Die Historikerin Katharina Stengel legt mit "Nationalsozialismus in der Schwalm 1930-1939" eine Fallstudie zum Thema bezogen auf den ländlichen, mittelhessischen Raum vor. Darin arbeitet sie aus den Archiven und der damaligen Presse interessante Informationen zur Durchdringung der damaligen Gesellschaft und dem Antisemitismus im Alltagsleben auf.
Wie gelang es einer rechtsextremistischen Partei im ländlichen Raum binnen zwei Jahre von zwei auf 40 Prozent der Stimmen zu klettern? Diese Frage erörtert anhand einer historischen Fallstudie die Historikerin Katharina Stengel in ihrer Studie "Nationalsozialismus in der Schwalm 1930-1939". Darin blickt sie auf den südlich von Kassel gelegenen früheren Wahlkreis Ziegenhain. Dort hatte die NSDAP 1928 2,3 Prozent (reichsweit 2,6 Prozent), dann 1930 40,8 Prozent (reichsweit 18,3 Prozent) und schließlich 1933 77,9 Prozent (reichsweit 43,9 Prozent) der Stimmen erhalten. Wie erklärt sich die besondere Anfälligkeit dieser Gegend für derartiges Wahlverhalten? Eine Antwort ist nicht nur hinsichtlich der dortigen Region und früheren Zeit von Interesse. Man kann daraus auch für die Gegenwart lernen. Die Autorin, die zwischen 2013 und 2015 im Auftrag der C.H.-Schmitt-Stiftung zum Thema forschen konnte, blickt dazu auf den besonderen Raum. Die ländlich-protestantischen Gebiete im nördlichen Hessen waren damals nahezu alle Hochburgen der NSDAP.
Als weitere Besonderheiten nennt Stengel "die ländliche Struktur, die geringe Zahl von Industriearbeitern, die enge Bindung an die evangelische Kirche und die Tatsache, dass sich in der Region um die Jahrhundertwende eine starke Antisemiten-Bewegung etabliert hatte" (S. 18). Auch für die Schwalm gilt, dass die Dörfer und nicht die Städte die Wählerbasis stellten. Diese Entwicklung nahm nach 1933 noch zu und führte mitunter zu Stimmabgaben im 100 Prozent-Bereich. Befindlichkeiten von sozialer Not und ökonomischen Umbrüchen konnten von der aktiven NS-Bewegung nach Propagandazügen über die Dörfer immer wieder erfolgreich zugunsten einer Zustimmung für sie mobilisiert werden. Dabei kam auch der Gewinnung örtlicher Autoritäten hohe Bedeutung zu, wie am Beispiel der protestantischen Pfarrer anschaulich herausgearbeitet wird. Die Autorin musste mangels einschlägiger Forschung dazu die nötigen Informationen mühsam aus alten Archiven und damaligen Zeitungen aufarbeiten. Dabei reichte ihr Blick aber noch weiter:
Danach beschreibt sie die Machübernahme und den Beginn des "Dritten Reichs" im damaligen Kreis Ziegenhain. Die Machtübernahme in den kommunalen und regionalen Gremien und die "Säuberung" der Gemeindevertretungen und der Verwaltung werden anschaulich geschildert. Gleiches gilt für die Durchdringung der Gesellschaft mit einschlägigen ideologischen Botschaften. Ein Foto von einem SA-Aufmarsch in Treysa oder von judenfeindlichen Spottfiguren auf der Hutzel-Kirmes macht dies deutlich. Ausführlich geht es um die NS-Sozial- und Wirtschaftspolitik im Kreis, die "Rassenhygiene" und Zwangssterilisierung ebenso wie um das Alltagsleben unter dem Nationalsozialismus in der Schwalm. Beachtenswert sind die Ausführungen zu Einstellung und Verhalten der protestantischen Kirche. Dort begrüßte man die neuen Machthaber sehr schnell. Erst als es "um die unmittelbaren Belange der Kirche ging, um ihre institutionelle Autonomie" (S. 170) kam es zu Konflikten mit den Nationalsozialisten.
Und schließlich geht es um das besonders dunkle Kapitel der damaligen Zeit: die Judenverfolgung. Die bereits seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts besonders stark bestehenden antisemitischen Stimmungen eskalierten. "Wilde Aktionen" und staatliche Maßnahmen wechselten sich ab. Mit der "Arisierung" gab es auch Profiteure von der Enteignung jüdischer Geschäfte. All dies wird an konkreten Beispielen anschaulich deutlich gemacht. Dabei erinnert Stengel an das Schicksal des jüdischen Tierarztes Abraham Höxter, aber auch an zwei heute nahezu vergessene Helfer von ihm. In der Gesamtschau hat die Studie das Wissen um jene Jahre bereichert. Die Autorin entriss viele Details der Geschichte dem Vergessen. Bei den allgemeinen Darstellungen bleibt sie etwas oberflächlich, ihre Stärken liegen erkennbar in der Archivarbeit. Wohlmöglich wäre eine stärker analytisch ausgeprägte Gesamteinschätzung wünschenswert gewesen. Aber auch so hat man es mit einer beachtenswerten Fallstudie zu tun, nicht nur für Menschen aus der Schwalm.
Katharina Stengel, Nationalsozialismus in der Schwalm 1930-1939, Marburg 2016 (Schüren-Verlag), 352 S. 19,90 €