DORTMUND. (hpd) „Glaubt was Ihr wollt, aber mischt Euch nicht ein?! – Zum Auftrag der Religionen in einer pluralen Gesellschaft“. Unter diesem Motto lud das Amt für missionarische Dienste der Evangelischen Kirche in Westfalen am vergangenen Montag zum 3. Studientag „Mission und Dialog“ im Haus landeskirchlicher Dienste in Dortmund.
Mission war allerdings nicht angesagt, sondern Dialog: Die muslimische Sozialwissenschaftlerin Gabriele Boos-Niazy, der Agnostiker und evolutionäre Humanist Dr. Michael Schmidt-Salomon sowie der evangelische Theologe Rolf Krebs waren als Referenten geladen. Frau Boos-Niazy ist Mitbegründerin des Aktionsbündnisses muslimischer Frauen in Deutschland, Dr. Schmidt-Salomon ist Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung und Oberkirchenrat Krebs ist Leiter des evangelischen Büros NRW am Sitz der Landesregierung in Düsseldorf, wo er die Interessen der drei evangelischen Landeskirchen vertritt.
Ein restlos gefüllter Veranstaltungsraum mit ca. 60 Plätzen dürfte wohl die Erwartungen des Veranstalters voll erfüllt haben, trotz 20 Euro Teilnahmegebühr. Das eine oder andere bekannte Gesicht aus der säkularen Szene der Region war schon zu Beginn auszumachen und erfreulicherweise outeten sich während der Diskussionsrunden weitere „Säkulare“. Leider war aber, trotz muslimischer Referentin, kein weiterer Anhänger des muslimischen Glaubens erkennbar anwesend und sollte sich auch im Laufe der Veranstaltung nicht zu erkennen geben. Bei den Teilnehmern handelte es sich überwiegend um „ältere Semester“ und offenbar auch viele Kirchenmitarbeiter, was wohl auch dem Umstand geschuldet war, dass die Veranstaltung tagsüber durchgeführt wurde.
Jede(r) ReferentIn hielt zunächst jeweils ein ca. halbstündiges Impulsreferat, dessen Kernpunkte auch noch einmal als „Thesenpapier“ an die Teilnehmer verteilt wurden. Nach jedem Referat waren die Zuhörer gebeten, sich in „Murmelgruppen“ für 15 Minuten mit ihren Nachbarn zum Thema zu unterhalten, bevor die ermurmelten Fragen gesammelt und an die Referenten gerichtet wurden. Zum Abschluss gab es ein ca. 45-minütiges Schlussplenum mit den Referenten unter Einbezug der Teilnehmer.
Vortrag Frau Boos-Niazy
Den Anfang machte Frau Boos-Niazy, eine deutsche Muslima, die auch ein muslimisches Kopftuch trug, das sämtliche Haare, den Hals und die Schultern bedeckte. Sie stellte sich und das von ihr mit gegründete Aktionsbündnis muslimischer Frauen in Deutschland zunächst kurz vor. In ihrem Referat beleuchtete sie das Thema „gesellschaftliche Einmischung“ aus zwei Perspektiven: der allgemeinen und der religiösen.
Der allgemeine Teil entsprach naturgemäß der Darstellung, die man auch von christlich-kirchlicher Seite gewohnt ist, und soll daher hier nur kurz zusammenfasst werden: Eine Überzeugung zu haben, bedeute immer auch Einmischung, „und sei es in der Form der Nicht-Einmischung“. Das Menschenrecht auf Einmischung bzw. Mitwirkung sei im Grundgesetz verankert und auch nichts spezifisch Religiöses. Die Demokratie lebe vom Engagement der Bürger und religiöse Gemeinschaften seien Teil jener Gruppen, die die Grundwerte, die die Basis des Staates bilden, lebendig erhalten. (Kirchenrat Krebs verwies in diesem Zusammenhang später auf das obligatorische Böckenförde-Zitat „Der freiheitliche säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“.)
Kontroverser war der religiöse Teil von Frau Boos-Niazys Referat. Zwar hätten auch hier die meisten Aussagen ebenso gut von christlicher Seite kommen können: der Mensch als „Statthalter“, der für die Schöpfung verantwortlich sei, Glaube drücke sich im konkreten Handeln aus, Gotte beurteile den Menschen nach seinen Absichten und letztlich ginge es darum, Gerechtigkeit zu verwirklichen. Deshalb mache aus islamischer Sicht die Aussage „Glaubt, was Ihr wollt, aber mischt Euch nicht ein!“ keinen Sinn.
