Uneinsichtig bis zum Schluss

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Screenshot: ard.de

BERLIN. (hpd) Am Freitagvormittag ist Christian Wulff als Staatsoberhaupt zurückgetreten. „Ich war immer aufrichtig“, betonte Wulff in einer knappen Erklärung. Den letzten Ausschlag gegeben hatte ein Antrag der Staatanwaltschaft Hannover, die Immunität des Bundespräsidenten aufzuheben. Angela Merkel nahm die Erklärung „mit größtem Respekt und tiefem Bedauern“ zur Kenntnis.

Für die Mehrheit der Menschen Deutschland scheint es hingegen ein nationaler Feiertag zu werden.

Um kurz nach 11 Uhr trat Christian Wulff am Freitag gemeinsam mit seiner Frau im Schloss Bellevue vor die Presse. In seiner Rücktrittserklärung äußerte er sich zuversichtlich, dass die rechtliche Klärung zu „einer vollständigen Entlastung führen wird“ und betonte: „Ich habe in meinen Ämtern stets rechtlich korrekt mich verhalten. Ich habe Fehler gemacht, aber ich war immer aufrichtig.“ Die Berichterstattung habe ihn und seine Frau sehr verletzt, kritisierte Wulff gegenüber der Öffentlichkeit.

Die Entscheidung zum Abgang begründete er mit dem geschwundenen Vertrauen bei einer Mehrheit der Bevölkerung, die ein Präsident und ein Land brauche, um „sich uneingeschränkt diesen und anderen nationalen sowie den gewaltigen internationalen Herausforderungen“ widmen zu können. „Die Entwicklung der vergangenen Tage und Wochen hat gezeigt, dass dieses Vertrauen und damit meine Wirkungsmöglichkeiten nachhaltig beeinträchtigt sind“, meinte er, der einst zum Vorgänger Johannes Rau erklärte: „Ich leide physisch darunter, dass wir keinen unbefangenen Bundespräsidenten haben.“

„Auf Vertrauen kommt es an. Wir müssen ehrlich miteinander und mit uns selbst sein“ – Wulff im August 2011 vor Wirtschafts-Nobelpreisträgern in Lindau

Der „Wulff im Schafspelz“ übersah dabei, dass er selbst nie ein unbefangener Bundespräsident gewesen war und ignorierte die Tatsache schwindender Sympathien in päpstlicher Manier auch dann noch, als ihm nach Jahreswechsel immer mehr gesellschaftliche Instanzen das Vertrauen entzogen hatten. Christian Wulff hörte nicht auf die Kritik der Medien, obwohl sich eine seltene Allianz zwischen konservativeren und linksliberalen Blättern auftat. Wulff ignorierte auch mahnende Worte abseits des Pressebetriebs, wie den ehemaligen Verfassungsrichter Dieter Grimm. Der bisher jüngste Präsident Deutschlands war schließlich auch der mit der kürzesten Amtszeit, der unverschämtesten Abtrittserklärung und dem hässlichsten Wikipedia-Eintrag.

„Politik verliert an Glaubwürdigkeit, wenn auf Zeit gespielt wird“ – Wulff am vergangenen Mittwoch in Italien

Eine halbe Stunde nach Wulff nahm auch Bundeskanzlerin Angela Merkel zum schnellen Ende des zweiten von ihr erwählten Amtsinhabers Stellung. „Ich habe die Erklärung des Bundespräsidenten mit größtem Respekt und ganz persönlich auch mit tiefem Bedauern zur Kenntnis genommen“, so die Bundeskanzlerin. Sie behauptete, er habe sich für ein modernes und offenes Deutschland eingesetzt. Wulff habe deutlich gemacht, dass die Stärke des Landes in seiner Vielfalt liege. Er und seine Frau, so Merkel weiter, hätten Deutschland im In- und Ausland würdig vertreten. Merkel erklärte weiter, dass sich CDU, CSU und FDP nun über einen Nachfolger beraten wollten, um anschließend auf SPD und Grüne zugehen zu wollen. Die Linkspartei erwähnte sie nicht.

Reaktionen

Vertreter von SPD und Grüne begrüßten den Vorschlag Merkels und verlangten überparteiliche Kandidaten. SPD-Chef Sigmar Gabriel erklärte am frühen Nachmittag: „Dafür braucht es schnell ein vertrauliches Gespräch aller im Bundestag vertretenen Parteien.“

Seitens der evangelischen und der katholischen Kirche gab es Dank und Beileidsbekundungen. Der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider beurteilte den Rücktritt angesichts des Antrags der Staatsanwaltschaft als „folgerichtig und auch befreiend“, DBK-Chef Robert Zollitsch sah einen wichtigen Schritt zum Schutz des „hohen Amtes und seiner Person“, dem er Respekt zolle. Er erinnerte, dass Wulff den Papst Benedikt XVI. nach Deutschland eingeladen und ihn mit großer Warmherzigkeit aufgenommen habe. Mit diesen Stellungnahmen waren Schneider und Zollitsch ziemlich allein.

