Geheimnis menschlichen Denkens enthüllt

Auf die Frage, wann es gelingt, Computer mit allen menschlichen geistigen Fähigkeiten einschließlich des Ich-Bewusstseins auszustatten, gibt Kurzweil das Jahr 2029 an. Zu diesem Zeitpunkt wird nach seiner Meinung das erste Computerprogramm den so genannten Turing-Test bestehen. Was danach geschieht, hat er ausführlich in seinem Buch „The Singularity is Near“ beschrieben. Es wird nach seiner Meinung eine rasante Vervielfachung der Rechenleistung und der Fähigkeiten der künstlichen Intelligenz geben, die gewaltige Auswirkungen auf unsere Gesellschaft haben werden.

Die Kritiker

Wie nicht anders zu erwarten, gibt es auch heftige Kritik an den Positionen von Kurzweil, zumal für viele die mögliche Machbarkeit von künstlichem Bewusstsein eine Kränkung ihres Menschenbildes darstellt. Insbesondere im deutschsprachigen Raum gibt es eine tief greifende Aversion gegen die Ideen von Ray Kurzweil und generell gegen den Transhumanismus und den Posthumanismus. Wahrscheinlich ist einer der Gründe, dass die meisten immer noch einer christlichen Ethik und einem Menschenbild verbunden sind, die ihre Ursprünge in der Bronzezeit haben. Daneben gibt es ein tiefes und zum Teil irrationales Misstrauen gegenüber neuen Technologien. So glauben religiös oder metaphysisch inspirierte Intellektuelle nach wie vor an den Dualismus von Leib und Seele bzw. Geist und Körper. Sie können aber keine wirklich nachvollziehbaren rationalen Argumente für ihre Position anführen. Insofern ist das eine reine Glaubensfrage.

Den Naturwissenschaften etwas mehr zugeneigte Geisteswissenschaftler vertreten häufig die Position, dass man zwar womöglich alle geistigen Fähigkeiten des Menschen mit einem Computer simulieren kann, aber die Simulation immer noch etwas anderes ist als die Wirklichkeit, ähnlich wie die Simulation des Wetters etwas anderes ist als das Wetter selbst. Prominenter Vertreter dieser Position ist der amerikanische Philosoph John Searle. In  seinem Buch „Die Wiederentdeckung des Geistes“ geht er zwar davon aus, dass das menschliche Gehirn im Rahmen des Naturalismus vollständig beschrieben werden kann als eine Art Bio-Computer, dass aber seine Fähigkeiten nicht mit der künstlichen Intelligenz gleichrangig nachvollzogen werden können.

Der Denkfehler, der dieser Position zugrunde liegt, ist die Ansicht, dass unsere geistigen Fähigkeiten an eine bestimmte Materie gebunden sind. Im Kern ist aber Denken nichts anderes als Informationsverarbeitung und dies geschieht auf der untersten Ebene als reine Symbolverarbeitung und dies ist bereits ein abstrakter Vorgang. Ray Kurzweil schreibt dazu: „Wenn das Verstehen von Sprache und anderer Phänomene über statistische Analysen (wie z.B. bei moderner Spracherkennungssoftware) nicht als wahres Verstehen zählt, dann haben Menschen auch kein wahres Verstehen.“

Fachleute der künstlichen Intelligenz an deutschen Hochschulen und Universitäten bezeichnen die Ansichten von Kurzweil häufig als überzogen optimistisch in Bezug auf die Machbarkeit der künstlichen Intelligenz und ihrer Auswirkungen auf die Menschheit. Allerdings geht Kurzweil bereits in seinem Buch „The Singularity is Near“ neben den großen Chancen auch auf die Gefahren der neuen Technologien ein. Insofern ist der Vorwurf nicht ganz zutreffend.

Für seine Kritiker hat er eine Analyse seiner eigenen Vorhersagen aus seinem Buch „The Age of Spiritual Maschines“ gemacht. Das Buch erschien 1999. Von seinen 147 einzelnen dort gemachten Vorhersagen für das Jahr 2009 waren 78 Prozent voll zutreffend. Weitere 8 Prozent waren im Prinzip richtig, traten aber bis zu 2 Jahre später ein als vorhergesagt. 12 Prozent waren nur teilweise korrekt und 2 Prozent waren falsch. Zu den falschen Vorhersagen gehört, dass es bis 2009 Autos gibt, die ohne Fahrer betrieben werden können. Aber selbst in diesem Fall muss man zugestehen, dass das Problem technisch durchaus bereits gelöst ist. So hat Google im Oktober 2010 einen elektrisch angetriebenen Lieferwagen fahrerlos über 13.000 km von Italien nach China fahren lassen. Im Moment liegt das Problem zur generellen Einführung dieser Technik eher bei den fehlenden gesetzlichen Regelungen. Man muss sich angesichts dieser Zahlen fragen, wer von den Kritikern eine bessere Statistik seiner eigenen Vorhersagen vorlegen kann. Bill Gates meint jedenfalls dazu: „Ray Kurzweil ist von denen Personen, die ich kenne, am besten geeignet, die Zukunft der künstlichen Intelligenz vorauszusagen“.

Deutsche Bedenkenträger

Während Pioniere wie Ray Kurzweil den Weg in eine Zukunft weisen mit weniger Leid und mehr Lebensqualität, sehen selbsternannte Ethikexperten in unserem Land schon bei der PID die Menschenwürde in Gefahr. Einer der prominenten deutschen Vertreter der Bedenkenträger gegenüber neuen Technologien ist der Philosoph Jürgen Habermas. In seinem Buch „Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?“ bezeichnet die Anhänger des Trans- und des Posthumanismus als „ausgeflippte Intellektuelle“. Ihm selbst muss man allerdings bescheinigen, dass er hier über Dinge schreibt, von denen er nicht die geringste Ahnung hat.

Bei der Diskussion der ethischen Grundlagen neuer Technologien und ihrer gesetzlichen Regelung hat der Deutsche Ethikrat einen großen Einfluss. Er hat sich im letzten Jahr einen Namen gemacht mit der Empfehlung an den Bundestag, einem Gesetz zur Regelung der Genitalverstümmelung von Jungen zuzustimmen. Mit solchen Leuten, bei denen nicht die Verminderung sondern die Verherrlichung des Leids im Vordergrund steht und die einen Weg zurück ins Mittelalter beschreiten, werden wir die Zukunft nicht meistern können. Dennoch werden auch sie die Entwicklung nicht wirklich aufhalten können.

Ray Kurzweil meint dazu, dass sich die neuen Technologien, wenn überhaupt, dann nur in totalitären Staaten aufhalten werden lassen. Wir werden diese zukünftigen Herausforderungen nur meistern, wenn wir ein wissenschaftsfundiertes Weltbild anerkennen und uns von einem metaphysischen bzw. religiösen Menschenbild endlich befreien.

Bernd Vowinkel
 

Ray Kurzweil: How to Create a Mind: The Secret of Human Thought Revealed. Viking Adult, ISBN-13: 978-0670025299, 352 Seiten, EUR 20,20.