BERLIN. (hpd/HLS) Deutschlands bekanntester Freitodbegleiter, der Arzt Christian Arnold, fordert im Interview einen „vernünftigen Weg“ in der Sterbehilfe. Er meint: „Spontane Entschlüsse, sein Leben zu beenden, sind schlechte Entschlüsse.“
Auf die DGHS-Aktion „Ärzte sollen helfen dürfen!“ hatten sich fast 200 Mediziner gemeldet, die sich mit ihrer Unterschrift für die Wahrung ihrer Gewissenfreiheit bei der Freitodbegleitung aussprachen. Nur wenige bekennen sich öffentlich dazu, Patienten beim selbstbestimmten Sterben die nötigen Hilfsmittel bereitzustellen. Einer von ihnen ist der mittlerweile sehr bekannte Berliner Urologe Uwe-Christian Arnold. Fernsehauftritte und Zeitungsinterviews machten viele Hilfesuchende auf ihn aufmerksam. Wie geht er damit um? HLS-Redakteurin Wega Wetzel traf den Arzt zu einem Gespräch.
HLS: Die Themenwoche in der ARD war nicht das erste Mal, dass Sie im Fernsehen auftraten. Aber ich kann mir vorstellen, dass gerade Ihr Auftritt bei „hart, aber fair“ viel ausgelöst hat.
Arnold: Ich erhalte bis zu 20 Anfragen am Tag. Wobei es drei Gruppen gibt. Die einen haben ein konkretes medizinisches Problem, was sie mit dem Gedanken spielen lässt, ihr Leben vielleicht mit meiner Hilfe oder selbst zu beenden. Dann gibt es die, die grundsätzlich einmal den Kontakt herstellen wollen – für alle Fälle -, und dann die, die einfach nur ihre Meinung äußern und mir ihre Sympathie bekunden.
Wie schnell entscheidet es sich, ob Sie einen Menschen mit einem medizinischen Problem unterstützen? Wann denken Sie, dass es nicht sinnvoll ist, zu helfen?
Meistens betrifft es Menschen, denen man helfen kann und auch sollte, wenn es mal so weit ist. Aber die meisten sind eben noch nicht in diesem Stadium, sondern wollen sich nur informieren. Sie sagen dann: „Ich habe keine Eile, wenn Sie mal Zeit haben, wir können das auch mal in zwei bis drei Monaten oder im Frühjahr besprechen. Daran sieht man schon, dass einfach nur der Kontakt für die Leute wichtig ist, damit sie etwas in der Hand haben und das beruhigt sie, lässt sie über ihr Vorhaben noch einmal nachdenken.
Wie oft kommt es vor, dass Sie irgendwo hinkommen, eigentlich alles besprochen ist – und Sie merken, das ist jetzt nicht richtig.
Ich merke natürlich im Vorgespräch, wenn irgendetwas nicht stimmt. Ich frage ja intensiv alle medizinischen Dinge ab, ob sie richtig therapiert sind, ob sie austherapiert sind (ein schreckliches Wort) oder wenn sie aus irgendwelchen Gründen sich nicht therapieren lassen wollen. Bin ich der Meinung, dass dies nicht der richtige Weg ist, dass man da noch eine kleine Chance hat, denke ich – ohne paternalistisch wirken zu wollen -, dass die Menschen meinen möglicherweise in eine andere Richtung weisenden Rat akzeptieren. Ich bin zuerst einmal Arzt, und mein Rat sollte in erster Linie zum Leben hinführen.
Ich bin ja nicht derjenige, der den Leuten nur beim Suizid hilft, sondern ein Arzt, der auch was versteht von seinem Fach. Bei fachfremden Leiden kann ich auf mehrere Fachärzte zurückgreifen, sogar solche, die meine Tätigkeit nicht unbedingt für richtig halten. Zum Beispiel in dem großen Bereich der onkologischen Gynäkologie, wo ich mich nicht gut auskenne, frage ich den Fachmann. Der lässt sich dann die Telefonnummer geben und ruft den Patienten an, um ein intensives fachliches Gespräch zu führen. In etlichen Fällen konnte so eine Lebensverlängerung oder Abrücken vom eigentlichen Vorhaben erreicht werden.
Also sind es erst mal reine therapeutische Gespräche. Es geht nicht gleich um die Überweisung so zu sagen zu einem anderen Suizidbegleiter?
