STEISSLINGEN. (hpd) Die Zeitungen der Jesuiten verbreiten weltweit ein Interview mit dem Papst und viele Medien sind begeistert, ja, von „Revolution von oben“, „Papst kritisiert Kirche“, „…spricht über den Dünkel der Kurie und den weiblichen Genius“, „Seine klaren Worte sollten Kleriker erschrecken“ ist die Rede. Gemach, sagt ein Kenner der katholischen Kirche. Worum geht es?
Ein Kommentar von Horst Herrmann.
„Deutlichkeit ist die Höflichkeit der Kritik“. Diesen Rat von Marcel Reich-Ranicki akzeptiere ich nicht nur. Ich habe es stets so gehalten.
So mache ich es auch heute, wenn ich über das Interview spreche, das Papst Franziskus vergangenen Freitag gegeben hat und das von Medien als sensationell bezeichnet wird.
Sensationell? Diese Einschätzung stimmt nur, wenn sie von Gläubigen stammt, die vom Vatikan nichts anderes gehört haben als die endlose Beschwörung des immer Gleichen.
Nebenbei: Ist Franziskus ein „sensationeller“ Papst, bedeutet das ein scharfes Urteil über seinen direkten Vorgänger. Dieser schwächste Papst seit 150 Jahren hat eben so gut wie nichts geleistet. Ich sprach mehrfach davon. Im Übrigen war Joseph Ratzinger auch nicht der brillante Denker, als der er sich hat verkaufen lassen. Zurzeit kommen zunehmend Bücher auf den Markt, die das ähnlich sehen wie ich.
Und Papst Franziskus? Ich wundere mich immer wieder, dass Menschsein als sensationell gilt. Oder ist es nicht selbstverständlich, dass ein Papst den Prunk und Protz des Vatikans als bedrückend empfindet? Ist es nicht selbstverständlich, dass er von Barmherzigkeit gegenüber Mitmenschen spricht, die von der Kirche bisher geradezu verfolgt worden sind?
Gerade die so genannte christliche Nächstenliebe kam, wie historisch erwiesen, nicht ohne Diskriminierung jener aus, die nicht ins Bild der Gläubigkeit passten. Gerade von angeblich guten Christen werden noch heute wiederverheiratete Geschiedene abschätzig beurteilt. Ähnlich ergeht es Homosexuellen, verheirateten Priestern, in „wilder Ehe“ Lebenden, Frauen, die Geburten kontrollieren, Müttern mit nichtehelichen Kindern, Selbstmördern und, und …
Im Übrigen waren es bisher nur Worte, von Fensterpredigten möchte ich gar nicht sprechen, die Papst Franziskus angeboten hat. Taten sind nach wie vor Fehlanzeige.
Aber wenn Worte, Appelle und Ankündigungen als Taten gelten und das Etikett „sensationell“ verdienen, belegt dies nur das Eine: Wer dazu gebracht wurde, kritiklos hinzunehmen, was ihm angebliche Autoritäten eingetrichtert haben, wird lange kein Denken beherrschen. Bis er sich, selten genug, befreien will und kann. Befreiung von dem Glaubens- und Autoritätsschrott aus Kindertagen ist in der Tat angesagt. Konkret von den anerzogenen irrigen Haltungen. Doch Befreiung macht Mühe. Fehlentwicklungen wachsen sich nicht von allein aus.
Im abgegrenzten Pferch, in dem Hirten eine Herde betreuen, gelten Über- und Unterordnung. Ansprüche auf Herrschaft finden noch immer Glauben bei den zum Blick nach oben bereiten Menschen. Sie erhoffen von ihrer Kirchenbindung Anleitungen zur Weltbewältigung. Sie lassen die eigenen Bedürfnisse durch angeblich Berufene lenken. Sie bilden eine Antenne aus, die hauptsächlich die Signale des religiösen Herrschaftsmonopols empfängt. Sie verfügen über verschiedene Strategien der Wahrnehmungsabwehr.
Das soll es sein? Das ethische Verhalten des Menschen bedarf keiner religiösen Grundlage. Im Gegenteil. Die Kirche hatte ihre Chance. Sie hat sie jahrtausendelang nicht im Sinne der Menschen genutzt. Vielmehr hat sie eine Ära der Angst begründet, ein Milieu der Furcht vor Sünde, Schuld und Strafe geschaffen und erhalten.
Papst Franziskus hat noch viel zu tun. Ob er es endlich anpackt?
Horst Herrmann