Bericht aus Istanbul (3)

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Das Urteil hat bestätigt, dass unser Widerstand berechtigt war

ISTANBUL. (hpd) Mit diesem dritten Teil beendet der Humanistische Pressedienst voerst die Berichterstattung aus Istanbul, das in den letzten Wochen im Fokus der Medien stand. Inzwischen hat sich im Übrigen herausgestellt, dass die Bebauung des Gezi-Parks bereits vor Ausbruch der Unruhen vom Gericht verboten wurde.

22.6.2013 20.00h – Asmalı Mescit/Beyoğlu-Istanbul

Mit meinen aus Deutschland zugereisten Freunden haben wir uns am frühen Abend in unserem kurzfristig umgebuchten Hotel in der Altstadt in Istanbul eingecheckt. Ursprünglich hatten wir ein Hotel in der Nähe des Taksim Platzes gebucht und kurz vor unserer Reise entschieden, ein Quartier in einer weniger turbulenten Gegend zu finden.

Die Taksim Solidarität hatte dazu aufgerufen, mit Nelken bewaffnet um 19 Uhr auf dem Taksim Platz zahlreich zu erscheinen, um den vier Menschen zu gedenken, die bei den Protesten getötetet wurden. Am Tünel steigen wir in die historische Seilbahn ein und die Uhr sagt mir, dass wir recht spät sind, um es auf den Platz zu schaffen. Auf der südlichen Seite der Istiklal Caddesi kurz vor 20h angekommen, sehen wir auf uns viele Menschen entgegenkommen, die Nelken in ihren Händen halten. Ihren Gesichtern ist fröhliche Stimmung zu entnehmen, als ob sie in einem guten Konzert oder in einem schönen Kinofilm gewesen sind. Wir gehen davon aus, dass sich die Kundgebung auflöst und entscheiden, uns gleich zum Restaurant in der Nähe zu begeben. Ein Paar mittleren Alters läuft an uns vorbei, die Frau am Arm ihres Mannes eingehängt und in der anderen Hand hält sie ihre Nelke. Sie hinterlassen bei mir den Eindruck, als ob sie in einem Park romantisch spazieren gehen, um ihren Jahrestag zu feiern, anstatt zuvor auf dem historischen Schauplatz der Proteste gewesen zu sein.

Im Restaurant uns der kulinarischen Vorzüge der ägäischen Küche und dem traumhaften Blick auf den Bosporus widmend, ruft meine Freundin Sule an. Es war ausgemacht, dass sie sich uns zu einem späteren Zeitpunkt anschließt. Sie teilt mir mit, dass sie zuhause angekommen sei und die Polizei bereits nach dem Ruf des Muezzins zum Abendgebet ihren Einsatz gegen die Demonstranten begonnen hat. Auch wenn wir nicht allzu nah am Ort des Geschehens sind, warnte sie uns, nicht all zulange dort zu verweilen.

Ich spreche das Thema bei unserer Tischbedienung an und er lässt mich wissen, dass sie informiert sind und sollte es irgendwie grenzwertig werden, würde er uns ein Taxi bestellen. Das Lokal ist voll und wir hatten ein großes Glück noch einen Tisch zu bekommen. Obwohl einige Hundert Meter weiter die Polizei auf den Straßen wütet und die anderen Gäste im Raum offensichtlich über ihre Smartphones Informationen austauschen, ist keine Panik ausgebrochen. Im Gegenteil, es wird munter in Geselligkeit gespeist, getrunken und der traumhafte Ausblick in den Bosporus genossen. Später bitte ich den Kellner für uns ein Taxi zu rufen. Wir erfahren, dass die Taxis die Anfahrt auf die Istiklal Caddesi ablehnen. Der Kellner ist sehr zuvorkommend und bietet uns an auf ihn zu kurz warten. Seine Schicht sei beendet und er könnte uns zum Taxi-Stand begleiten. Wir nehmen dankend an und verlassen gemeinsam das Restaurant.