Als Belege zitierte Frau Boos-Niazy zahlreiche Stellen aus dem Koran und der islamischen Überlieferung (Hadith). So besteht Frau Boos-Niazy zufolge Einigkeit darüber, „dass der Verstand ein Geschenk Gottes ist, das der Mensch benutzen muss“, und als Beleg zitierte sie die Koransure 38, Vers 29: „(Dies ist) ein gesegnetes Buch, das Wir zu Dir hinabgesandt haben, damit sie über seine Zeichen nachsinnen und damit diejenigen bedenken, die Verstand besitzen.“ Demzufolge gingen Muslime nicht davon aus, dass echte Gläubigkeit rationaler Erkenntnis widerspreche, sondern dass sie Voraussetzung eines umfassenden Glaubens sei.
Für das Streben nach Gerechtigkeit im Islam wurden z.B. folgende Zitate gebracht:
Sure 3, Vers 14: „Aus euch soll eine Gemeinschaft (von Gläubigen) entstehen, die zum Guten aufrufen, das Rechte gebieten und das Verwerfliche verbieten...“
Sure 5, Vers 8: „O ihr, die ihr glaubt, tretet für Gott ein und legt Zeugnis für die Gerechtigkeit ab. Und der Hass gegen bestimmte Leute soll euch nicht dazu verleiten, nicht gerecht zu sein. Seid gerecht, das entspricht eher der Gottesfurcht. Und fürchtet Gott. Gott hat Kenntnis von dem, was ihr tut.“
Hellhörig wurde das Publikum, als Frau Boos-Niazy erläuterte, zur Gerechtigkeit gehöre nicht nur, selbst keine Ungerechtigkeit zu begehen, sondern auch, Ungerechtigkeiten anderer zu verhindern. Als Beleg führte sie einen Hadith an: „Hilf deinem Bruder, ob er Unrecht begeht oder unter Unrecht leidet!“ Einer fragte: „Oh Gesandter Allahs, diesem helfen wir, wenn er unter Unrecht leidet. Aber wie können wir ihm helfen, wenn er selbst Unrecht begeht?“ Der Prophet erwiderte: „Indem Du seine Hände tatkräftig vom Unrecht abhältst!“ (Bukhari, Muslim)
In ihrem Fazit fasste Frau Boos-Niazy zusammen, das Handeln der Muslime gründe sich darauf
- das spirituelle Leben in der Gesellschaft zu entwickeln und zu bewahren,
- die religiöse und die säkulare Bildung und Erziehung zu verbreiten,
- sich in jedem Bereich des sozialen, ökonomischen und politischen Lebens für mehr Gerechtigkeit einzusetzen und
- auf die Solidarität mit allen Bedürftigen.
Das gesellschaftliche Engagement der Muslime sei daran erkennbar, dass sich die unterschiedlichsten muslimischen Organisationen mehr und mehr auch in gesamtgesellschaftlichen Bereichen engagierten und nicht mehr nur Seelsorge betrieben. Frau Boos-Niazy bedauerte, dass dieses Engagement manchmal als Integrationshemmnis oder gar Widerstand wahrgenommen werde. Dabei werde nicht nur der Islam als Quelle sozialen Kapitals und zivilen Engagements übersehen, sondern auch der Anspruch an die Migranten und insbesondere an die Muslime, sich zu integrieren – sprich: in die Gesellschaft einzubringen – konterkariert.
Aussprache Frau Boos-Niazy
Michael Schmidt-Salomon warf ein, Frau Boos-Niazy habe den Koran selektiv dargestellt. Bei der von ihr erwähnten Gerechtigkeit handele es sich um eine Binnengerechtigkeit (also nur für Muslime), für Andersdenkende gebe es Höllendrohungen. Er verwies auf die 1990 von den islamischen Staaten verabschiedete „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“, derzufolge die Menschenrechte nur zu gewährleisten sind, solange sie sich im Rahmen der Scharia bewegen, als Beleg dafür, dass die von Frau Boos-Niazy vertretene Interpretation des Islam nicht repräsentativ sei.
