Schwerpunktheft über Denis Diderot

Um Fragen der Ethik geht es auch in dem Aufsatz von Wulf Kellerwessel, „Diderots aufklärerische Moralkonzeption im Kontext seiner Moral- und Gesellschaftskritik in ‚Jacques, der Fatalist und sein Herr‘“. Kellerwessel interpretiert den genannten Roman – unter Heranziehen auch von einigen der Diderot’schen Artikel aus der „Enzyklopädie“ – mit Blick auf Diderots Moralphilosophie und Gesellschaftskritik. Dabei intendiert er zu zeigen, wie beide Themen miteinander zusammenhängen. Dazu werden kurz die Protagonisten des Werkes bzw. ihre Moralvorstellungen charakterisiert und vor allem die in das Romanwerk eingestreuten Erzählungen näher untersucht. Gezeigt werden soll, dass und wie Diderot bestimmte gesellschaftliche Rollen(erwartungen) kritisch analysiert und mit welchen Argumenten die seinerzeit vorherrschende Moral mitsamt ihren religiösen Bezügen von ihm kritisiert wird. Ferner wird versucht herauszuarbeiten, welche Moralkonzeption Diderot selbst angestrebt hat, wie er die Tugenden neu zu fassen versucht hat, dass er eine veränderte Sexualmoral anvisiert hat – und wie diese Positionen von Diderot mit seinen grundlegenden menschenrechtlichen Ansichten zusammenpasst.

Auch der Aufsatz von Daniel Dohrn, „Kontrafaktizität und Fatalität in Diderots Jacques le Fataliste et son Maître“ betitelt, thematisiert diesen weltberühmten Roman, wobei Diderots Überlegungen zum Thema „Fatalismus“ und zur menschlichen Freiheit im Vordergrund stehen. Dohrn untersucht in diesem Kontext unter anderem den Gebrauch von (kontrafaktischen) Konditionalen. So zeigt der Roman deutlich Jacques’ Fatalismus, der mit der (scheinbaren) Zufälligkeit und Planlosigkeit des Geschehens im Roman kontrastiert. Die These, es gebe eine Schicksalsordnung, wird, so Dohrn, auf den Kopf gestellt; Diderot präsentiere in dem Romanwerk den „karnevalesken Umsturz einer geistigen Ordnung, die in der Enzyklopädie zementiert wird“.

James E. Fowlers „,LISEZ QUE JE VOUS AIME‘: Sexualität, Liebe und Tugend in Diderots Werken“ erörtert Diderots Einstellung zur Sexualität im Zusammenhang mit seinen Vorstellungen von Tugend und Liebe. Ausgehend von Diderots monistisch-materialistischer Vorstellung werden die körperlichen Bedürfnisse und Begierden berücksichtigt, mit denen – wie besonders „Die insdiskreten Kleinode“ zeigen – die Gesellschaft laut Diderot unangemessen umgeht. Fowler untersucht aber nicht nur diesen frühen Roman Diderots, sondern auch dessen Auseinandersetzung mit Shaftesbury sowie Texte wie unter anderem den Enyklopädie-Artikel „Genuss“, „Le Reve de d’Alembert“ und „Supplément au Voyage de Bougainville“ sowie „La Religieuse“. Der Aufsatz beleuchtet überdies Diderots Auffassung zum genannten Themenspektrum auch vor dem Hintergrund medizinischer Auffassungen. Insgesamt wird so ein durchaus differenziertes Bild zu Diderots materialistischer Auffassung der Liebe erstellt.

Diderots Interessenspektrum schließt auch Themenbereiche ein, die an der Schnittstelle zwischen Philosophie (namentlich der Naturphilosophie) und Naturwissenschaft liegen. Dies gilt insbesondere auch für die Biologie, wie Franz Wuketits in dem Text „‚Alles verändert sich, alles vergeht...‘. Denis Diderot (1713-1784) und die Anfänge des Evolutionsdenkens“ aufzeigt. Der Wiener Biologe geht in seinem Beitrag dem Evolutionsgedanken in Diderots Œuvre nach, der nach der Auffassung von Wuketits so bedeutsam ist, dass Diderot einen Platz in der Wissenschaftsgeschichte der Wissenschaften vom Leben verdient hat. Nach einigen Klärungen zum Begriff „Evolution“ sowie einigen Erläuterungen zu den geistesgeschichtlichen (religiös geprägten) Hindernissen der Evolutionstheorie versucht Wuketits anhand zahlreicher Zitate von Diderot zu belegen, dass Diderot auf dem Weg zu einem dynamisch-evolutionären Weltbild war bzw. als einer der ersten Repräsentanten evolutionären Denkens zu gelten hat.