Die Istiklal Caddesi ist zwar voll mit Menschen mit und ohne Mundschutz, allerdings keine Ausschreitung, keine Wasserwerfer (TOMAs) und keine Gaswolke weit und breit zu sehen. Wir überqueren die Istiklal Caddesi in die nördliche Richtung und in die Seitenstraße hinein. Die Cafés, Bars und Restaurants sind noch gut gefüllt, auch hier keine Panik spürbar. Kaum zu glauben, dass in weniger als einem Kilometer der Polizeiterror wüten soll. Wir spüren aber, dass unsere Augen brennen und die Luft deutlich anders ist als zuvor. Glücklicherweise ist es kein weiter Weg bis zum Taxi-Stand. Während wir mit dem Taxi dabei sind Beyoğlu zu verlassen, beobachte ich wie in einer gelassenen Normalität Menschen auf den Straßen sind, sie beeilen sich nicht, um sich vom Viertel zu entfernen. An der Ampel steht ein junges Pärchen, das händchenhaltend auf das grüne Licht der Ampel wartet. Irgendwie kurios diese Gelassenheit. Es scheint als ob die Menschen dieser Stadt nichts erschüttern kann, oder es ist zu ihrer Normalität geworden.

Später an diesem Abend versuche ich durch die sozialen Netzwerke mich über die Ausmaße der Übergriffe auf die Bevölkerung zu informieren.

23.6.2013 – 21h Cihangir/Beyoğlu -Istanbul

Wir sind mit Sule in Cihangir in einem der Cafés verabredet. Am Vormittag habe ich mit ihr telefoniert und sie teilte mir mit, dass sie sehr besorgt um ihren Bruder war und eine sehr angespannte Nacht hinter sich hatte. Auf Einzelheiten wollte sie bei unserem Treffen eingehen.

Kurz vor 21h finden wir uns dort ein und erleben das Topf- und Pfannenkonzert um Punkt 21h. Die Stimmung aus den Cafés und Fenstern ist gut - auch vorbeifahrende Autos hupen und unterstützen winkend diesen Protest. Wieder erstaunt mich die unermüdliche Energie der Menschen ihren Protest auszudrücken, wenn man bedenkt, dass in der Nacht zuvor bis zum Morgengrauen die Polizei in Cihangir gewütet hat. Sule fragt uns, ob wir in der letzte Nacht noch rechtzeitig die Szene verlassen konnten und hoffentlich auch kein Gas abbekommen haben. Ich schildere ihr kurz, dass wir dank unserer Begleitung sehr gut davon gekommen sind und ich mich eher für ihre schlaflose Nacht besorgt bin.

"Es war friedlich, ich war etwa eine Stunde dort auf der Kundgebung und verließ den Platz, lief nach Hause. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass etwas passieren würde… denn während der Kundgebung stieg das Aufgebot der Polizei ganz deutlich. Kurz später müssen sie dann wohl mit Wasserwerfern und Gasgeschossen angefangen haben.", beginnt sie.

"Die Menge auf dem Platz wurde somit aufgelöst, aber sie haben sich damit nicht zufrieden gegeben. Cihangir liegt auf der tieferen Seite des Hügels und es gibt Bilder, die die Leute von ihren Fenstern aus gemacht haben und Cihangir ist in einer weißen Gaswolke verschollen. Währenddessen wurde in den türkischen Medien berichtet, dass die Polizei mit Wasserwerfern die Demonstranten vom Platz verwiesen habe. Was nicht gezeigt wurde, dass der Terror der Polizei in den Seitenstraßen Cihangirs stattfand. Obwohl meine Fenster verschlossen war, habe ich zahlreiche Schüsse der Gasgeschosse von außen gehört. Währenddessen versuchte ich mit meinen Freunden und meinem Bruder im ständigen Austausch zu sein, weil sie ja noch auf dem Platz waren als ich ging. Es gingen zahlreiche Meldungen rum wie: 'die Straße XY ist versperrt von der Polizei'. Von meinen Freunden habe ich gehört, dass unbeteiligte junge Leute, die aus den Clubs rauskamen, plötzlich von der Gaswolke erfasst und von der Polizei geschlagen wurden. Sie wussten nicht mal wofür."

