Kommentar

Karikaturenstreit in der Türkei: Vom Gerücht des gemäßigten Islamismus

moschee_ankara.jpg

Die Kocatepe-Moschee (türkisch: Kocatepe Camii) ist die größte Moschee der türkischen Hauptstadt Ankara
Die Kocatepe-Moschee

Ende Juni veröffentlichte das türkische Satire-Magazin LeMan eine mutmaßliche Mohammed-Karikatur, die die alten Konflikte zwischen laizistischen und islamistischen Kräften im Land wieder aufflammen lässt. Das Regime in Ankara und sein islamistischer Mob reagieren wie gewohnt mit Belagerung, zerbrochenen Fenstern und klickenden Handschellen. Kein Vorfall ohne Vorgeschichte und Paradebeispiel dafür, was es bedeutet in einem Land zu leben, in dem religiöse Fundamentalisten die Macht übernommen haben.

Die türkische Justiz hat wiederholt Bürgermeister der oppositionellen Partei CHP festnehmen lassen, nachdem bereits im März der Istanbuler Bürgermeister und Präsidentschaftskandidat Ekrem İmamoğlu verhaftet worden war. Ein Schicksal, das sich die kemalistischen Politiker mit dem seit 2016 inhaftierten ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş, teilen. Somit "beseitigt" das AKP-Regime, unter Führung des Islamisten Recep Tayyip Erdoğan, nun auch die letzten Andersdenkenden auf dem Wege des "juristischen Jihads" im Kampf um die Vorherrschaft in der Türkei. In diesem Kontext sollte auch das Vorgehen gegen das Satiremagazin LeMan verstanden werden, welches als Institution der türkischen Opposition gilt. Ein Magazin mit Sitz im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu, der für sein pulsierendes Nachtleben und die vielfältige Kultur bekannt ist – sprich für alles, was den Islamisten ein Dorn im Auge ist.

Es dauerte nicht lange, bis ein islamistischer Mob die Redaktionsräume und ein Café des Magazins belagerte, nachdem die Zeitschrift Ende Juni eine Karikatur veröffentlicht hatte, die die Propheten Mohammed und Moses zeigen soll, die sich im Himmel über einer von Bombenangriffen erschütterten Stadt die Hand reichen.

Auch wenn die Redaktion umgehend dem Gerücht widersprach und darauf pochte, dass nicht der islamische Prophet gemeint sei, setzten die Islamisten in Ankara alles in Bewegung, um das verhasste Satiremagazin öffentlich an den Pranger zu stellen.

Politische Justiz und öffentlicher Pranger

Der türkische Innenminister, Ali Yerlikaya, gab auf der Onlineplattform X umgehend die Festnahmen von vier LeMan-Mitarbeitern bekannt und betonte, dass "diese abscheuliche Tat gegen unseren geliebten Propheten [...] die Strafe erhalten werde, die sie vor dem Gesetz verdient". Solchen Hetzkampagnen sieht sich LeMan seit jeher ausgesetzt, wobei vor allem die Solidarität mit den Opfern des Anschlags auf Charlie Hebdo das Magazin ins Fadenkreuz religiöser Hardliner gerückt hat. 2015 bis 2021 starben allein in Frankreich 250 Menschen bei islamistischen Terroranschlägen. Eine Blutspur, die man in Ankara eher verklärt statt zu bekämpfen.

"Wir haben nie jemandem nach dem Mund geredet. Unsere Aufgabe ist Kritik – manchmal hart, aber notwendig."
Tuncay Akgün, Chefredakteur von LeMan

Gerade diese Haltung ist kein Zufall, auch in dem Wissen, dass die AKP eine Partei ist, deren Gründer einst in der islamistischen Millî Görüş-Bewegung sozialisiert wurden. Und auch wenn Erdoğan die Bewegung verließ und seine eigene Partei gründete, so ließ er doch nie ihren religiösen Fundamentalismus hinter sich. Das nennen politische Verantwortliche in Europa heute einen "gemäßigten Islamismus", also Oppositionelle, die in Regime-Kerkern verrotten und nicht wie im iranischen Gottesstaat an Baukränen hängen. Ob Derartiges noch als Satire durchgeht, kann man gerne Menschen wie Başak Demirtaş fragen, die bereits seit neun Jahren auf eine Freilassung ihres Mannes wartet.

Religion und Strafgesetzbuch

Interessant ist bei all dem, dass die Istanbuler Staatsanwaltschaft, die formal Teil eines laizistischen Systems ist, gegen LeMan wegen Herabwürdigung religiöser Werte nach dem türkischen Strafgesetzbuch, Paragraf 216 ermittelt. Parallel dazu veröffentlicht der türkische Innenminister siegessicher Videos von LeMan-Mitarbeitern, die barfuß und mit Handschellen abgeführt werden. Auch hier wird deutlich, dass die Lust am öffentlichen Pranger allen religiösen Fundamentalisten innewohnt.

Und auch wir in Deutschland sollten uns nicht selbstgefällig zurücklehnen, denn bei uns berufen sich religiöse Vertreter nach wie vor auf den Straftatbestand der Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen (§ 166 StGB), wenn ihnen Satire dann doch zu weit geht. Dass es sich dabei um einen "Gummiparagrafen" handelt, weil nicht klar ist, wie eine Beschimpfung in diesem Fall konkret zu definieren ist, wird ebenso deutlich wie die Gefahr, dass im Endeffekt jede Kritik als Verunglimpfung einer ganzen Religionsgemeinschaft dargestellt werden kann. Wo solche Grauzonen hinführen, zeigt das Regime in Ankara, welches seine Religionsbehörde Diyanet nicht nur mit Milliarden Lira, sondern dem Hass auf "Ungläubige" und Solidarität mit islamistischen Verbündeten wie der Hamas ausstattet. Man hätte es wissen können, als ein Mann wie Erdoğan einst sagte, dass die Demokratie nur ein Zug sei, auf den man aufspringe bis man sein Ziel erreicht habe.

Unterstützen Sie uns bei Steady!