Allgemein waren die Fragen sehr kritisch, was wohl auch damit zusammenhing, dass Frau Boos-Niazy „freiheitlich-demokratische“ Positionen vertrat, die offenbar von dem Eindruck, den die Zuhörer aus anderen Quellen über den Islam gewonnen hatten, stark abwichen. Michael Schmidt-Salomon brachte das Thema des Glaubensabfalls auf, der Apostasie – Frau Boos-Niazy entgegnete, die Todesstrafe für Apostasie sei so zu verstehen, dass in Kriegszeiten der Abfalls vom Glauben quasi als „Überlaufen zum Gegner“, also Hochverrat betrachtet worden sei. Und auf Hochverrat stehe auch andernorts die Todesstrafe. Zur Frage der Homosexualität erklärte sie, bei sich zuhause könne jeder tun, was er wolle, manchmal bestehe aber ein gesellschaftlicher Konsens, dass man bestimmte Dinge nicht in der Öffentlichkeit sehen wolle. Diese Antworten dürften allerdings kaum jemanden überzeugt haben.
Vortrag Dr. Schmidt-Salomon
Der nächste Referent, Dr. Michael Schmidt-Salomon, bot nicht nur inhaltlich, sondern auch optisch einen deutlichen Kontrast zu seiner Vorrednerin; jedenfalls hatte er erkennbar weniger Bedenken, was das Zuschaustellen von Haupt- und Barthaar anging.
Schmidt-Salomon gliederte sein Referat in vier Teile, die ersten drei behandelten die Frage nach dem Glauben als Privatsache und die Grenzen staatlicher Neutralität. Im vierten Teil konfrontierte er insbesondere die anwesenden Theologen mit dem „Dilemma der aufgeklärten Theologie“.
„… aber mischt euch nicht ein!“ – Warum Glaube Privatsache sein sollte
War Frau Boos-Niazy im ersten Teil ihres Referats noch ausführlich die „Einmischungsrechte“ eingegangen, die das Grundgesetz (auch) den Religiösen einräumt, lag der Schwerpunkt von Dr. Schmidt-Salomon erwartungsgemäß auf der weltanschaulichen Neutralität des Staates.
Das Recht, ohne Gängelung des Staates das glauben, denken und artikulieren zu können, was man will, zähle zu den großen Errungenschaften unserer Zivilisation. Dieser hohe Stellenwert, so Schmidt-Salomon, spiegle sich auch im Grundgesetz wider, z.B. in Artikel 4 (Glaubens- und Gewissensfreiheit) und Artikel 5 (Freiheit der Meinung, Kunst und Wissenschaft). Aus derartigen Bestimmungen leite sich die weltanschauliche Neutralität des Staates ab, d.h., dass der Staat keine Weltanschauungsgemeinschaft einseitig privilegieren dürfe. In der Realität sei dies allerdings nur unzureichend umgesetzt; als Beispiele verwies Schmidt-Salomon auf die Staatsleistungen, die Kirchensteuer und weltanschauliche Diskriminierungen im kirchlichen Arbeitsrecht.
Viele säkular denkende Menschen träten für einen strikten Laizismus ein, d.h. für eine konsequente Trennung von Staat und Kirche, ja sogar für eine möglichst konsequente Trennung von privatem Glauben und gesellschaftlichem Engagement. Ganz im Sinne des Satzes „Glaubt, was ihr wollt, aber mischt euch nicht ein!“ verstünden sie das individuelle Bekenntnis als Privatsache, die keinesfalls maßgeblich dafür sein sollte, ob ein qualifizierter, engagierter Mensch einen Arbeitsplatz findet oder nicht.
Ein weiterer Grund für die Ablehnung religiöser Einmischung sei die Befürchtung in der weitgehend säkularisierten Bevölkerung, dass eine stärkere Gewichtung religiöser Kräfte auf einen Verlust emanzipatorischer Errungenschaften (etwa der Gleichberechtigung von Mann und Frau, des sexuellen Liberalismus, der Freiheit der Kunst und der Meinungsäußerung) hinauslaufen könne. Liberal denkende Menschen würden ihren Mitbürgern zwar niemals vorschreiben, was diese zu glauben hätten, aber sie wollten durch deren Glauben auch nicht in ihrem Leben gestört werden.