Es geht erst mal um die Sache und ich sage o.k., wenn man helfen soll, dann werden wir ihm helfen. Wenn ich eine Aussage hasse, dann den blöden Satz: „Sie sind austherapiert“. Das ist so dumm, dem Patienten so etwas zu sagen. Da stimmt doch etwas nicht in unserer Medizinausbildung, die nur noch auf Erfolg und auf Forschung aus ist. Wenn jemand sich hilfesuchend an mich wendet und sterben will, der keine ausreichende Schmerztherapie hat, dann frage ich mich, was ist in den Krankenhäusern los? Warum lassen die denn so einen Menschen ohne adäquate Beratung oder Schmerzmedikamente? Zum Beispiel besuchte ich mal eine Dame, die nur noch sterben wollte, weil sie wahnsinnige Kopfschmerzen hatte. Dann stellte sich heraus, dass sie infolge einer Bestrahlung wegen eines Tumors ein Gehirnödem bekommen hatte. Da habe ich ihr Cortison und ein Schmerzpräparat gegeben und sie umgehend in die Klinik zurück gejagt. Die Schmerz-Ambulanz-Ärzte waren ziemlich bedrückt.
Sind durch die zunehmende Bekanntheit auch andere Ärzte auf Sie zugekommen, die ähnlich denken, aber noch nicht so viel Erfahrung haben?
Das ist jetzt im Augenblick durch die Sendung angeschoben worden, da haben sich einige gemeldet. Wir wissen, dass 37 Prozent der Ärzte unter bestimmten Umständen Hilfe zum selbstbestimmten Sterben leisten würden. Dann sollten sich doch von diesen 37 Prozent einige öffentlich bekennen. Wir haben in Deutschland 400.000 Ärzte, soweit ich weiß, davon die Hälfte Klinikärzte. Da müssen doch genügend Befürworter an einen Tisch zu holen sein, damit diese als starke Gruppe auftreten, zwar als Minderheit, aber doch als starke und zu beachtende Minderheit.
Wie lange wird es dauern, bis die Bundesärztekammer ihre Meinung dazu ändert?
Unter dem jetzigen Präsidenten wird sie ihre Meinung nicht ändern, denn Herrn Montgomery geht es um Macht und die Position und nicht um die Sache. Er war schon als Präsident des Marburger Bunds ein ausgesprochen autoritärer Mann, hat sich viele Feinde zugezogen. Was er da jetzt zu den Bonusverträgen der Chefärzte von sich gegeben hat, wie auch seine Bemerkungen zu den Bestechungen der Ärzte durch die Pharmaindustrie, das ist ausgesprochen schwach. Er verteidigt ja die beschuldigten Ärzte und Pharmaunternehmen sogar noch.
Und wie wird es in der Politik weitergehen? Im Moment haben wir eine klare Mehrheit, die eigentlich jede Form von Freitodbegleitung verbieten möchte. Im Moment sind Organisationen im Visier, bald vielleicht auch Einzelpersonen?
Man muss fürchten, dass so etwas kommt. Wenn man sich in der Politik auskennt, weiß man, wie das gemacht wird. Natürlich wissen die Leute, die dahinter stecken in der CDU/CSU - auch in anderen Parteien -, wie man solche Projekte managt. Z. B., indem man sie in der Tagesordnung ganz hinten positioniert, wenn die Abgeordneten schon müde sind oder keine Lust mehr auf lange Diskussionen haben. Dann kann man in einer Abstimmung manches durchdrücken. Das ist eine alte Taktik.
Was halten Sie von dem geplanten Gesetz § 217, das die gewerbliche Hilfe zur Selbsttötung verbieten will?
Das ist ein absolut schwachsinniges Gesetz. Ich persönlich bin gar nicht für Gesetze, aber nun gut, beim Schwangerschaftsabbruch hat es ja auch ein Gesetz gegeben. Primär sollte man eine Regelung finden, mit der alle leben können. Es sollen sich auch alle beteiligen, auch die Kirchen. Aber es muss irgendwas passieren.
Eine gesamtgesellschaftliche Regel oder Vereinbarung …
… die aus meiner Sicht aus der Ärztekammer kommen müsste, in dem sie dort einfach mal leichte, liberalere Richtlinien erstellt, wie es ja auch der Fall war in den letzten Jahren. Prof. Hoppe hatte eine vorsichtige Öffnung angekündigt, die er dann aber ganz schnell zurückgezogen hat, bevor er ausgeschieden ist und Herr Montgomery ist dann in die ganz andere Richtung gegangen.
Ist es denn immer nur der Schmerz, der die Leute umtreibt und den Wunsch nach Freitodbegleitung wachsen lässt?
Es ist vor allen Dingen die Würdelosigkeit der Situation. Der Schmerz steht nicht so um Vordergrund. Es ist immer die elende Situation, in der sich die Leute befinden, die Abhängigkeit von anderen, vor allen Dingen, das würdelose Dahinsiechen und die Aussicht, es wird nicht besser und ich muss mir das nicht bis zum Ende antun.
Und das ist nicht unbedingt eine Depression?
