Bericht aus Istanbul (3)

24.6.2013 – 20h Asmalı Mescit/Beyoğlu -Istanbul

Wir haben eine Tagestour auf die Prinzeninseln hinter uns. Auf dem Rückweg auf der Fähre gab es einen Zwischenfall. Etwas erschöpft von den Eindrücken des Tages drängte sich plötzlich von hinten eine immer lauter werdende Frauenstimme in mein Ohr. Das Schiff war ziemlich voll und viele junge Menschen hatten sich im Schatten an der Säule auf den Boden gesetzt. Ich dachte mir zunächst, da wird sich wohl ein Jugendlicher daneben benommen haben und ließ mich zunächst nicht beeindrucken. Die Stimme wurde lauter: "das gehört sich nicht, ihr Flegel, ihr Ungeratenen... es sind Kinder auf dem Schiff“, empörte sie sich. Ich drehte mich um und sah wie eine modern gekleidete Frau sich zu zwei Männern beugte, die sich auch auf den Boden gesetzt haben. Ohne Zweifel ein homosexuelles Paar. Die Regung der Frau ließ nicht nach: "das könnt Ihr vielleicht in Eurem Land machen, aber nicht hier." Ich fragte meine Gäste, ob sie denn mitbekommen haben, was die beiden angestellt haben sollen. Meine Freundin beobachtete nur, dass der Kopf des einen Mannes auf die Schulter des anderen fiel, als dieser wohl vor Müdigkeit eindöste. Auch sie konnte sich diese Aufregung der Frau nicht erklären. Die Frau ging weiter murmelnd an das andere Ende des Schiffes und zündete sich eine Zigarette an, obwohl das Rauchen auf den Fährschiffen strikt verboten ist.

Keine Reaktion der anderen Gäste, völlige Ignoranz. Ich stand auf und ging zu dem Paar und sprach sie auf Englisch an. Sie reagierten zunächst irritiert. Ich ließ sie wissen, dass wenn sie sich unwohl fühlen, dass sie sich gern zu uns setzen könnten und wir ihnen helfen würden. Sie waren sichtlich erleichtert und bedankten sich. Wir erfuhren, dass sie aus Südafrika gereist waren, um das Land zu bereisen.

Später in Eminönü angekommen, laufen wir in Richtung Galatabrücke. Wie verabredet, finden wir uns in das von Sule ausgesuchte Restaurant ein. Wir werden schon erwartet, Sule, ihr 25 jähriger Halbbruder und Zehra. Ich freue mich Zehra wieder zu sehen und erfahre von ihr, dass sie für ein paar Tage lang zum Entspannen die Stadt verlassen hatte und seit dem Morgen wieder in der Stadt sei. Nach dem wir unsere Bestellung aufgegeben haben und mit Getränken versorgt wurden, spreche ich Yusuf an und frage ihn wie es am Vortag zu den Angriffen auf dem Taksim Platz kam. Auch wenn Sule uns schon über die Geschehnisse eingeweiht hatte, interessierte mich die Perspektive eines jungen Menschen, der auch zu denjenigen gehört, der sein Zelt im Gezi Park aufgeschlagen hat.

"Wie ihr wisst fand gestern eine Kundgebung auf dem Taksim Platz statt. Es wurde an die Menschen gedacht, die wir während der Proteste verloren haben, einschließlich des Polizisten, der die Brücke runterstürzte. Es war friedlich und sollte auch nicht anders sein. Dennoch konnte die Polizei sich nicht zurückhalten. Sie haben sofort nach dem Ezan, Ruf des Muezzins zum Abendgebet, angegriffen. Alle rannten in verschiedene Richtungen, in die Straßen, die zum Taksim Platz führen. Zu dem Zeitpunkt war ich mit ein paar Freunden in einem Restaurant, ungefähr in der Mitte der Istiklal Caddesi.

Wir sahen Menschen die Straße runter rennen und die Lokale haben in aller Schnelligkeit ihre Tische und Stühle reingeräumt. Sie ließen einen Tisch stehen und stellten Lösungsmittel gegen Tränengas darauf" erzählt er und lächelt. "Auch ließen sie die Flüchtenden in die Lokale rein. Es schien ruhiger zu werden und wir verließen den Schutz der Bar, in der wir Unterschlupf fanden und waren wieder auf der Istiklal. Dort sahen wir die gepanzerte Ausstattung der Polizei... Wasserwerfer. Es war schon komisch, wir waren vielleicht allerhöchstens 200 Leute, die sich in dem Getummel zusammenfanden. Ich meine, wir waren keine Tausend oder so, sie wollten angreifen, sie taten es, sie wollten die Menschen verletzen. Wir liefen nach Galata runter, wir wollten in der Nähe sein, aber nicht mitten drin.

Es gibt keine Logik im Verhalten der Polizei und der Regierung. Ich denke sie haben Angst. Seit wir wissen, dass sie Angst haben, wird unser Glaube an uns selbst noch größer, stärker. Sie haben uns den Gezi Park genommen… und wir sind nun in den anderen Parks, 17 allein in Istanbul, wir sind in allen. Die Menschen kommen zusammen und bilden ein öffentliches Forum. Es ist einfach nur schön, weil wir so etwas vorher nicht gemacht haben. Wir wollten nicht mal neben jemandem stehen, einem Fremden und sprechen. Wir haben immer einander gehasst. Aber seit diese Dinge nun passieren, haben wir angefangen uns sehr zu mögen." Er lächelt und fügt hinzu: "jetzt reden wir miteinander und sagen uns innerlich: 'ich habe nie gewusst, dass es so viele nette Menschen in dieser Stadt gibt'... wir schauen uns an und es ist als ob wir die Botschaften tauschen ‚ja, wir leisten gemeinsamen Widerstand' und Menschen haben das Gefühl miteinander vereinigt zu sein. Das gab es vorher nicht und das macht mich glücklich, denn ich konnte dieses Land lange Jahre nicht lieben und gab mein Bestes, um es zu verlassen. Nun habe ich das Gefühl, dass ich mein Bestes geben muss, schrittweise, für kleine Dinge, damit wir unsere Rechte beschützen."

