Kommt der Kopftuchzwang in der Türkei?

Eine prominente türkische Feministin geht davon aus, dass Erdoğan über die Freitagspredigt die Einführung der Kopftuchpflicht in der Türkei vorbereiten lässt.

Als die islamistische AKP und der heutige türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan im Jahr 2002 in der Türkei an die Macht gewählt wurden, gab sich Erdoğan moderat: "Wir schreiben niemandem seinen Glauben, Lebensstil oder seine Kleidung vor." Heute, fast ein Vierteljahrhundert später, zeigt sich, dass die Worte des damaligen Polit-Aufsteigers das waren, was Kritiker schon seinerzeit befürchtet hatten: eine Täuschung. Unter Erdoğan hat sich die einst von Kemal Atatürk gegründete, sich selbst als laizistisch begreifende türkische Republik immer weiter islamisiert: Bis zum Streit 2012 hatte Erdoğan der islamisch-konservativen Gülen-Bewegung immer größeren Einfluss auf staatliche Bereiche gegeben. Erdoğan baute die religiös ausgerichteten İmam-Hatip-Schulen aus und führt über Verbote und Preiserhöhungen einen Krieg gegen Alkohol und Zigaretten. Längst ist es auch an türkischen Universitäten wieder erlaubt, Kopftuch zu tragen. Nun könnte Erdoğan den nächsten Schritt vorbereiten.

Am 1. August wurde in 90.000 Moscheen der Türkei eine von der direkt von Erdoğan gelenkten Religionsbehörde Diyanet, der auch der in Deutschland aktive Moscheeverband DITIB untersteht, eine Predigt gehalten, die sich auf der Internetseite der Behörde auch auf Deutsch nachlesen lässt. Ihr Thema ist die "Schamhaftigkeit":

"Die Verantwortung für Scham und Keuschheit ist für Männer und Frauen gleichermaßen verpflichtend. So heißt es in den Versen 30 und 31 der Sure an-Nur: 'Sprich zu den gläubigen Männern, dass sie ihre Blicke senken und ihre Scham bewahren sollen …' – 'Und sprich zu den gläubigen Frauen, dass sie ihre Blicke senken und ihre Scham bewahren sollen. Sie sollen ihre Reize nicht offen zeigen – außer was von selbst sichtbar ist – und ihre Kopftücher über den Brustschlitz ihres Kleides ziehen …'"

Die in Filmen, Serien oder Sozialen Medien als "normal" dargestellte Nacktheit sei keine Freiheit oder Mut, sondern ein Angriff auf die Familie, heißt es in der Predigt weiter. Das Erscheinen in unangemessener Kleidung in der Öffentlichkeit oder an offiziellen Orten sei eine Herausforderung selbst für die einfachsten Anstandsregeln. "Das ist nicht Modernität – das ist Rückständigkeit. Wer zum Verfall von Moral und Anstand schweigt, macht sich mitschuldig. Denn es ist die gemeinsame Verantwortung von uns allen, die Keuschheit, den Anstand und die Moral unserer Jugend zu schützen."

Für die gläubige türkische Schriftstellerin und Feministin Berrin Sönmez war dies der Anlass, als Reaktion auf die Rede ihr Kopftuch abzulegen, das sie bis dahin getragen hatte. Auf Mediascope sahen die Zuschauer sie am 1. August in einem Interview zum ersten Mal unverhüllt. "Ich bin seit langem skeptisch gegenüber dem Ansatz der Regierung, eine Politik zu entwickeln, die sich auf den Körper der Frau konzentriert und die Familienpolitik stärkt, während Frauen und Kinder in der Familie ignoriert werden. Denn ich befürchte, dass jeder dieser Ansätze zu Regierungsinitiativen führen könnte, die das Leben von Frauen erschweren und die Sicherheit von Kindern in der Familie, zu Hause und in der Gesellschaft gefährden – sowohl von Frauen als auch von Kindern."

Schon in den vergangenen Jahren sei die Zahl der Femizide gestiegen, nicht nur bei Frauen, die eine Scheidung anstreben. "In den Predigten des Direktorats für religiöse Angelegenheiten sehen wir keine Einwände gegen Korruption, Frauenmord oder Kindesmissbrauch. Wir sehen lediglich einen Versuch, Frauen, Kinder und die Gesellschaft unter dem Deckmantel der Religion zu manipulieren. Dies war ein wahrhaft gefährlicher Trend, und in der letzten Predigt sah ich, wie er Gestalt annahm."

Für Sönmez ist die Predigt ein Zeichen für einen Politikwechsel: "Wie wir seit Jahren beobachten, enthüllt die Regierung ihre Pläne manchmal über die Medien und löst damit öffentliche Diskussionen aus. Aber meist nutzt sie die Sprache der Diyanet, um Themen in der Gesellschaft zu verbreiten; sie lässt dies durch Fatwas, Predigten tun."

Sönmez geht nun davon aus, dass die Predigt Teil einer Kampagne ist, die eine staatliche Kopftuchpflicht vorbereiten soll. "Ich habe immer gesagt, das wäre in der Türkei nie geschehen. Aber ich glaube, jetzt steht es kurz bevor."

Die DITIB hat die Predigt vom 1. August nicht übernommen. Ihr Thema an diesem Tag war: "Das größte Geschenk an unsere Kinder: Eine gute Erziehung". Darin wurden die Kleinen vor dem jüngsten Gericht gewarnt.

Sollte die Kopftuchpflicht in der Türkei tatsächlich kommen, wird das Kopftuch auch in Deutschland sichtbarer werden. Und damit wüchse auch der Druck auf andere Frauen, diesem Beispiel zu folgen.

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