Werte und Moral

Seit den immer wieder (mit Recht?) zitierten Terroranschlägen vom 11.9.2001 haben die Religionen anscheinend weltweit sprunghaft an Bedeutung zugenommen. Grund genug für 500 Geisteswissenschaftler aus Deutschland, Österreich und der Schweiz sich 2007 in Lech am Arlberg zu einem Kongress zusammenzufinden, um über die berühmte Gretchenfrage Wie hältst du es mit der Religion?, zu diskutieren. Dazu berichtete der Tagesanzeiger:

„Dissens ergab sich bei der brisanten Frage, ob die Moral an religiöse Prämissen gebunden ist, oder ob es sie jenseits der Religion geben kann? Mit andern Worten: Gibt es eine rein säkulare Sittlichkeit, oder ist diese, womöglich historisch bedingt, von religiösen (Text)Quellen gespeist? Diese von Dostojewski zugespitzte Problematik (‘Wenn es keinen Gott gäbe, wäre alles erlaubt’) führte zu heftigen, in der Natur der Sache liegenden Diskussionen unter den rund 500 Zuhörerinnen und Zuhörern. Doch wie schon bei der Gretchenfrage, gab es auch darauf keine schlüssige oder (end)gültige Antwort. Denn um dies zweifelsfrei klären zu können, müssten wir gleichsam von außen auf uns selbst schauen – und damit eine gottgleiche Position einnehmen. Womit alles wieder von vorne beginnen würde, und das heißt bei Immanuel Kant: Argumente der Vernunft, so der Meister der Aufklärung, können zur Klärung von Glaubensfragen nichts beitragen. Diesen kleinen Trost wenigstens konnte der wissenschaftliche Kongress den Teilnehmern mit auf den Weg in die Niederungen des säkularen Alltags geben.“(10)

Obwohl man sich in Lech nicht über die religiösen Prämissen für die Moral einigen konnte, wird die vielfach benutzte These vom Moralverfall durch Säkularisierung immer noch angewandt. Diese These „taucht regelmäßig auf, wenn es um den Machterhalt und die finanzielle Ausstattung kirchlicher Institutionen geht, und sich der Glaube durch den evolutionären Denkstil des neuen Atheismus oder die individualistische Marktdoktrin herausgefordert sieht. (…) Die Apologie des Glaubens durch seinen moralischen Mehrwert kam im neunzehnten Jahrhundert als Antwort auf die Säkularisierung auf. Der katholische Sozialphilosoph Hans Joas nennt sie … zu Recht eine schwache Defensivposition, die den Wert eines Glaubens an seinen Nebenerträgen misst....“(11) Er sieht die Zeit für eine empirische Überprüfung gekommen. Das Mitglied im Zentralkomitee der Katholiken verneint den Moralverfall durch Säkularisierung klar und deutlich. Unter anderem argumentiert er, in religiösen Gesellschaften wie den USA gäbe es Gewalt und Amoral sehr viel stärker als in Europa.

Die Transzendenz schlägt zurück

Flugs erhielt er Kontra aus religiösen Kreisen. Andreas Püttmann (12) erweiterte die empirischen Grundlagen gegenüber Joas Beispielen und wandte somit den funktionalistischen Ansatz an, der wie Pollack ausgeführt hatte, durch den multimedialen Ansatz ausgetauscht werden müsste. Darüber hinaus führte er in seine Argumentation transzendente Elemente ein, indem er das „universale Menschenbild der Religion“ der „skeptischen säkularen Anthropologie“ entgegensetzte. Der Lohn vor einem über-weltlichen Gericht ist eine Dimension, an die der Skeptiker nicht glaubt. Er müsste nämlich die von der Religion propagierte Erlösungsperspektive akzeptieren. Die unfassbare Transzendenz erlaubt aber Dogmatismus und religiösen Eifer. Sie gibt dagegen keine Antwort auf die Frage Verfällt die Moral als Folge der Säkularisierung?. Wer mit der Transzendenz argumentiert, befindet sich auf einem hohen Ross, das er nicht verlassen will. Die Niederungen der Erfahrungen übergeht er geflissentlich. Für ihn besteht das nicht, was nach seiner Theorie nicht sein darf. Basta! Die Bibel hat immer Recht! Aber welche Auslegung gilt?

Erstveröffentlichung des Artikels in der aktuellen MIZ 4/2012

Anmerkungen

(1) Zitiert nach: Zollitsch: Zölibat „nicht theologisch notwendig“, in: faz.net vom 17.2.2008 (Zugriff 17.2.2008).
2 Thomas Petersen: Christliche Werte haben Bestand, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung  (FAZ) vom 26.9.2012.
3 Thomas Klatt: Die dritte Konfession, in: Neues Deutschland vom 1.6.2011.
4 Carsten Bohl: Offensive oder Rückzug, in: Domradio vom 21.10.2011; (Zugriff  21.10.2011).
5 Ulrich Schnabel: Der angepasste Glaube, in: Die Zeit vom 12.2.2009.
6 Joachim Frank: Engel überflügeln Jesus, in: Frankfurter Rundschau vom 26.1.2012.
7 Ebenda.
8 toe: Theologie in modernem Ambiente, in: FAZ vom 19.10.2004.
9 Detlef Pollack: Abkehr von der Säkularisierungsthese, in: Frankfurter Rundschau vom 11.5.2004.
10 Guido Kalberer: Die unverhoffte Wiederkehr der Religionen, in: Tagesanzeiger vom 28.9.2007; (Zugriff 28.9.2007).
11 Zitiert nach: Thomas Thiel: Die Glaubens-dividende, in: FAZ vom 31.10.2012.
12 Vgl. ebenda.