Justizministerin provoziert einen Aufstand

justizpalast_vienna_interio.gif

Wien, Justizplast, Zentralhalle mit Justitia / Foto: Gryffindor (CC-BY-SA 3.0)

WIEN. (hpd) Österreichs Justizministerin Beatrix Karl (ÖVP) hat einen Aufstand gegen sich und ihre Amtsführung provoziert. Ausgangspunkt ist ein 14-Jähriger, der in Untersuchungshaft mit einem Besenstiel vergewaltigt wurde. Eine direkte Folge schlechter Haftbedingungen, sagen namhafte Experten. Die Ministerin behauptet, die Haftbedingungen seien nie besser gewesen. Und reagiert in den Augen vieler herzlos.

Die meisten Kommentatoren wissen nicht, ob sie Justizministerin Beatrix Karl (ÖVP) für überfordert halten sollen oder für zynisch. Ob sie Realitätsverweigerung betreibt oder die Öffentlichkeit anlügt. Ob sie nicht imstande ist, Empathie zu empfinden oder einfach nur schlecht beraten ist.

In einem sind sich die Kritiker einig: Karl ist fehl am Platz. Ein vernichtenderes Urteil über eine amtierende Ministerin hat es in den vergangenen Jahren selten gegeben. Und seit dem Jahr 2000 sind einige Mitglieder einer österreichischen Bundesregierung in Schimpf und Schande aus ihren Ämtern ausgeschieden.

Eine Welle der Empörung schwappt über die heimische Medienlandschaft und hat weite Teile der Bevölkerung erfasst, sofern Internetforen und Leserbriefe ein Indikator für die öffentliche Meinung sein können, seitdem die Wiener Wochenzeitung der Falter am Mittwoch aufdeckte, dass ein 14-Jähriger in Untersuchungshaft von drei älteren Jugendlichen misshandelt und mit einem Besenstiel vergewaltigt worden war. (Leider ist der Artikel nur in der Print-Version verfügbar)

Betroffener war haftunfähig

Der Fall erhält zusätzliche Tragik durch den Umstand, dass der Betroffene kurz nach der Vergewaltigung aus der U-Haft entlassen wurde, nachdem ihm bescheinigt worden war, nur über die geistige Reife eines Zehnjährigen zu verfügen. Die Anklage gegen ihn wurde wegen seiner geistigen Unreife eingestellt. Er gilt als nicht prozessfähig – womit sich die Frage erübrigt, ob er haftfähig ist. Der zuständige Untersuchungsrichter soll ihn trotz entsprechender Aussagen von Sozialarbeitern und Psychologen allerdings erst aus der U-Haft entlassen haben, nachdem er ein psychiatrisches Gutachten eingeholt hatte.

Es ist, wie Recherchen nicht nur des Falters zeigen, kein Einzelfall. Jugendliche bleiben in Österreichs Strafanstalten häufig übers Wochenende in der Zelle eingesperrt. Es gibt zu wenig Justizwachebeamte. Überhaupt landen, so eine Studie der Universität von Lausanne, in Österreich mehr Jugendliche in Untersuchungshaft als in den meisten europäischen Ländern.

Bedingungen provozieren Übergriffe

Und, wie der ehemalige Präsident des aufgelösten Jugendgerichtshofs, Udo Jesionek gegenüber Medien sagt: Es wird oft nicht Acht gegeben, dass nicht gewalttätige Jugendliche nicht mit gewalttätigen in einer Zelle landen – ob in Untersuchungshaft oder im Strafvollzug. Umstände, die nach Meinung zahlreicher Experten gewalttätige Übergriffe geradezu provozieren. 46 Übergriffe sollen im Vorjahr angezeigt worden sein. Die Dunkelziffer liegt weit höher.

„Haft ist kein Paradies“

Die Justizministerin der christdemokratischen ÖVP? Sagt im Mittagsjournal von Ö1, die Haftbedingungen gerade für Jugendliche seien nie besser gewesen: „Haft ist kein Paradies, aber die Zustände waren nie besser.“

Politische Verantwortung für den Fall will sie in einem Interview mit ORF-Journalist Armin Wolf in der ZiB2 Mittwochabend auch nicht übernehmen. Auf die Frage, ob sie sich bei dem betroffenen 14-Jährigen entschuldigt habe für das, was er in der U-Haft erdulden musste, sagt sie: „Ich entschuldige mich gerne bei ihm, aber – wie gesagt – ich sehe hier nicht meine Schuld darin. Man muss natürlich auch eines sehen: Wir unternehmen wirklich alles, um solche Fälle zu vermeiden. Aber wir sprechen hier von Untersuchungshaft in einer Justizanstalt. Und ganz ehrlich: solche Fälle werden wir nie 100prozentig vermeiden können. So realistisch muss man auch sein.“

Lügt die Justizministerin?