"Auch mein Bruder war eingekesselt und konnte in einem der Lokale Schutz finden. Er rief mich an und sagte, dass er nicht entkommen kann ohne sich der Gefahr auszusetzen. Die Polizei sei auf der ganzen Straße und würde ständig Pfeffergas abfeuern. Was es bedeutet der Polizei ausgeliefert zu sein, haben ja die Bilder der letzten 3 Wochen gezeigt. Während wir alle paar Minuten telefonierten, habe ich nach Möglichkeiten gesucht, wie er sich aus seiner Lage befreien könnte. Ich durchforstete alle Tweets und Facebook-Nachrichten, um ihm Tipps für einen möglichen Fluchtweg zu geben. Dann habe ich ihm geraten über eine Seitengasse in Galatasaray sich seinen Weg zu mir zu schlagen, da es durch die Tweets die ich las offensichtlich nicht so turbulent war. Ich legte auf und im Halk TV - dem einzigen Sender, der die Geschehnisse trotz mehrerer Geldstrafen gesendet hat – zeigten sie in dem Moment Live-Bilder, wie es in Galatasaray zuging. Die Bilder zeigten, dass sowohl Männer in Zivil, als auch Polizisten mit ihren Stöcken auf jeden, der auftauchte einschlugen. Ich fragte mich wirklich, wie sie denn egal wer in die Straße einbiegt einschlagen können. Es können doch ganz normale Bürger sein, die ihr Zuhause erreichen wollen, um den Turbulenzen zu entkommen. Das war denen völlig egal, sie fragen nicht, sie schlagen zu.

So rief ich ihn nochmal an und sagte ihm welche Bilder ich gerade gesehen habe. Ich riet ihm, zu versuchen sich in Richtung Tepebasi durchzuschlagen und sich dort ein Taxi nehmen und bis zu mir fahren zu lassen. Ich hatte den Sender ja die ganze Zeit laufen. Kaum habe ich ihn instruiert, wurden Bilder aus Tepebasi gezeigt. Wieder ein Polizeiaufgebot. Also wieder ein ähnliches Gespräch.

Irgendwie hat er es geschafft, sich zum Tünel durchzuschlagen. Dort stieg er wohl in die Seilbahn ein und fuhr nach Galata und rief mich an, um mir mitzuteilen, dass dort ein ganz normales Unterfangen sei. Die Menschen seien vergnüglich in den Cafés und Restaurants. Er würde nun jetzt eine Weile sich auch in einem der Cafès verweilen. Ich habe Freunde in Galata. Ich rief sie an, um nachzufragen, ob er eventuell bei Ihnen unterschlüpfen könnte. Die waren aber für ein paar Tage im Urlaub. Nach etwa 2 Stunden rief er mich wieder an und sagte, dass er nun Galata verlassen muss. Die TOMAs wären schon in Sichtweite. Eine halbe Stunde lang habe ich nichts von ihm hören können. Ich war voller Sorge um ihn. Dann hat er sich gemeldet und sich zu Fuß am südlichen Ufer entlang mit äußerster Vorsicht zu mir durchgeschlagen."

Morgens, kurz nach 4 habe er es schließlich zu ihr geschafft und der nächste Tag startete wohl wie ein ganz gewöhnlicher Tag, "als wären die Strapazen der Nacht, der andauerndem Druck nicht erlebt", erzählt sie. Am Nachmittag waren sie dann auf der Istiklal Caddesi und haben sich der "Gay Pride" Parade angeschlossen. Ganz friedlich, ohne Ausschreitungen.

"So verrückt ist es momentan in Istanbul", lächelt mir bitter zu. Später ruft sie ihren Bruder Yusuf an und fragt, ob er denn in der Nähe wäre um sich zu unserem Gespräch anzuschließen. Er lässt sie wissen, dass er auf jeden Fall die Vorfälle der Weltöffentlichkeit mitteilen möchte und fragt zurück, ob es denn auch morgen möglich wäre. So verabreden wir uns.

