Missionare des Untergrunds

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Missionare im Untergrund / Fotos: Christoph Baumgarten

WIEN. (hpd) In der Wiener U-Bahnstation Westbahnhof versuchen evangelikale Missionare jede Woche, Passanten zu bekehren. Österreich-Korrespondent Christoph Baumgarten hat sich unter sie gemischt.

Der blonde Mann lächelt mich freundlich und einladend an, als ich mich dem Stand der Missionare nähere, der wie jeden Mittwochnachmittag in der U-Bahn-Station Westbahnhof steht. „Hallo, ich bin Stefan“, sagt er mit unüberhörbarem norddeutschen Akzent und streckt mir die Hand entgegen. Ich habe mich kaum vorgestellt, als er wieder das Gespräch übernimmt und sich neben mich steht. Ich habe keine Chance, mich als hpd-Reporter zu erkennen zu geben, der Material für eine Geschichte sammelt. „Hast du dir schon Gedanken gemacht, was nach deinem Tod mit dir passiert? Wir müssen unser Leben immer danach gestalten.“ Bevor ich antworten kann, räsoniert er freundlich und in beinahe intimen Tonfall über die Gefahr der ewigen Verdammnis und die Chance, durch Jesus errettet zu werden.

Fünf Missionare stehen heute zwischen dem Aufgang der U-Bahnlinie U6, der Passage zum Westbahnhof und dem Abgang zur Linie U3. In Wien gibt es kaum eine Stelle mit höherer Passantenfrequenz. An- und abfahrende Passagiere von Österreichs meist befahrener Bahnstrecke kommen hier vorbei, von den U-Bahn-Benützern ganz zu schweigen. Außerdem führt ein Ausgang unweit des Missionars-Standes zur Shoppingmeile Mariahilfer Straße. Zwei Meter links vom Stand der Bankomat der Passage. Wer heute Geld abheben will, kommt an den Fundis nicht vorbei. Ein violettes Schild mit Bibelsprüchen macht jedem, der es wissen will, klar, warum man heute hier ist. Den Stand gibt es seit Jahren. „Heute ist ein durchschnittlicher Tag“, sagt Stefan. „Manchmal sind wir auch zu zehnt, manchmal sind auch nur drei Leute hier.“ Keine zwanzig Meter weiter steht die Konkurrenz. Die zwei Zeuginnen Jehovas drücken sich neinahe gegen die Brüstung des U-Bahn-Abgangs und halten apathisch den „Wachturm“ in diversen Sprachen für eventuell Interessierte bereit.

Den Anti-Darwin griffbereit

Sasha, Deutscher wie Stefan, steht am Infostand und verwaltet die paar Dutzend Broschüren. Ein Folder ist auch auf Englisch zu erhalten, die Anti-Darwin-Broschüre liegt nur auf Ungarisch am Tisch auf. Auf Nachfrage holt man auch die deutsche Ausgabe heraus. Autor ist Werner Gitt vom Missionswerk „Die Bruderhand, e.V.“. Die Bruderhand versteht sich als evangelikal und überkonfessionell. Dass die beiden Definitionen einander ausschließen könnten, befürchtet man offenkundig nicht. Von Gitt stammen auch Broschüren wie „und Er existiert doch“ und „Wer ist der Schöpfer“, die man ebenfalls hier kriegt.

Der ehemalige Professor ist sehr beliebt bei den Missionaren. „Der war Professor an der TU Braunschweig, der war dort sogar Direktor“, erzählt Stefan sichtlich stolz. „Der muss wohl wissen, wovon er schreibt. Er stellt Fragen, die sich die meisten herkömmlichen Wissenschaftler nicht zu stellen trauen“, meint Sasha. Ob so viel Freude, mit einem leibhaftigen Physiker aufwarten zu können, vergisst man die Details. Gitt war lediglich an der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig, nicht an der Uni. Mit seinem Glauben beschäftigt er sich intensiver als mit der Wissenschaft. Auf seiner Homepage findet man unter Links nur Verweise auf evangelikale Einrichtungen.

Weitgehend ignoriert

Ein paar Meter vom Stand entfernt versuchen die drei verbliebenen Missionare Passanten Folder in die Hand zu drücken. Das Interesse hält sich in Grenzen. Die meisten Folder der Bruderhand landen auf den Treppen zum Aufgang zur U6. Die Arbeit, sie zum nächsten Mistkübel zu tragen, machen sich die wenigsten. Eine Frau lässt sich in ein kurzes Gespräch mit einem arabischstämmigen Missionar verwickeln. Den Weg zum Infostand mit seinen Broschüren findet sie nicht. In der knappen halben Stunde, die ich hier bin, verirrt sich nur eine Amerikanerin zu Sasha. Sie will wissen, wo sie am Westbahnhof einen Brief aufgeben kann.

