Bunte Revue eines Unterrichtsfaches

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Fröhliches Theater / Alle Fotos © Evelin Frerk

BERLIN. (hpd) Die Teilnehmerzahlen am Unterrichtsfach Lebenskunde des Humanistischen Verband in Berlin (HVD) haben im laufenden Schuljahr die 50.000 überschritten. Ein Anlass, sich der Öffentlichkeit zu präsentieren und eine Festveranstaltung zu feiern. Auch wenn es in einer finanziell schwierigen Situation ist.

‚Runde Zahlen‘ sind häufig eine gute Gelegenheit, einzuhalten und etwas gemeinsam zu feiern. Ob es denn nun genau 50.000 hätte sein müssen, warum nicht auch 49.234, das war schließlich egal, denn die genaue Zahl lautet 51.871 teilnehmende SchülerInnen am Lebenskundeunterricht in Berlin. Ein Anlass für die Zusammenkunft der Lebenskundelehrerinnen und -lehrern des HVD Berlin-Brandenburg in der Aula der Joan-Miró-Grundschule.

Die hohe Rückwand der Aula der deutsch-spanischen Europaschule und Joan-Miró-Grundschule ist mit einem Bilderfries bedeckt, Bildern von Kindern aus 72 Nationen. Damit wird eines der wesentlichen Elemente des Lebenskundeunterrichts in Berlin verdeutlicht: es ist seine integrative Fähigkeit, Kindern mit den verschiedensten Migrationshintergründen einen Raum zu geben, in dem sie sich selbst erfahren können, Fragen an sich und an die anderen stellen können. Es ist ein Fach, in dem es nicht um benotete Leistungen geht, sondern um eine jeweils eigene Sicht auf das eigene Leben und die Gesellschaft.

Themenkreise des Unterrichts sind „Verbundenheit“ (Ich und die anderen),  „Freiheit“ (Gutes Leben nach eigenen Maßstäben), „Vernunft“ (Aufklärung und skeptisches Denken), „Naturzugehörigkeit“ (Alle Sinne für die Zukunft), „Gleichheit“ (Verantwortung für die Gesellschaft“) und „Weltlichkeit“ (Der Sinn des Lebens). In den verschiedenen Jahrgangsstufen werden diese Themenkreise dann didaktisch und intellektuell entsprechend entwickelt. Der Themenkreis „Vernunft“ ist in der 1. und 2. Klasse ein Philosophieren mit Kindern („Können Blumen glücklich sein?“), in der 3. und 4. Klasse skeptisches Denken kennen lernen („Du siehst ja Gespenster!“), in der 7. und 8. Klasse die Fragen nach Friedenserhaltung und Ursachen von Kriegen („Frieden ist anstrengend, Krieg ist tödlich“) und in der 9. und 10. Klasse die Fragen nach den Grenzen der Wissenschaft und der Zukunftsethik (Wir werden das Ding schon schaukeln!“).

Zur Einstimmung in die Festveranstaltung gab es ein ohrenbetäubendes, differenziertes Trommeln von schwarz-gelb kostümierten und geschminkten Kindern der deutsch-portugiesischen Grundschule Paula Borba, die in einem zweiten Teil eine szenische Inszenierung mit Gesang, Musik und Tanz zum Schicksal der Indianer in Brasilien zeigten.

Nach einer Begrüßung durch den Abteilungsleiter Bildung des HVD Berlin-Brandenburg, Werner Schultz, und den Direktor der Joan-Miro-Grundschule, Wolfgang Wagner, verlas die Moderatorin des Nachmittags, Jutta Kausch, ein Grußwort der Senatorin für Bildung, Jugend und Wissenschaft, Sandra Scheeres, und der Präsident des Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg, Norbert Kunz, machte in einer launigen Ansprache einige Anmerkungen zum Erfolg des Faches Lebenskunde. Der Kern ist, dass Menschen ihrem Leben selber einen Sinn geben. Und in dieser Balance zwischen eigenen Fragen und der Gesellschaft ist es auch eine Antwort auf die zunehmende Multipluralität des Landes. Und, auch wenn er skeptisch ist und von Prognosen wenig hält, eines ist sicher: der Erfolg der Lebenskunde in Berlin wird auf andere Bundesländer ausstrahlen.