24.6.2013 – 20h Asmalı Mescit/Beyoğlu -Istanbul

Wir haben eine Tagestour auf die Prinzeninseln hinter uns. Auf dem Rückweg auf der Fähre gab es einen Zwischenfall. Etwas erschöpft von den Eindrücken des Tages drängte sich plötzlich von hinten eine immer lauter werdende Frauenstimme in mein Ohr. Das Schiff war ziemlich voll und viele junge Menschen hatten sich im Schatten an der Säule auf den Boden gesetzt. Ich dachte mir zunächst, da wird sich wohl ein Jugendlicher daneben benommen haben und ließ mich zunächst nicht beeindrucken. Die Stimme wurde lauter: "das gehört sich nicht, ihr Flegel, ihr Ungeratenen... es sind Kinder auf dem Schiff“, empörte sie sich. Ich drehte mich um und sah wie eine modern gekleidete Frau sich zu zwei Männern beugte, die sich auch auf den Boden gesetzt haben. Ohne Zweifel ein homosexuelles Paar. Die Regung der Frau ließ nicht nach: "das könnt Ihr vielleicht in Eurem Land machen, aber nicht hier." Ich fragte meine Gäste, ob sie denn mitbekommen haben, was die beiden angestellt haben sollen. Meine Freundin beobachtete nur, dass der Kopf des einen Mannes auf die Schulter des anderen fiel, als dieser wohl vor Müdigkeit eindöste. Auch sie konnte sich diese Aufregung der Frau nicht erklären. Die Frau ging weiter murmelnd an das andere Ende des Schiffes und zündete sich eine Zigarette an, obwohl das Rauchen auf den Fährschiffen strikt verboten ist.

Keine Reaktion der anderen Gäste, völlige Ignoranz. Ich stand auf und ging zu dem Paar und sprach sie auf Englisch an. Sie reagierten zunächst irritiert. Ich ließ sie wissen, dass wenn sie sich unwohl fühlen, dass sie sich gern zu uns setzen könnten und wir ihnen helfen würden. Sie waren sichtlich erleichtert und bedankten sich. Wir erfuhren, dass sie aus Südafrika gereist waren, um das Land zu bereisen.

Später in Eminönü angekommen, laufen wir in Richtung Galatabrücke. Wie verabredet, finden wir uns in das von Sule ausgesuchte Restaurant ein. Wir werden schon erwartet, Sule, ihr 25 jähriger Halbbruder und Zehra. Ich freue mich Zehra wieder zu sehen und erfahre von ihr, dass sie für ein paar Tage lang zum Entspannen die Stadt verlassen hatte und seit dem Morgen wieder in der Stadt sei. Nach dem wir unsere Bestellung aufgegeben haben und mit Getränken versorgt wurden, spreche ich Yusuf an und frage ihn wie es am Vortag zu den Angriffen auf dem Taksim Platz kam. Auch wenn Sule uns schon über die Geschehnisse eingeweiht hatte, interessierte mich die Perspektive eines jungen Menschen, der auch zu denjenigen gehört, der sein Zelt im Gezi Park aufgeschlagen hat.

"Wie ihr wisst fand gestern eine Kundgebung auf dem Taksim Platz statt. Es wurde an die Menschen gedacht, die wir während der Proteste verloren haben, einschließlich des Polizisten, der die Brücke runterstürzte. Es war friedlich und sollte auch nicht anders sein. Dennoch konnte die Polizei sich nicht zurückhalten. Sie haben sofort nach dem Ezan, Ruf des Muezzins zum Abendgebet, angegriffen. Alle rannten in verschiedene Richtungen, in die Straßen, die zum Taksim Platz führen. Zu dem Zeitpunkt war ich mit ein paar Freunden in einem Restaurant, ungefähr in der Mitte der Istiklal Caddesi.

Wir sahen Menschen die Straße runter rennen und die Lokale haben in aller Schnelligkeit ihre Tische und Stühle reingeräumt. Sie ließen einen Tisch stehen und stellten Lösungsmittel gegen Tränengas darauf" erzählt er und lächelt. "Auch ließen sie die Flüchtenden in die Lokale rein. Es schien ruhiger zu werden und wir verließen den Schutz der Bar, in der wir Unterschlupf fanden und waren wieder auf der Istiklal. Dort sahen wir die gepanzerte Ausstattung der Polizei... Wasserwerfer. Es war schon komisch, wir waren vielleicht allerhöchstens 200 Leute, die sich in dem Getummel zusammenfanden. Ich meine, wir waren keine Tausend oder so, sie wollten angreifen, sie taten es, sie wollten die Menschen verletzen. Wir liefen nach Galata runter, wir wollten in der Nähe sein, aber nicht mitten drin.

