"Nichtglauben ist Versagen"

Blüm: Schon im 19. Jahrhundert bestand der Glaube, die Wissenschaft werde alle Probleme lösen. Aber keine These wurde nicht widerlegt. Unsicherer ist der Glaube auch nicht. Die meisten Probleme scheitern an moralischen Defiziten, nicht an Wissensdefizit, keine Informatik, kein Computer kann uns sagen, was der Mensch soll.

Henkel: Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, aber Sie gehen hier nicht ganz redlich vor: Sie nehmen ein winziges Kapitel der abendländischen Geschichte (Haeckel) auf und generalisieren es. Wenn wir in heutige Publikationen schauen, wo sehen Sie die Behauptung der Allzuständigkeit? Die Sicherheit der Wissenschaft ist genauso wacklig wie die des Glaubens? Das kann doch eigentlich nicht Ihr Ernst sein: es gibt Prozesse, die man messen kann, die reproduzierbar sind. Noch kein Flugzeug ist abgestürzt, weil ein Naturgesetz versagt hätte. Welche einzige Erkenntnis gibt es, die der Glaube gebracht hat, um die Welt besser zu verstehen?

Blüm: Schon morgen könnte das Flugzeug aus anderen Gründen abstürzen.

Henkel: Aber Herr Blüm! Warum können wir uns nicht auf einen Sockel von gesichertem Wissen einigen? Zu sagen, alles was die Wissenschaft weiß, ist wacklig, weil man einiges nicht weiß, ist abenteuerlich! Den Umstand, dass sich die Erde um die Sonne dreht, hat nicht der Glaube ermittelt, sondern die Wissenschaft. Oder wollen sie sagen, das sei wacklig?

Blüm: Ich weiß, dass mein Glaube Glaube ist. Der Kosmos ist wacklig, dieses Detail, na ja...

Blüm: Aber dass Galilei herausfinden konnte, dass sich die Erde um die Sonne dreht, liegt an der Weltanschauung, dass die Welt verfügbar ist. Wo Berge Götter waren, war dies nicht möglich. Mache dir die Welt untertan: der Auftrag zur Welterkenntnis. Ingenieurskunst wäre in einer Naturreligion nicht entstanden. Einwand aus dem Publikum: Und warum hat das Christentum dann erst einmal die abendländische Ingenieurskunst, die sehr wohl ohne es entstanden ist, vernichtet?

Blüm: Ich habe nicht gesagt, dass das Christentum hier ein Monopol hat.

Henkel: Zum ethischen Wert der heiligen Schriften: Gott tritt als grausam agierendes Subjekt auf: "Warum habt Ihr ihre Frauen am Leben gelassen, nun bringt alle Männer um und alle Frauen, nur nicht die, die noch nicht mit einem Mann geschlafen haben!" Und der Sündenfall ist eine Variante von Sippenhaft, ewiger Sippenhaft, sie sollte jeden anständigen Menschen empören! Die Goldene Regel hingegen ist ein Gegenbeispiel, dafür braucht man aber keine Metaphysik, sondern einfaches Überlegen: den säkularen Humanismus.

Blüm: Liebe geht nur zwischen Personen, daher glaube ich, dass Gott die Welt erschaffen hat, ein Gott, zu dem ich Du sagen kann.

Henkel: Entscheidend ist doch, wie gut die Gründe sind, es zu glauben. Sie, Herr Blüm, bringen immer nur Ihre Bedürfnisse vor, aber die bringen einfach nichts zur Frage der Existenz!

Die Tatsache, dass Blüm hier also auf der naiven Augenhöhe eines "gewöhnlichen" Gläubigen argumentiert, zu verstehen im Unterschied zum durch theologische Fakultäten geschulten und auf den nautisch neuesten Stand der Erkenntnisumschiffung gebrachten Rabulisten, machte ihn letztlich auf eine Art auch schon wieder fast sympathisch.

Und beim anschließenden gemeinsamen Bier konnte man ihn dann auch wieder so fröhlich, herzlich und rheinländisch erleben, wie man ihn kennt. Wie so oft bei Anhängern von Ideologien: geht es um andere Themen, sind sie plötzlich angenehme Zeitgenossen...

Verständlich allerdings ist es auch, dass die Moderatorin, von der man ja ohnehin nicht eine Haltung ohne jeglichen Standpunkt erwarten sollte, die angestrengt eingehaltene Neutralität ganz zum Schluss aufgab - an einem Punkt, wo Neutralität auch fehl am Platze gewesen wäre, denn es wurde eine (wenn auch schwer zu definierende) Grenze überschritten.

Der Abend endete mit ihren Worten: "Die Behauptung, dass Nichtglauben Versagen sei, macht mich stinkesauer!"

Constanze Cremer