Aus „Viertelland“ wird das „Land der Buntgemischten“

Dann begann eine bunte Revue von dem, was man auf einer Bühne eben darstellen kann. Ein Spielfilm „The winner is…“, der die besondere positive Qualität der multiethnischen Hintergründe der SchülerInnen in den Mittelpunkt stellt. Nach dem Grußwort der Mutter einer Lebenskundeschülerin folgte ein fröhlich endendes Theaterstück „Im Viertelland“. Ein Land mit vier Teilen, indem jedes eine eigenen Farbe hat, durch Linien begrenzt, und wobei in jedem Land nur die eigne Farbe erlaubt ist… bis eines Tages ein grünes Kind eine rote Blume findet. Der grüne Führer will eingreifen, es verbieten, aber sie wehrt sich, geht zu den anderen, die sich verbünden und aus „Viertelland“ wird ein ganzes Land, in dem alle Farben erlaubt sind.

Die Lebenskundelehrerin Eva Ellerkmann berichtete dann über „Das KinderRechteProjekt“, das seit acht Jahren in einem Projekttag mündet, auf das sich die Kinder drei bis vier Monate vorbereiten. Über Kinderrechte sei nur wenig bekannt - trotz der UNO Kinderrechtskonvention von 1989 - auch bei Kindern selber nicht. Es sei wesentlich für sie, zu erfahren, dass sie Rechte haben, wie das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung, das Recht auf Gesundheit, den Schutz vor wirtschaftlicher und sexueller Ausbeutung, und einiges andere mehr.

Nach dem Ausschnitt aus dem Theaterstück „Schöpfungsgeschichte“ der Rosa-Luxemburg-Oberschule, das in amüsanter Weise die biblischen Mythen von dem Gott der „Alfred“ erschuf, der von einer jungen Frau gespielt wurde, mit Alltagsthemen verknüpfte, zeigte der Film von Uli Joßner „Lebenskunde  ist…“ vier Lebenskundelehrerinnen  mit ihren Schülern und ihren Themen.

Nach ausklingenden Worten von Bruno Osuch, der selber auch einmal Lebenskundelehrer war und als früherer Vorsitzendes des HVD Berlin die Entwicklung des Unterrichtsfachs mit begleitet hat, und der auch auf die gegenwärtigen Finanzierungsfragen hinwies, klang die Veranstaltung mit Gesang aus. Die Musik- und Lebenskundegruppe der Johann-Strauss-Grundschule sang u.a. „Manchmal sitz ich da und träume von einer schönen, tollen Welt und dann stellt sich mir die Frage, ob sie wohl auch dir gefällt…?“

Jutta Kausch, Werner Schultz, Norbert Kunz, Bruno Osuch

Kündigung der Finanzierungsvereinbarung

Hintergrund zu den angesprochenen Finanzierungsfragen ist, dass der Humanistische Verband Berlin-Brandenburg vor ein paar Tagen die Finanzierungsvereinbarung mit dem Land Berlin gekündigt hat, um eine Besserstellung des Religions- und Lebenskundeunterrichts in Berlin zu erreichen. Während Schulfächer wie Deutsch, Mathematik, Chemie, Kunst oder Musik zu 100 Prozent und inklusive der Vertretungsreserve zu 103 Prozent ausfinanziert sind, ist dies beim Religionsunterricht oder dem Humanistischen Lebenskundeunterricht nicht der Fall. Die aus dem Jahr 2002 stammenden Finanzierungsvereinbarungen zwischen den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften sehen vor, dass das Land Berlin lediglich 90 Prozent der Personalkosten trägt und die verbleibenden 10 Prozent von den religiösen und weltanschaulichen Organisationen übernommen werden müssen. Darüber hinaus sind seit 2004 die Zuschüsse für Lernmittel komplett gestrichen. Der HVD fordert deshalb vom Berliner Senat die finanzielle Gleichbehandlung aller Schulfächer bzw. die Angleichung der weltanschaulichen Fächer an den Durchschnittssatz im öffentlichen Dienst sowie die Wiedereinführung der Lernmittelzuschüsse.

Werner Schultz sagte zur Kündigung der Finanzierungsvereinbarung: „Jedes Jahr müssen wir mit immer gleichen Mitteln einen stetig wachsenden Bedarf mit stetig steigenden Kosten befriedigen. Letztlich und auf lange Sicht muss das auf Kosten der Unterrichtsqualität gehen. Irgendwann sind alle Maßnahmen, mit denen Produktivität und Effektivität gesteigert werden können, ausgeschöpft.“

C.F.

 

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