Es gibt keine Logik im Verhalten der Polizei und der Regierung. Ich denke sie haben Angst. Seit wir wissen, dass sie Angst haben, wird unser Glaube an uns selbst noch größer, stärker. Sie haben uns den Gezi Park genommen… und wir sind nun in den anderen Parks, 17 allein in Istanbul, wir sind in allen. Die Menschen kommen zusammen und bilden ein öffentliches Forum. Es ist einfach nur schön, weil wir so etwas vorher nicht gemacht haben. Wir wollten nicht mal neben jemandem stehen, einem Fremden und sprechen. Wir haben immer einander gehasst. Aber seit diese Dinge nun passieren, haben wir angefangen uns sehr zu mögen." Er lächelt und fügt hinzu: "jetzt reden wir miteinander und sagen uns innerlich: 'ich habe nie gewusst, dass es so viele nette Menschen in dieser Stadt gibt'... wir schauen uns an und es ist als ob wir die Botschaften tauschen ‚ja, wir leisten gemeinsamen Widerstand' und Menschen haben das Gefühl miteinander vereinigt zu sein. Das gab es vorher nicht und das macht mich glücklich, denn ich konnte dieses Land lange Jahre nicht lieben und gab mein Bestes, um es zu verlassen. Nun habe ich das Gefühl, dass ich mein Bestes geben muss, schrittweise, für kleine Dinge, damit wir unsere Rechte beschützen."

Wir hören ihm gespannt zu und lassen uns von seinem Elan begeistern. Dennoch merke ich an, dass in dem Land auch eine andere Ansicht vorherrscht, eine die voll hinter der Regierung steht und die kein Verständnis für die Rechte haben, die er und seine Mitstreiter einfordern.

"Ja, ich weiß. Ich kann sie da auch nur belächeln. Ich lasse sie sein, mehr nicht. Die Ursache ist ja nur weil die Religion, die zuvor traditionell gelebt war, aber immer mehr politisch wurde. Es muss ja so nicht sein, aber dazu ist es gekommen. Es hat uns gespalten. Ich meine, natürlich hat jeder seinen eigenen Glauben, es gibt Leute, sie trinken und führen ihr ganz normales Leben, aber sie haben einen Glauben, bezeichnen sich auch als ein Mitglied des Glaubens. Diese Leute fangen an zu sagen: 'Wenn das Muslime sind, dann will ich keiner mehr sein. Das ist nicht das was ich darüber gelesen habe und was meine Eltern mir beigebracht haben'. Dadurch, dass die Religion in der Politik ist, können wir unseren Premierminister in etwa als einen 'Propheten' oder den einen Führer der Religion in diesem Lande betrachten. Das beansprucht er selbst in seiner Art. Er denkt, er ist der Führer der Religion in diesem Lande. So hat es angefangen und hat dazu geführt, dass es 'sie' und 'uns' gibt. Wir sind geteilt wie schwarz und weiß."

Die Einteilung in schwarz und weiß kann ich nachvollziehen und schildere ihm den Vorfall auf dem Schiff und unterstreiche, dass es keine kopftuchtragende Frau war, die in Rage geraten ist. Auf der anderen Seite gab es einen Tag zuvor die Parade der Homo- und Transsexuellen auf der Istiklal Caddesi, die wohl recht gute Beteiligung hatte.

Yusuf nickt und fährt fort: "Um es kurz zu machen, kann ich Euch wortwörtlich übersetzen, welche Überschrift die türkische Presse aus der Gay Parade gemacht hat: 'Schwuchtel laden oder ermutigen zur Unzucht ein'. Und das ist es auch, was sie wirklich über Homosexualität denken. In diesem Land bringen wir diese Menschen um. Das Jahr ist noch nicht zu Ende, aber allein in diesem Jahr sind 29 Transsexuelle ermordet worden. Das wird so schnell sich auch nicht ändern, weil Menschen ihre starren Meinungen so schnell nicht ändern. Toleranz kann nur anerzogen und vorgelebt werden, das ist ein Thema des Bildungsniveaus. Vielleicht kann im Nachgang durch Bildung und richtige Aufklärung erreicht werden, dass sie nicht mehr anschreien, aber sie werden ihre Ansichten so leicht nicht ändern.“ sagt er und fügt hinzu: "vielleicht hilft es auch, wenn sie reisen und sehen wie andere Länder mit dem Thema umgehen. Leider dürfen wir nicht reisen… Europa möchte nicht, dass wir reisen.“"

Diese Anspielung bezieht sich auf die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, die seit Jahrzehnten keine Früchte tragen wollen.

