Bericht aus Istanbul (3)

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Das Urteil hat bestätigt, dass unser Widerstand berechtigt war

ISTANBUL. (hpd) Mit diesem dritten Teil beendet der Humanistische Pressedienst voerst die Berichterstattung aus Istanbul, das in den letzten Wochen im Fokus der Medien stand. Inzwischen hat sich im Übrigen herausgestellt, dass die Bebauung des Gezi-Parks bereits vor Ausbruch der Unruhen vom Gericht verboten wurde.

22.6.2013 20.00h – Asmalı Mescit/Beyoğlu-Istanbul

Mit meinen aus Deutschland zugereisten Freunden haben wir uns am frühen Abend in unserem kurzfristig umgebuchten Hotel in der Altstadt in Istanbul eingecheckt. Ursprünglich hatten wir ein Hotel in der Nähe des Taksim Platzes gebucht und kurz vor unserer Reise entschieden, ein Quartier in einer weniger turbulenten Gegend zu finden.

Die Taksim Solidarität hatte dazu aufgerufen, mit Nelken bewaffnet um 19 Uhr auf dem Taksim Platz zahlreich zu erscheinen, um den vier Menschen zu gedenken, die bei den Protesten getötetet wurden. Am Tünel steigen wir in die historische Seilbahn ein und die Uhr sagt mir, dass wir recht spät sind, um es auf den Platz zu schaffen. Auf der südlichen Seite der Istiklal Caddesi kurz vor 20h angekommen, sehen wir auf uns viele Menschen entgegenkommen, die Nelken in ihren Händen halten. Ihren Gesichtern ist fröhliche Stimmung zu entnehmen, als ob sie in einem guten Konzert oder in einem schönen Kinofilm gewesen sind. Wir gehen davon aus, dass sich die Kundgebung auflöst und entscheiden, uns gleich zum Restaurant in der Nähe zu begeben. Ein Paar mittleren Alters läuft an uns vorbei, die Frau am Arm ihres Mannes eingehängt und in der anderen Hand hält sie ihre Nelke. Sie hinterlassen bei mir den Eindruck, als ob sie in einem Park romantisch spazieren gehen, um ihren Jahrestag zu feiern, anstatt zuvor auf dem historischen Schauplatz der Proteste gewesen zu sein.

Im Restaurant uns der kulinarischen Vorzüge der ägäischen Küche und dem traumhaften Blick auf den Bosporus widmend, ruft meine Freundin Sule an. Es war ausgemacht, dass sie sich uns zu einem späteren Zeitpunkt anschließt. Sie teilt mir mit, dass sie zuhause angekommen sei und die Polizei bereits nach dem Ruf des Muezzins zum Abendgebet ihren Einsatz gegen die Demonstranten begonnen hat. Auch wenn wir nicht allzu nah am Ort des Geschehens sind, warnte sie uns, nicht all zulange dort zu verweilen.

Ich spreche das Thema bei unserer Tischbedienung an und er lässt mich wissen, dass sie informiert sind und sollte es irgendwie grenzwertig werden, würde er uns ein Taxi bestellen. Das Lokal ist voll und wir hatten ein großes Glück noch einen Tisch zu bekommen. Obwohl einige Hundert Meter weiter die Polizei auf den Straßen wütet und die anderen Gäste im Raum offensichtlich über ihre Smartphones Informationen austauschen, ist keine Panik ausgebrochen. Im Gegenteil, es wird munter in Geselligkeit gespeist, getrunken und der traumhafte Ausblick in den Bosporus genossen. Später bitte ich den Kellner für uns ein Taxi zu rufen. Wir erfahren, dass die Taxis die Anfahrt auf die Istiklal Caddesi ablehnen. Der Kellner ist sehr zuvorkommend und bietet uns an auf ihn zu kurz warten. Seine Schicht sei beendet und er könnte uns zum Taxi-Stand begleiten. Wir nehmen dankend an und verlassen gemeinsam das Restaurant.