Die weiteren Reaktionen in der Presse und im Netz passten eher zum Kommentar des Zeit“-Chefredakteurs Giovanni di Lorenzo vom Vortrag. „Ein Ende mit Schrecken kann er nicht mehr herbeiführen, weil seine Affäre längst zu einem Schrecken ohne Ende geworden ist. Was er aber vielleicht noch tun kann, ist kapitulieren“, hieß es von Giovanni Di Lorenzo, der kurz zuvor noch sein Interviewbuch mit Karl-Theodor zu Guttenberg als einen Fehler bezeichnet hatte.

Und die Kapitulation Wulffs nach einem wochenlangen Tauziehen um die Würde des Amtes zwischen Öffentlichkeit und Wulffs Chuzpe wurde mit entsprechenden Reaktionen begleitet. Spiegel Online ließ zur Rücktrittserklärung Wulffs feststellen: „Er hat es vermasselt“. Beim Kirchenportal evangelisch.de wurde ein „unverschämter Rücktritt“ diagnostiziert, dessen Form „symptomatisch für seine verkorkste Amtszeit“ stünde. Nichtrepräsentative Meinungsumfragen der Medien spiegelten wider, dass Wulff mit der bis heute währenden Uneinsichtigkeit bei den Beobachtern des Schauspiels seit langem jede Sympathie verspielt hatte. 

Sogar bei der Süddeutschen Zeitung wurde Wulff schließlich ein entsprechend offener Hohn zuteil, wie vom Magazin im Netz verteilte Grafiken deutlich machen – und das Magazin fand damit tausendfachen Zuspruch. Menschen im Netz bedauerten, dass ihr Wulff-Karnevalskostüm jetzt wohl nicht mehr tragbar wäre, anderenorts wollte man den Rücktritt zum Anlass für weitere Festumzüge in den kommenden Tagen machen. Die an den Medienberichten teilnehmende Öffentlichkeit feiert die Botschaft vom Ende von Wulffs Amtszeit jedenfalls ausgelassen.

Nachfolge

Bis spätestens zum 18. März muss nun ein Nachfolger für Wulff gefunden werden – so sehen es wenigstens die gesetzlichen Regelungen vor. Dass ein Abgang eines Staatsoberhauptes keine Staatskrise auslöst, müsste aber jedenfalls mittlerweile klar geworden sein. Klar scheint auch, dass aus der Causa wohl vorerst keine grundlegenderen Schlüsse gezogen werden, welche die Weise der Besetzung der staatlichen Repräsentationsfigur verändern könnte. Der Anfang Januar geäußerte Vorschlag des Verlegers Alfred Neven DuMont, die Wahl des Amtsinhabers oder der Amtsinhaberin nicht Sache der Parteien, sondern der Bürger sein zu lassen, stieß bislang auf wenig vernehmbaren Widerhall.

Die Spekulationen über den oder die passenden Kandidaten schießen derweil ins Kraut. Der Bundesverfassungsrichter Andreas Voßkuhle, Thomas de Maizière (CDU), Klaus Töpfer (CDU), Norbert Lammert (CDU), Wolfgang Schäuble (CDU) oder Ursula von der Leyen (CDU) fanden sich bisher neben einigen Namen, unter denen vor allem der von Wulffs früherem Mitbewerber, dem Pfarrer und DDR-Systemkritiker, Joachim Gauck, bislang die meisten Sympathien auf sich vereinigen konnte.

Was allen Vorschlägen fehlt, ist eine Entsprechung zu den von säkularen und humanistischen Organisationen bereits nach Jahreswechsel geäußerten Hoffnungen: „Konfessionsfrei, weiblich, ehrlich“ lautete ein möglicher Konsens, der mit den unabweisbar einseitigen Traditionen bei der Auswahl früherer Staatsoberhäupter in Deutschland endlich aufräumt.

Möglicherweise behält also doch Michael Schmidt-Salomon mit einer Einschätzung recht, die er Anfang Januar zur Causa Wulff abgab: „Wünschenswert wäre natürlich, dass eine Person in das höchste politische Amt berufen würde, die von ihrem Denken her im 21. Jahrhundert angekommen ist, die den Mut hat, überholte Traditionen zu hinterfragen und unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Allerdings ist es sehr unwahrscheinlich, dass wir in absehbarer Zeit einen Bundespräsidenten oder eine Bundespräsidentin dieser Qualität sehen werden.“

Wulff war uneinsichtig bis zum Schluss, nicht nur in einer Hinsicht. Werden Angela Merkel und ihre Regierungskoalition es auch sein, und ebenfalls SPD und Grüne? Uwe Vorkötter, Chefredakteur der zum DuMont-Verlag gehörenden Berliner Zeitung, meinte dazu, nach zwei Pleiten sei die Zeit gekommen, mit der Tradition machtpolitischer Bestimmungen von Präsidentenwahlen zu brechen: „Da jeder Deutsche, der das vierzigste Lebensjahr vollendet hat, wählbar ist, gibt es mehr als 40 Millionen potenzieller Kandidaten. Da wird sich doch ein brauchbarer finden.“
 

Arik Platzek