Er fährt fort: "Die Distanz zwischen 'uns' und 'ihnen' wird immer größer. Sie hassen uns dafür, dass wir uns verbünden. Vielleicht, wenn dieser Aufstand zu etwas führt, vielleicht werden wir dann diejenigen sein, die ihnen die Dinge diktieren. 'Sie' halten zusammen, sind vernetzt, leben ihre Religion so aus als wäre es eine absolute Pflicht, eine Profession. Es sieht gerade so aus, als würden sie an Kraft verlieren. Aber eigentlich wollen sie, dass wir so werden wie sie. Sie wollen, dass wir beten, keinen Alkohol trinken, keinen Sex haben und wenn, dann bitteschön 3 davon. Das sind die Dinge, die wir von unserem Premierminister diktiert bekommen.

Ich glaube daran, das alles wird sich ändern, vielleicht dauert es eine oder zwei Generationen. Ich fürchte aber, dass wir dann 'sie' hassen werden. Ich möchte niemanden hassen, aber ich fürchte, dass es dazu kommen wird. Seit so langer Zeit schon, jeden Tag wenn wir auf den Platz gehen, sagen wir den Polizisten, dass wir friedlich sind auch wenn sie auf uns einschlagen, dass wir ihnen nichts antun werden. Und wir warten jeden Tag darauf in den Zeitungen zu lesen, dass 50 Leute letzte Nacht getötet wurden. Wir wissen, dass das passieren kann und wir sind bereit dazu. Und solange wir uns in einem solchen Zustand befinden, werden wir ihnen für das was sie getan haben nicht verzeihen können. Wir werden es vielleicht versuchen... aber es wird nicht einfach sein. All die Frauen, die vergewaltigt und sexuell belästigt wurden, werden der Polizei und den Verantwortlichen gegenüber doch keine guten Gedanken mehr übrig haben."

25.6.2013 – Suadiye-Kadiköy/Istanbul

Wir entscheiden den Tag auf der asiatischen Seite der Stadt zu verbringen und nehmen die Fähre nach Kadiköy. Dort treffen wir uns mit meiner Cousine, in Begleitung einer Verwandten ihres Ehemannes.

Ezgi, 21, studiert Architektur an der Mimar Sinan Universität in Istanbul. Ich erfahre von ihr, dass sie seit Beginn der Proteste gemeinsam mit Kommilitonen und Freunden im Gezi Park war. Von den Bauplänen der AKP Regierung auf dem Taksim Gelände und Gezi-Park erfuhr sie in ihrem Studiengang von einem ihrer engagierten Dozenten, ein Mitglied der Taksim Solidaritätsplattform. Sie ist zusätzlich über Twitter und Facebook gut vernetzt und hat über diese Plattformen auch den Aufruf zum Protest erfahren. Ende Mai, einige Tage vor den brutalen Angriffen der Polizei, haben sie sich entschieden, mit ihren Zelten im Gezi Park gegen das Vorhaben zu protestieren.

"Als wir zum Protest unsere Lager im Park aufgeschlagen haben, waren wir völlig losgelöst von politischen Parteien. Die Absicht war einfach, nämlich die persönlichen Freiheiten zu schützen. Mit unserem Protest wollten wir die Botschaft an die Regierung und Erdogan vermitteln: 'Du kannst Dich nicht einmischen, was wir essen, was wir trinken. Du kannst unsere Bäume nicht verschwinden lassen'. Es war friedlich im Gezi Park, wie ein großes Festival… bis die Polizei morgens um 5 Uhr die Zelte in Brand gesteckt hat. Ohne Vorwarnung. Natürlich sind wir um unser Leben gerannt. Es reichte der Polizei nicht, dass wir den Park verlassen haben… sie sind uns in alle Richtungen auch noch gefolgt. Es war beängstigend. Vor mir lief ein Mann und wurde am rechten Ohr von einer Gaspatrone getroffen, die von hinten abgefeuert wurde. Das Ohr sah schlimm aus, ich denke nicht, dass das wiederhergestellt werden konnte. Einige Helfer haben ihn ins Krankenhaus gebracht. Auch mich hat es am Bein erwischt; ein Gasgeschoss streifte meinen Oberschenkel, ich habe immer noch eine Schwellung davon. Auch wenn meine Freunde und ich noch Glück hatten und vor schlimmen Verletzungen davon kamen, hat es doch einige ganz schlimm erwischt."