Feindbild Muslime

Stefan sinniert über die Schlechtigkeit der Welt im Allgemeinen und des Menschen im Besonderen. Nur, wenn alle zu Christus finden, kann es ein Ende der Kriege geben, ist er überzeugt. Ob die Schlechtigkeit des Menschen nicht auch etwas über seinen angeblichen Schöpfer aussage, will ich wissen. „Immerhin ist laut Bibel der Mensch ein Ebenbild Gottes“. „Ja, aber Er hat uns ja den freien Willen gegeben. Sonst wären wir ja Seine Marionetten“. Warum das aus Stefans Sicht die bessere Lösung ist, geht in seinem Redeschwall unter.

Etwas plötzlich macht er ein paar Schritte zum Infostand und zieht aus einem der Staufächer eine Kopie eines Artikels der Wiener Zeitung hervor. Die berichtet über angeblich steigende Konvertierungen im Iran. „Dort bekennen sich die Menschen zu Christus, obwohl sie von Ahmad verfolgt werden“, sagt er und strahlt. Ich verzichte auf den Hinweis, dass er den Namen verwechselt hat. „Wir sind ja zu 95 Prozent Atheisten. Wir gehen zwar in die Kirche, glauben aber nicht an Gott. Aber dort ist Jesus eine wirkliche Alternative.“

Er hat auch eine Erklärung parat, warum das so ist. „Im Islam gibt es nur die Sicherheit der Erlösung, wenn man zum Märtyrer wird und ein paar Ungläubige mitnimmt. Christus bietet bessere Möglichkeiten.“ Sasha nickt zustimmend zu dieser Behauptung, die nicht einmal im reaktionären Wahhabismus Lehrmeinung ist. Überhaupt beobachte man steigendes Interesse an Konvertierung auch bei Muslimen, die hier leben würden, sagt Stefan. Er hat offensichtlich sein Lieblingsthema gefunden. Das teilt er mit vielen christlichen Fundis. Auch in der erzkatholischen Christen-Partei Österreichs wird bei Treffen gerne die massenhafte Konversionslust von Muslimen herbeigeredet. So, wie die Ureinwohner Amerikas die Missionare still herbeigesehnt hätten, wenn man Joseph Ratzinger glaubt.

Wie man auf das Thema gekommen ist, weiß Stefan selbst nicht mehr. „Ach ja, wir haben vom Ebenbild Gottes geredet.“ Er hat den Faden verloren. Das kommt selten vor bei ihm. Der Sergeant der Heilsarmee missioniert seit Jahren. Er ist offenkundig geschult, Gespräche zu leiten und evangelikale Interpretationen der Welt bei Bedarf fließen zu lassen wie ein Wasserfall.

Das Furnier der Missionare

Den YMCA verbindet man hierzulande eher mit dem Song der Village People als mit Missionierung. Dass man nicht mit dem reichlich abgespielten Disco-Song in Verbindung gebracht werden will, mag ein Grund sein, warum der Wiener Ableger das deutsche Kürzel „CVJM“ trägt, „Christlicher Verein Junger Menschen“. Das ist hierzulande nur Insidern ein Begriff. Das mag auch daran liegen, dass es neben Wien und Graz keine bedeutenden Niederlassungen zu geben scheint.

Die zwei Vereine arbeiten offenbar auch nicht zusammen. Sie verwenden unterschiedliche URLs, cvjm.at in Graz und ymca.at in Wien und verlinken auffälligerweise nicht einmal aufeinander. Im Vergleich zur Homepage des deutschen Dachverbandes tragen beide den Missionierungsgedanken vor sich her. Der Wiener CVJM fungiert als Scharnier verschiedener evangelikaler Missionierungsversuche. Sasha am Infostand ist der Vereinssekretär. Stefan engagiert sich neben der Heilsarmee auch dort. Die drei anderen Zettelverteiler hat man auch über den CVJM rekrutiert, wie Stefan sagt.

Zielgruppe einsame Menschen

Es sind Männer, die irgendwann in Wien gestrandet sind. Einer ist Araber, die zwei anderen scheinen vom Balkan zu stammen. Irgendwann werden die meisten einen Zettel des YMCA in die Hand gedrückt bekommen haben. „Lust auf Freundschaft?“ steht dort und: „Langeweile? Lust auf etwas anderes? … und SCHLUSS mit Einsamkeit.“ Von Christentum und Missionierung steht nichts auf den Zetteln. Nicht einmal das Kürzel CVJM wird erklärt. Sehr zurückhaltend und niederschwellig für eine Einrichtung, die ihr Selbstverständnis so beschreibt: „Der Verein hat das Ziel, jungen Leuten in der Großstadt Glaubens- und Lebensorientierung zu vermitteln.“

Wie viele der Eingeladenen auf Dauer diesen Preis für das Ende ihrer Einsamkeit zahlen wollen, ist eine Frage, auf die man vermutlich weder von Sasha noch von Stefan Antwort bekommen wird. Ich werde auch eingeladen. „Bist du schon über 30?“ „Leider ja.“ „Das hätt ich dir gar nicht angesehen.“ Kurzes Überlegen, ob ich noch in das Jugendcafé passen würde, das mittwochs und sonntags im CVJM-Hauptquartier in siebten Wiener Gemeindebezirk  geöffnet hat, keine fünf Gehminuten vom Westbahnhof entfernt. Es wird von Stefan organisiert. Ehe ich’s mich versehe, habe ich einen Zettel vor mir liegen, man bittet mich um meine E-Mail-Adresse. Wenn die Missionare einen haben, der mit ihnen redet, wollen sie ihn am liebsten festhalten. Im übertragenen Sinn.