„Glaubt, was ihr wollt?“ Warum Glaube keine reine Privatsache ist
Mit seiner muslimischen Vorrednerin schien Schmidt-Salomon darin übereinzustimmen, dass „das Private stets auch politisch ist“. Deshalb sei es nicht egal, was die Menschen glauben, denn sollten politisch reaktionäre Glaubensvorstellungen Überhand nehmen, so sei es um die liberale Verfasstheit unserer Gesellschaft bald geschehen. Statt “Glaubt, was ihr wollt, aber mischt euch nicht ein!“ sollte es daher heißen: „Mischt euch ein, wie ihr wollt, solange euer Glaube das Bekenntnis zu den Grundprinzipien des liberalen Rechtsstaates enthält und ihr euch im Zweifelsfall für diese entscheidet.“
Zwei Grundprinzipen nannte Schmidt-Salomon für das gesellschaftliche Zusammenleben: Das „Prinzip der Säkularität“, demzufolge die Werte, die unser Zusammenleben ordnen, von keiner „höheren Instanz“ (Gott, Götter, Natur, Schicksal etc.) vorgegeben seien, sondern von den gesellschaftlichen Akteuren unter fairer Berücksichtigung der jeweiligen Interessen ausgehandelt werden müssten. Und das “Prinzip der Liberalität“ demzufolge mündige Bürgerinnen und Bürger in einem modernen Rechtsstaat tun und lassen dürften, was sie wollen, solange es ihnen nicht mit guten, rechtsstaatlich abgesicherten Gründen verboten werden könne. Diese beiden Prinzipien werden von den Religionen bislang nicht hinreichend beachtet. Als Beispiel verwies Dr. Schmidt-Salomon auf das Minderheitenvotum der Theologen in der Ethik-Kommission, in dem diese sich 2010 (?) aus religiösen Gründen gegen die Präimplantationsdiagnostik ausgesprochen hatten.
„Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht“
Die weltanschauliche Neutralität des Staates stößt Schmidt-Salomon zufolge dort an ihre Grenzen, wo die ethischen Prinzipien des Grundgesetzes verletzt werden oder die Verpflichtung des Bundes und der Länder zur Förderung seriöser Bildung betroffen sei: Religionsfreiheit dürfe nicht als Freibrief für Menschenrechtsverletzungen verstanden werden; Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts, der sexuellen Orientierung oder der Weltanschauung könnten nicht religiös legitimiert werden. Und Bildung müsse sich nach „soliden wissenschaftlichen Wahrheitskriterien“ richten – und nicht nach den Partikularinteressen bestimmter religiös-weltanschaulicher Gruppierungen.
Das Dilemma der aufgeklärten Theologie
Für Michael Schmidt-Salomon sind die Religionen „kulturelle Schatzkammern der Menschheit, in denen man viel Vernünftiges und Menschenfreundliches, aber eben auch Widersinniges und Menschenverachtendes findet“. Eine der großen, existentiellen Fragen der Menschheit sei, wie die Religionen in Zukunft mit diesem ambivalenten Erbe umgingen.
Schmidt-Salomon zufolge gibt es zwei „Erbschaftsstrategien“: Die „aufklärerische Variante“ bestünde darin, die eigene Denk-und Glaubenstradition kritisch auszuarbeiten und die alten Glaubensaussagen exegetisch so weit umzudeuten, dass sie dem heutigen Stand der kulturellen Evolution entsprechen. Die „fundamentalistische Variante“ beruhe auf einer radikalen Abwehr aller Kritik an der eigenen Glaubenstradition und ziele darauf ab, das Rad der Geschichte soweit zurückzudrehen, dass die alten Glaubensaussagen in ihrer originären Form wieder als zeitgemäß erscheinen können.
Das „Dilemma der aufgeklärten Theologie“ sei nun: Wie sehr kann der Glaube an die heutigen gesellschaftlichen Wertvorstellungen angepasst und umgedeutet werden, ohne dass dabei der Kern des Glaubens verloren geht? Viele „christliche Theologen“ seien mittlerweile zu „getarnten säkularen Humanisten“ geworden, die aus sozialen Konventionen heraus einen „religiösen Dialekt“ pflegten, der zwar noch „fromm“ klänge, es aber längst nicht mehr so meine.
Leider sei allerdings der „weltanschauliche Flickenteppich“ der aufgeklärten Theologie nicht sonderlich attraktiv. Die Menschen neigten heute dazu, entweder konsequenter zu glauben oder den Glauben in konsequenterer Weise abzulehnen. Als Folge dieses Trends steige weltweit nicht nur der Anteil der fundamentalistischen Gläubigen an, sondern auch der Anteil der konfessionsfreien Menschen. Der „aufgeklärte Glaube“ scheine demgegenüber eine „absterbende Kulturerscheinung“ zu sein, was möglicherweise zu größeren Konflikten zwischen gläubigen und nichtgläubigen Menschen führen werde.