Damit waren sie die erklärten Gegner einer „anthropologischen Wende“ in der Theologie, die den scholastischen Grundsatz, der Glaube gehe dem Denken voraus, ablehnten und formulierten, der Glaube „setze Wissen voraus und Wissen nach“. Dieses Grundbedürfnis zahlreicher gebildeter Katholiken, „die moderne Philosophie und katholischen Glauben verbinden und vom Selbstbewusstsein zum religiösen Bewusstsein schreiten wollten“, fand in Pius IX. keinen Fürsprecher, der im Dezember 1854 anlässlich des neuen Mariendogmas der Unbefleckten Empfängnis erklärt hatte: „Die Allerseligste Jungfrau … möge verleihen, dass auch dieser verderbliche Irrtum des Rationalismus, welcher in dieser gar traurigen Zeit nicht nur die bürgerliche Gesellschaft, sondern auch die Kirche so sehr betrübt und plagt, mit der Wurzel ausgerissen werde und verschwinde.“
Lehramt, Unfehlbarkeit, Jurisdiktionsprimat
Kleutgen, der, während seiner Zeit als ‚Beichtvater‘ im Kloster, maßgeblich das Konzept des sogenannten „ordentlichen Lehramts“ – das täglich ausgeübte und verbindliche Lehramt von Papst und Kurie - mitentwickelt hatte, wurde wegen dieser äußert wichtigen Angelegenheit mit sofortiger Wirkung vom Papst begnadigt. Ebenso war er an der Formulierung der Konstitution „Pastor aeternus“ maßgeblich beteiligt, mit der 1870 das Unfehlbarkeitsdogma und das päpstliche Jurisdiktionsprimat auf dem Konzil definiert wurde.
Auch innerhalb des Jesuitenordens hatte es eine heftige Gegenwehr gegen die Neuscholastik gegeben, aber Kleutgen hatte keine Probleme damit gehabt, seinen theologischen Hauptopponenten in den „himmlischen Marienbriefen“ innerhalb der Jesuiten als Homosexuellen zu diskreditieren und auszuschalten.
Das Problem, dass ein wegen Giftmischerei und Häresie Verurteilter derart vom Papst mit wichtigen Arbeiten zum Konzil betraut wurde, hatte eine historische Konsequenz: „die ganze heikle Angelegenheit, solange es geht, unter den Teppich kehren … die Sache so weit wie möglich herunterspielen und verharmlosen, wenn nötig auch nur die formale Wahrheit sagen, die eigentlich interessanten Fakten aber bewusst nicht anzusprechen.“
Als Säkularer steht man erstaunt vor so einer Arbeit, die detailreich darstellt (und mit 909 Anmerkungen belegt), wie sehr Religion für persönliche Zwecke instrumentalisiert wird und Kirche das jeweils historische Produkt von menschlichen Machtkämpfen, Intrigen und weltlichen Ambitionen ist – und dennoch einen gläubigen Katholiken in seinem Glauben anscheinend nicht irritiert.
Ein sehr lesenswertes und nachdenklich machendes Buch.
Carsten Frerk
Hubert Wolf: Die Nonnen von Sant'Ambrogio: Eine wahre Geschichte. München: Beck, 544 Seiten, ISBN 978 3 406 64522 8, EUR 24,95.