Depressionen sehe ich ganz selten, höchstens mal eine depressive Verstimmung. Die Leute, die ich kennenlerne sind in der Regel urteilsfähiger als der normale Bürger. Und vor allem urteilsfähiger, als manche sogenannte Fachleute oder politische Funktionäre.
Können Sie unterscheiden, ob jemand aus einer depressiven Verstimmung heraus in den Freitod gehen möchte und sich an Sie wendet oder ob er wirklich freiverantwortet und gut überlegt hat?
Ja, natürlich, das merkt man sofort im Gespräch, wenn jemand sehr stark psychische Probleme hat. Ich sage dann: Sie sollten nochmal zum entsprechenden Facharzt gehen, der das dann mit Ihnen nochmal bespricht. Ich glaube, Sie brauchen jetzt etwas anderes als die Hilfe, weswegen wir uns getroffen haben. Das spürt man als Arzt sofort, auch wenn man nicht vom Fach ist. Ich verweise dann an den Hausarzt oder rufe einen befreundeten Psychiater an und vermittle den Kontakt.
Kommt es auch vor, dass die Leute enttäuscht sind, weil Sie sagen, die Voraussetzungen für eine Freitodbegleitung sind nicht da?
Das kommt schon vor und ist sicherlich enttäuschend für die Betroffenen, aber beschwert hat sich noch keiner über meine Entscheidung. Die Menschen kleben doch am Leben. Auch wenn sie im Moment nicht das bekommen haben, was sie erwartet haben, akzeptieren sie doch die ärztliche Autorität. Allein das Gespräch bewirkt schon kleine Wunder.
Es gibt ganz oft den Wunsch von Menschen, dass sie die klassische „Sterbe-Pille“ gerne im Nachtkästchen hätten. So für alle Fälle. Gibt es die Pille schlechthin, wo kann ich das bekommen?
Es gibt keine Pille schlechthin. Ob es sie geben könnte oder ob man eine herstellen könnte, kann ich nicht beurteilen. Das Entscheidende ist hier, die Menschen haben zu Hause in ihrem Nachtkästchen ein Packung Aspirin und sie haben eine Packung Schlafmittel. Die nehmen sie ja nicht ständig ein, sondern nur dann, wenn sie Kopfschmerzen haben oder wenn sie mal nicht schlafen können. Darum soll man eigentlich auch ein Medikament zu Hause haben, das dann natürlich entsprechend verwahrt werden muss, damit es nicht in falsche Hände gerät. Ein Medikament, das man dann nimmt, wenn man so weit ist, und zwar ohne ärztliches Gutachten, ohne psychiatrisches Gutachten usw. Das ist eine Forderung, die stammt nicht von mir, sondern die kommt von einem bekannten Schriftsteller, der sterbenskrank ist; das ist natürlich provokativ. Er will eben niemand fragen, er will es ja selber entscheiden. Und das kann ich gut verstehen.
Der Schwangerschaftsabbruch muss ja auch nicht am nächsten Tag erfolgen, sondern braucht seine Zeit: medizinische und sozialpsychologische Beratung etc. Das Gleiche gilt für das Sterben. Wer wirklich diesen Weg gehen will, hat sich das lang und gründlich überlegt. Spontane Entschlüsse, sein Leben zu beenden, sind schlechte Entschlüsse. Kurzschlussreaktionen, sein Leben zu beenden, würde es vielleicht weniger geben, wenn die Möglichkeit bestünde, offiziell Sterbehilfe zu bekommen
Da hätten wir also eine reelle Chance, die „harten Suizide“ zu verringern?
Man wird die Gesamtzahl der Suizide nicht auffällig verringern, aber die harten Suizide bei kranken Menschen würden zurückgehen. Die Frauen machen ja jetzt auch keine Schwangerschaftsabbrüche mehr in der früheren Form mit Stricknadeln und unglaublichen Instrumenten, sondern das läuft ja alles irgendwo legal ab. Einige sind dabei, die dann doch keinen Schwangerschaftsabbruch machen, weil sie sich haben überzeugen lassen, das Kind zur Adoption oder zu einer Pflegefamilie zu geben, weil sie nach einer Beratung ihre Meinung geändert haben. Der Abtreibungswunsch ist ja nicht das allerletzte Wort einer aus welchen Gründen auch immer betroffenen Frau. Sondern unter dem Aspekt der Möglichkeit, es tun zu können, kommt man da vielleicht zu einer anderen Lösung bis dahin, das Kind vielleicht sogar zu akzeptieren.
Und das ist der vernünftige Weg, daran sollten wir uns orientieren. Der sollte für die Sterbehilfe auch möglich werden. Schlicht und einfach.
Vielen Dank für das Gespräch.
Erstveröffentlichung in der DGHS-Zeitschrift "Humanes Leben - Humanes Sterben" (HLS 2013-2).