Wir hören ihm gespannt zu und lassen uns von seinem Elan begeistern. Dennoch merke ich an, dass in dem Land auch eine andere Ansicht vorherrscht, eine die voll hinter der Regierung steht und die kein Verständnis für die Rechte haben, die er und seine Mitstreiter einfordern.

"Ja, ich weiß. Ich kann sie da auch nur belächeln. Ich lasse sie sein, mehr nicht. Die Ursache ist ja nur weil die Religion, die zuvor traditionell gelebt war, aber immer mehr politisch wurde. Es muss ja so nicht sein, aber dazu ist es gekommen. Es hat uns gespalten. Ich meine, natürlich hat jeder seinen eigenen Glauben, es gibt Leute, sie trinken und führen ihr ganz normales Leben, aber sie haben einen Glauben, bezeichnen sich auch als ein Mitglied des Glaubens. Diese Leute fangen an zu sagen: 'Wenn das Muslime sind, dann will ich keiner mehr sein. Das ist nicht das was ich darüber gelesen habe und was meine Eltern mir beigebracht haben'. Dadurch, dass die Religion in der Politik ist, können wir unseren Premierminister in etwa als einen 'Propheten' oder den einen Führer der Religion in diesem Lande betrachten. Das beansprucht er selbst in seiner Art. Er denkt, er ist der Führer der Religion in diesem Lande. So hat es angefangen und hat dazu geführt, dass es 'sie' und 'uns' gibt. Wir sind geteilt wie schwarz und weiß."

Die Einteilung in schwarz und weiß kann ich nachvollziehen und schildere ihm den Vorfall auf dem Schiff und unterstreiche, dass es keine kopftuchtragende Frau war, die in Rage geraten ist. Auf der anderen Seite gab es einen Tag zuvor die Parade der Homo- und Transsexuellen auf der Istiklal Caddesi, die wohl recht gute Beteiligung hatte.

Yusuf nickt und fährt fort: "Um es kurz zu machen, kann ich Euch wortwörtlich übersetzen, welche Überschrift die türkische Presse aus der Gay Parade gemacht hat: 'Schwuchtel laden oder ermutigen zur Unzucht ein'. Und das ist es auch, was sie wirklich über Homosexualität denken. In diesem Land bringen wir diese Menschen um. Das Jahr ist noch nicht zu Ende, aber allein in diesem Jahr sind 29 Transsexuelle ermordet worden. Das wird so schnell sich auch nicht ändern, weil Menschen ihre starren Meinungen so schnell nicht ändern. Toleranz kann nur anerzogen und vorgelebt werden, das ist ein Thema des Bildungsniveaus. Vielleicht kann im Nachgang durch Bildung und richtige Aufklärung erreicht werden, dass sie nicht mehr anschreien, aber sie werden ihre Ansichten so leicht nicht ändern.“ sagt er und fügt hinzu: "vielleicht hilft es auch, wenn sie reisen und sehen wie andere Länder mit dem Thema umgehen. Leider dürfen wir nicht reisen… Europa möchte nicht, dass wir reisen.“"

Diese Anspielung bezieht sich auf die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, die seit Jahrzehnten keine Früchte tragen wollen.

Er fährt fort: "Die Distanz zwischen 'uns' und 'ihnen' wird immer größer. Sie hassen uns dafür, dass wir uns verbünden. Vielleicht, wenn dieser Aufstand zu etwas führt, vielleicht werden wir dann diejenigen sein, die ihnen die Dinge diktieren. 'Sie' halten zusammen, sind vernetzt, leben ihre Religion so aus als wäre es eine absolute Pflicht, eine Profession. Es sieht gerade so aus, als würden sie an Kraft verlieren. Aber eigentlich wollen sie, dass wir so werden wie sie. Sie wollen, dass wir beten, keinen Alkohol trinken, keinen Sex haben und wenn, dann bitteschön 3 davon. Das sind die Dinge, die wir von unserem Premierminister diktiert bekommen.

Ich glaube daran, das alles wird sich ändern, vielleicht dauert es eine oder zwei Generationen. Ich fürchte aber, dass wir dann 'sie' hassen werden. Ich möchte niemanden hassen, aber ich fürchte, dass es dazu kommen wird. Seit so langer Zeit schon, jeden Tag wenn wir auf den Platz gehen, sagen wir den Polizisten, dass wir friedlich sind auch wenn sie auf uns einschlagen, dass wir ihnen nichts antun werden. Und wir warten jeden Tag darauf in den Zeitungen zu lesen, dass 50 Leute letzte Nacht getötet wurden. Wir wissen, dass das passieren kann und wir sind bereit dazu. Und solange wir uns in einem solchen Zustand befinden, werden wir ihnen für das was sie getan haben nicht verzeihen können. Wir werden es vielleicht versuchen... aber es wird nicht einfach sein. All die Frauen, die vergewaltigt und sexuell belästigt wurden, werden der Polizei und den Verantwortlichen gegenüber doch keine guten Gedanken mehr übrig haben."