"Am nächsten Tag, am 1. Juni sind wir wieder auf den Taksim Platz und haben dort an der Sit-In Aktion mitgemacht. Nichts anderes als auf dem Boden sitzen… plötzlich kamen die Wasserwerfer aus der Richtung der Istiklal Caddesi. Ohne Ankündigung, ohne Warnung haben sie die Wasserstrahlen auf uns gerichtet. Wir sind alle nass geworden und es war kaum auszuhalten, sodass wir natürlich wieder davor weggerannt sind - in Richtung Cihangir, weil wir dachten, dort sind die Gassen nicht so breit, da kommen sie nicht rein. Aber sie kamen rein und haben uns ganz schön erwischt. In den ersten Tagen haben sie nur Wasser eingesetzt, bei den späteren Einsätzen war es kein pures Wasser mehr: es hatte eine rötliche Verfärbung und sobald es Deine Haut berührt, spürst Du das Brennen. In Cihangir waren wir ganz schön in die Ecke gedrängt. Dauerbeschuss unter Wasserwerfern und Pfeffergas. Plötzlich öffnete ein Mann uns die Eingangstür eines Mehrfamilienhauses und wir schlüpften rein. Ich habe nicht gezählt, wie viele wir waren, eine ganze Gruppe halt, vielleicht 15 oder 20 Leute… Der Mann war sehr hilfsbereit und hat auch seine Wohnung für uns geöffnet und mischte Talcid-Tabletten in Milch zusammen, damit wir uns die Augen auswaschen konnten. Das dämpft die Tränen und beruhigt die Augen... Dann sind wir ja wieder auf die Straße, sie schien beruhigt und außerdem können wir ja nicht die ganze Zeit die Wohnung des hilfsbereiten Mannes belagern", lächelt sie. "wir versuchten herauszufinden, in welcher Richtung wir weitergehen konnten. Plötzlich kommen uns die Polizisten entgegen, hatten ihre Helme abgezogen und versicherten, dass sie sich zurückziehen. Es klang glaubwürdig für uns und wir haben dann die Richtung nach Taksim Platz eingeschlagen. Der Platz füllte sich von allen Seiten… die Freude war nicht von langer Dauer, denn ein Hubschrauber warf von oben Gas ab… das war ganz heftig."

"Ich werde nicht alle Vorfälle hier zusammenbringen können, kann aber sagen, dass sie sich nicht einmal davor gescheut haben, den Park unter der Gaswolke zu ersticken, als Kinder dort waren… es gab Spiel- und Malateliers im Park und Familien waren mit ihren Kindern gekommen. Sie haben die Kinder gesehen und dennoch abgefeuert. Über das Divan Hotel ist ja größtenteils berichtet worden; das Foyer wurde zu einem Lager umgewandelt - unsere Fakultät ist sehr nah am Gezi Park und unsere Dozenten haben unsere Räume auch als Lager zur Verfügung gestellt. Freiwillige Ärzte haben dort Verletzte versorgt, auch dort haben sie das Gas abgefeuert."

"Ich weiß nicht, wie das Ganze noch ausgehen wird. Momentan finden Foren in den anderen öffentlichen Parks statt. Es wird versucht ein gemeinsames Verständnis, ein Bündnis auf die Beine zu stellen. Es ist schön zu sehen, dass je mehr abgewehrt wird, der Protest größer wird."

"Eigentlich ist das was wir wollen ziemlich klar und einfach: wir wollen Freiheiten, wir wollen Demokratie in diesem Land. Wir wollen nicht, dass man uns vorschreibt was wir essen, trinken, anziehen sollen oder wie viele Kinder auf die Welt zu bringen haben. Wir möchten keine Vorschriften, wir mischen uns ja auch nicht ein und respektieren sie auch in ihren Freiheiten, wie sie sich zum Beispiel kleiden. Eigentlich müssten wir viel mehr Verständnis von der 'gläubigen' Schicht erhalten, denn sie haben ja auch diesen Weg gemacht und um ihre religiösen Freiheiten gekämpft. Sie müssten uns verstehen und wissen was Unterdrückung ist. Stattdessen unterdrücken sie uns."

Çapulcu Zeliha

Fotos:

1: Istanbul, 3. Juli 2013 "Mörderstaat"
2.: Gerichtsgebäude in Caglayan, Menschen melden sich an, die Verantwortlichen für die Proteste zu sein.
3.: Proteste bei Studienabschlussfeiern

Bericht aus Istanbul (1)

Bericht aus Istanbul (2)