Die Istiklal Caddesi ist zwar voll mit Menschen mit und ohne Mundschutz, allerdings keine Ausschreitung, keine Wasserwerfer (TOMAs) und keine Gaswolke weit und breit zu sehen. Wir überqueren die Istiklal Caddesi in die nördliche Richtung und in die Seitenstraße hinein. Die Cafés, Bars und Restaurants sind noch gut gefüllt, auch hier keine Panik spürbar. Kaum zu glauben, dass in weniger als einem Kilometer der Polizeiterror wüten soll. Wir spüren aber, dass unsere Augen brennen und die Luft deutlich anders ist als zuvor. Glücklicherweise ist es kein weiter Weg bis zum Taxi-Stand. Während wir mit dem Taxi dabei sind Beyoğlu zu verlassen, beobachte ich wie in einer gelassenen Normalität Menschen auf den Straßen sind, sie beeilen sich nicht, um sich vom Viertel zu entfernen. An der Ampel steht ein junges Pärchen, das händchenhaltend auf das grüne Licht der Ampel wartet. Irgendwie kurios diese Gelassenheit. Es scheint als ob die Menschen dieser Stadt nichts erschüttern kann, oder es ist zu ihrer Normalität geworden.

Später an diesem Abend versuche ich durch die sozialen Netzwerke mich über die Ausmaße der Übergriffe auf die Bevölkerung zu informieren.

23.6.2013 – 21h Cihangir/Beyoğlu -Istanbul

Wir sind mit Sule in Cihangir in einem der Cafés verabredet. Am Vormittag habe ich mit ihr telefoniert und sie teilte mir mit, dass sie sehr besorgt um ihren Bruder war und eine sehr angespannte Nacht hinter sich hatte. Auf Einzelheiten wollte sie bei unserem Treffen eingehen.

Kurz vor 21h finden wir uns dort ein und erleben das Topf- und Pfannenkonzert um Punkt 21h. Die Stimmung aus den Cafés und Fenstern ist gut - auch vorbeifahrende Autos hupen und unterstützen winkend diesen Protest. Wieder erstaunt mich die unermüdliche Energie der Menschen ihren Protest auszudrücken, wenn man bedenkt, dass in der Nacht zuvor bis zum Morgengrauen die Polizei in Cihangir gewütet hat. Sule fragt uns, ob wir in der letzte Nacht noch rechtzeitig die Szene verlassen konnten und hoffentlich auch kein Gas abbekommen haben. Ich schildere ihr kurz, dass wir dank unserer Begleitung sehr gut davon gekommen sind und ich mich eher für ihre schlaflose Nacht besorgt bin.

"Es war friedlich, ich war etwa eine Stunde dort auf der Kundgebung und verließ den Platz, lief nach Hause. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass etwas passieren würde… denn während der Kundgebung stieg das Aufgebot der Polizei ganz deutlich. Kurz später müssen sie dann wohl mit Wasserwerfern und Gasgeschossen angefangen haben.", beginnt sie.

"Die Menge auf dem Platz wurde somit aufgelöst, aber sie haben sich damit nicht zufrieden gegeben. Cihangir liegt auf der tieferen Seite des Hügels und es gibt Bilder, die die Leute von ihren Fenstern aus gemacht haben und Cihangir ist in einer weißen Gaswolke verschollen. Währenddessen wurde in den türkischen Medien berichtet, dass die Polizei mit Wasserwerfern die Demonstranten vom Platz verwiesen habe. Was nicht gezeigt wurde, dass der Terror der Polizei in den Seitenstraßen Cihangirs stattfand. Obwohl meine Fenster verschlossen war, habe ich zahlreiche Schüsse der Gasgeschosse von außen gehört. Währenddessen versuchte ich mit meinen Freunden und meinem Bruder im ständigen Austausch zu sein, weil sie ja noch auf dem Platz waren als ich ging. Es gingen zahlreiche Meldungen rum wie: 'die Straße XY ist versperrt von der Polizei'. Von meinen Freunden habe ich gehört, dass unbeteiligte junge Leute, die aus den Clubs rauskamen, plötzlich von der Gaswolke erfasst und von der Polizei geschlagen wurden. Sie wussten nicht mal wofür."

