dem Stichwort „Zivilisationsbrüche“ die Entwicklungen im Zweiten Weltkrieg mit einem Schwerpunkt auf dem Holocaust im Zentrum des Interesses. Der Band endet mit einem kurzen Rückblick auf eine Ausnahmezeit „von Weltkrieg zu Weltkrieg“.
Das Urteil über den zweiten Teil der „Geschichte des Westens“ fällt je nachdem, ob man den Analytiker oder den Historiker Winkler betrachtet, unterschiedlich aus: Nimmt man allein die Geschichtsdarstellung in Augenschein, dann kann das Lob kaum groß genug sein. Der Autor bewältigt nicht nur eine ungeheure Stoffmenge, er stellt die Ereignisse auch anschaulich und verständlich dar. Dabei blickt Winkler ebenso kenntnisreich und souverän auf Randbereiche des Geschehens. All dies macht aus dem zweiten Band der „Geschichte des Westens“ auch ein gutes Nachschlagewerk, wofür hier und da noch eine detailliertere Strukturierung nützlich gewesen wäre. Zwar konzentriert sich Winkler allzu sehr auf die Entwicklung Deutschlands, was aber aufgrund der politischen Bedeutung des Landes ebenso wie hinsichtlich des Erscheinungslandes des Buchs mehr als nur verzeihlich ist. Demgegenüber ist die starke Konzentration auf eine politische und staatliche Geschichte und die geringe Aufmerksamkeit für die soziale und wirtschaftliche Geschichte eher kritikwürdig.
Bezüglich der analytischen Komponenten der „Geschichte des Westens“ wären noch weitere Einwände angebracht: Eigentlich wollte Winkler nicht nur eine historische Beschreibung vorlegen, sondern die Ereignisse im Lichte der Aneignung und Verwerfung von westlichen Ideen deuten. Im Laufe der Arbeit am Material ging ihm diese Perspektive aber immer wieder mal verloren, woran auch nicht gelegentliche Kommentare etwas ändern. Darüber hinaus fällt eine problematische Gewichtung auf: Zwar verschweigt Winkler nicht die „Schattenseiten“ in der Politik westlicher Demokratien, sie finden aber in der Darstellung nur marginal Aufmerksamkeit und bezüglich der Analyse keine Erklärung. So schildert der Autor etwa ausführlich die imposante Reformpolitik in den USA unter Franklin D. Roosevelt. Dessen Unterstützung von brutalen Militärdiktaturen wie der von Somoza in Nicaragua wird aber nur auf einer halben Seite ohne näheren Kommentar angesprochen. Zwar handelt es sich um eine beeindruckende Geschichtsdarstellung – aber mit bedauerlichen Leerstellen.
Armin Pfahl-Traughber
Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens. Band 2: Die Zeit der Weltkriege 1914 – 1945, München 2011 (C. H. Beck-Verlag), 1350 S., 39,95 €.