Experten bestreiten Karls Aussagen vehement. Gertrude Brinek, Parteikollegin Karls und Volksanwältin, sagt gegenüber der Zeitung Der Standard: Die Volksanwaltschaft habe in einer Stellungnahme im November deutlich auf Mängel im Strafvollzug hingewiesen: "Die enge Personaldecke, die Belagssituation, unzumutbare Einschlusszeiten und mangelnde Beschäftigungsmöglichkeiten - all diese Punkte haben wir beanstandet", so Brinek. Das Ministerium habe den Bericht der Volksanwaltschaft zur Kenntnis genommen. Wenn Karl jetzt das Gegenteil behaupte, verstehe sie das nicht.

Auch Jugendrichter und Sozialarbeiter weisen Karls Aussagen als falsch zurück. Die Haftsituation für Jugendliche habe sich massiv verschlechtert, seitdem die damalige Koalition von ÖVP und FPÖ in der Bundesregierung den Jugendgerichtshof abgeschafft habe. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam im April die an sich ÖVP-freundliche Tageszeitung Die Presse. Gegenüber dem Standard fällt sogar der Direktor des Strafvollzugs im Ministerium, Christian Timm, seiner Chefin in den Rücken: "Wenn wir schon einsperren, dann müssen wir auch für bestmögliche Haftbedingungen sorgen", meint auch Christian Timm, Sprecher der Vollzugsdirektion, der Oberbehörde der österreichischen Justizanstalten. Angesichts der stark angestiegenen Haftzahlen bei gleich bleibendem Personalstand "darf es uns nicht wundern, dass das einen Unterschied macht".

Stellt sich die Frage, ob Karl die vielen Berichte nicht zur Kenntnis nahm oder die Öffentlichkeit in den vergangenen Tagen belogen hat.

Unschuldsvermutung? Nie gehört

Als ob sie mit diesen Aussagen nicht genügend Angriffsfläche geboten hätte, gerät Karl auch wegen Aussagen in die Kritik, die ihr als Kaltschnäuzigkeit und Inkompetenz ausgelegt werden. Gegenüber dem ORF sagt sie wörtlich: „Wir sprechen hier vom Jugendstrafvollzug, wir sprechen hier von Jugendlichen, die eine schwere Straftat begangen haben. Weil sonst wären sie auch nicht in U-Haft genommen worden.“ Dass Untersuchungshaft und Strafvollzug verschiedene Dinge sind – nie gehört? Dass für Untersuchungshäftlinge die Unschuldsvermutung zu gelten hat – spurlos an einer Juristin vorbeigegangen? Dass es einen rechtsgültigen Schuldspruch braucht, damit jemand von U-Haft in den Strafvollzug kommt – egal für die oberste Hüterin des Rechtsstaates in Österreich?

Und selbst wenn: Dass ein Jugendlicher eine Straftat begangen hat, rechtfertigt noch lange keine Vergewaltigung.

Muss Karl gehen?

Nicht sympathischer wird Karl, wenn sie herumlaviert, ob das Ministerium dem vergewaltigten 14-Jährigen eine Entschädigung bezahlt: „Das muss man sich genauer ansehen. Das werden wir uns natürlich auch genauer ansehen. Aber mir gehts jetzt wirklich einmal darum, dass hier auch losgelöst von einem Einzelfall dargestellt wird, was im Jugendstrafvollzug geleistet wird“. Krisenmanagement sieht anders aus.

Politische Beobachter halten die Ministerin nach diesem Interview für angezählt. Es wird bezweifelt, ob sie der nächsten Bundesregierung angehören wird. Eine relevante Frage. Österreich wählt Ende September einen neuen Nationalrat.

Spannend könnte auch werden, ob der Skandal Thema des beginnenden Nationalratswahlkampfs sein wird. Der Koalitionspartner von Karls Partei ÖVP, die SPÖ, hat unmittelbar nach Bekanntwerden gefordert, dass in Österreich wieder ein Jugendgerichtshof eingerichtet werden soll. Samt eigener Haftanstalt für Jugendliche. So wie das bis 2003 der Fall war.

Christoph Baumgarten