"Auch mein Bruder war eingekesselt und konnte in einem der Lokale Schutz finden. Er rief mich an und sagte, dass er nicht entkommen kann ohne sich der Gefahr auszusetzen. Die Polizei sei auf der ganzen Straße und würde ständig Pfeffergas abfeuern. Was es bedeutet der Polizei ausgeliefert zu sein, haben ja die Bilder der letzten 3 Wochen gezeigt. Während wir alle paar Minuten telefonierten, habe ich nach Möglichkeiten gesucht, wie er sich aus seiner Lage befreien könnte. Ich durchforstete alle Tweets und Facebook-Nachrichten, um ihm Tipps für einen möglichen Fluchtweg zu geben. Dann habe ich ihm geraten über eine Seitengasse in Galatasaray sich seinen Weg zu mir zu schlagen, da es durch die Tweets die ich las offensichtlich nicht so turbulent war. Ich legte auf und im Halk TV - dem einzigen Sender, der die Geschehnisse trotz mehrerer Geldstrafen gesendet hat – zeigten sie in dem Moment Live-Bilder, wie es in Galatasaray zuging. Die Bilder zeigten, dass sowohl Männer in Zivil, als auch Polizisten mit ihren Stöcken auf jeden, der auftauchte einschlugen. Ich fragte mich wirklich, wie sie denn egal wer in die Straße einbiegt einschlagen können. Es können doch ganz normale Bürger sein, die ihr Zuhause erreichen wollen, um den Turbulenzen zu entkommen. Das war denen völlig egal, sie fragen nicht, sie schlagen zu.

So rief ich ihn nochmal an und sagte ihm welche Bilder ich gerade gesehen habe. Ich riet ihm, zu versuchen sich in Richtung Tepebasi durchzuschlagen und sich dort ein Taxi nehmen und bis zu mir fahren zu lassen. Ich hatte den Sender ja die ganze Zeit laufen. Kaum habe ich ihn instruiert, wurden Bilder aus Tepebasi gezeigt. Wieder ein Polizeiaufgebot. Also wieder ein ähnliches Gespräch.

Irgendwie hat er es geschafft, sich zum Tünel durchzuschlagen. Dort stieg er wohl in die Seilbahn ein und fuhr nach Galata und rief mich an, um mir mitzuteilen, dass dort ein ganz normales Unterfangen sei. Die Menschen seien vergnüglich in den Cafés und Restaurants. Er würde nun jetzt eine Weile sich auch in einem der Cafès verweilen. Ich habe Freunde in Galata. Ich rief sie an, um nachzufragen, ob er eventuell bei Ihnen unterschlüpfen könnte. Die waren aber für ein paar Tage im Urlaub. Nach etwa 2 Stunden rief er mich wieder an und sagte, dass er nun Galata verlassen muss. Die TOMAs wären schon in Sichtweite. Eine halbe Stunde lang habe ich nichts von ihm hören können. Ich war voller Sorge um ihn. Dann hat er sich gemeldet und sich zu Fuß am südlichen Ufer entlang mit äußerster Vorsicht zu mir durchgeschlagen."

Morgens, kurz nach 4 habe er es schließlich zu ihr geschafft und der nächste Tag startete wohl wie ein ganz gewöhnlicher Tag, "als wären die Strapazen der Nacht, der andauerndem Druck nicht erlebt", erzählt sie. Am Nachmittag waren sie dann auf der Istiklal Caddesi und haben sich der "Gay Pride" Parade angeschlossen. Ganz friedlich, ohne Ausschreitungen.

"So verrückt ist es momentan in Istanbul", lächelt mir bitter zu. Später ruft sie ihren Bruder Yusuf an und fragt, ob er denn in der Nähe wäre um sich zu unserem Gespräch anzuschließen. Er lässt sie wissen, dass er auf jeden Fall die Vorfälle der Weltöffentlichkeit mitteilen möchte und fragt zurück, ob es denn auch morgen möglich wäre. So verabreden wir uns.