Born again Christians

Wobei es nicht nur darum geht, neue CVJM-Mitglieder zu rekrutieren. Sie sollen evangelisiert werden, ganz nach dem Vorbild der „wiedergeborenen Christen“ in den USA, so, wie es Stefan selbst gegangen ist. „Ich war früher auch so“. Damit meint er nicht religiös, vielleicht auch lebensfreudiger. „Dann habe ich mit 32 Jahren Jesus entdeckt und Er hat mich seitdem nicht mehr losgelassen.“ Ein kurzer Augenblick, in dem Stefan etwas über sich verrät. Sonst will er immer etwas vom Gegenüber wissen oder spricht über die Welt im Allgemeinen. So kann man Gespräche leiten, bleibt für das Gegenüber schwer fassbar und kann selbst in die Tiefen des Gesprächspartners eindringen. Ob es Erfahrung ist, Selbstschutz oder Ergebnis der Rhetorikseminare, von denen er mit Sicherheit einige durchlaufen hat, ist unklar. Gut zehn Jahre muss sein „Erweckungserlebnis“ her sein. Zumindest die letzten vier oder fünf Jahre hat der gebürtige Norddeutsche in Wien verbracht, wie die Internetrecherche zutage fördert. Von selbst würde er diese Details vermutlich nicht im ersten Gespräch preisgeben.

Was Stefan dazu gebracht hat, Menschen mehr oder weniger ungebeten seine religiöse Einstellung zu vermitteln, bleibt trotz mehrfachen Nachfragens ebenfalls eher vage. Stefan schildert lieber Überlegungen, die man von jedem überzeugten christlichen Missionar bekommen würde. „Jesus gefunden zu haben, ist der Weg zur Erlösung und ist eine frohe Botschaft. Es wäre egoistisch von mir, wenn ich das für mich behalten würde. Ich könnte auch sagen: Ich habe den Weg gefunden und die anderen bleiben am Ende der Welt übrig. Aber das wäre egoistisch von mir.“ Ob die anderen die strengen Lebensregeln der Evangelikalen samt starkem sozialen Druck auch als Bereicherung empfinden würden, bleibt bei diesem Selbstbild außen vor. Ganz gleich bleibt, ob das Gegenüber ohne Religion glücklich ist. Froh sein kann laut diesem Selbstverständnis nur, wer sich ganz dem Christentum zuwendet. Für Stefan ist dieses Bild das Christliche schlechthin. Wahrer Christ ist nur, wer andere bekehren will.

Misserfolge werden ausgeblendet

Das mag theologisch und historisch eine richtige Interpretation sein. Mit der Lebensrealität selbst der meisten Pfarreien in westlichen Breiten hat das wenig zu tun. Das mag ein Grund sein, warum die Missionierungsaktionen am Westbahnhof von denkbar wenig Erfolg gekrönt sind. Die Missionare stört das offenbar nicht einmal auf Dauer. Diesen Teil der Wirklichkeit können sie ausblenden. Wenn von ein paar tausend Leuten, die jeden Mittwochnachmittag an ihnen vorübergehen auch nur einer beim CVJM vorbeischaut, wird das als Riesenerfolg gefeiert.

Jeder „gerettete“ Mensch ist für diese Leute ein Fortschritt. Zweckoptimismus gepaart mit religiösem Fanatismus und der Zuversicht, dass langjährige Missionierungsarbeit auch aus den evangelikalen Außenseitern eine Bewegung mit gesellschaftlichem Einfluss machen kann. Die vielleicht auch in Österreich die Frage stellen kann, ob Evolution in der Schule unterrichtet werden soll oder nicht doch abenteuerliche religiöse Interpretationen der Wirklichkeit als gleichwertig gesehen werden sollen. Das macht aus den eher schrulligen Missionaren des Untergrunds am Wiener Westbahnhof zumindest in ihrem Selbstverständnis die Avantgarde einer neuen Gesellschaft. Die Missionare nennen sich christlich und überkonfessionell. Die meisten Menschen würden die gleiche Gesellschaft als restriktiv und reaktionär bezeichnen. Damit zu tun haben wollen sie offenbar nichts.

Was die Missionare nicht davon abhält, auch am nächsten Mittwochnachmittag am Wiener Westbahnhof zu stehen.