Ein weiterer wichtiger Themenbereich ist aus heutiger Sicht die Beziehung von Diderot zur Politik. Dies gilt nicht nur, weil Diderot in Konflikt mit dem politischem System in Frankreich gekommen ist und von Zensur bedroht war, sondern auch wegen seiner Beziehung zur russischen Zarin Katharina II. Andreas Heyer verknüpft in seinem Beitrag „Die anthropologische Fundierung von Diderots politischer Philosophie“ seine politische Philosophie mit dem zugrundeliegenden Menschenbild Diderots. Denn, so Heyer, Diderot setze den „ganzen Menschen“ in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, und bezieht somit Vernunft und Leidenschaften ein. Herausgearbeitet wird, dass Diderot vermeidet, sich zugunsten einer auf nur einen Aspekt des Menschen reduzierten Auffassung des Menschen festzulegen und versucht stattdessen, diese Polarität (ebenso wie damit zusammenhängende weitere Polaritäten wie „Natur-Kultur“ beispielsweise) zu überwinden. Dargelegt wird dies anhand einer Vielzahl seiner Schriften; herausgestellt wird ferner, wie die politische Radikalisierung Diderots (im Alterswerk) mit seiner Anthropologie zusammenhängt.

Thomas Rießinger vermittelt in seinem Aufsatz „Diderot und Katharina II.“ nicht nur einen Einblick in die politischen Gegebenheiten Russlands zu Zeiten der Aufklärung, sondern vor allem über die Beziehung zwischen der Zarin und dem Philosophen. Sie begann durch ihre Lektüre seiner Schriften und führte zu Unterstützungsangeboten und Einladungen nach St. Petersburg, denen Diderot reserviert gegenüberstand; gleichwohl folgte er schließlich einer der Einladungen. Vor allem aber verdeutlicht der Beitrag, inwiefern sich die politische Philosophie Diderots entwickelt und wie die russische Zarin dies ihrerseits wahrgenommen hat. Zudem arbeitet Rießinger die Akzentuierung der Rechte und der Freiheit des Volkes beim späten Diderot heraus.

Einen für Diderot sehr wichtigen weiteren Interessensbereich bilden Kunst, Kunstkritik und Ästhetik im weitesten Sinne. Zwei Beiträge nehmen sich dieses Themas an: Peter Bexte befasst sich in „Das Paradox der Wahrnehmung. Mit Augengläsern im Salon“ mit Diderot als einem der Begründer der modernen Kunstkritik. Dabei betont er Diderots Interesse an der physiologischen Wahrnehmung resp. an entsprechenden Experimenten und an dem Phänomen der Blindheit. Zudem zeigt er auf, dass der französische Aufklärer „seine Überlegungen zur Kunst stets mit einer Analyse der Sinne, ihrer Verwerfungen und Überlagerungen“ begleitete. Im Ausgang von der Teilnahme Diderots an einer Operation eines Blinden und an einem optischen Experiment rekonstruiert der Kölner Kunsthistoriker Diderots Sicht auf die Wahrnehmung und insbesondere auf die Zusammenhänge von Wahrnehmung (der Natur) und Kunst.

Gleichfalls mit Diderot als Beiträger zu diesem Themenkomplex befasst sich Marc Darlow. Er widmet sich Diderots Interesse an der Musik. In „Diderots Stimme(n): Musik und Reform. Von der ‚Querelle des Bouffons‘ bis zu ‚Le Neveu de Rameau‘“ geht es um Diderots Auffassungen zur Vokalmusik resp. zum Gesang, wobei Darlow vor allem auch den zeitgeschichtlichen Kontext einbezieht. So schildert er auch seine Position im „Buffonisten-Streit“ und die Überlegungen zur Musik, die Diderot im Roman ‚Le Neveau de Rameau‘ entwickelt hat.

Um das Thema des Schauspiels geht es in dem Beitrag von Franck Salaün, der den Titel „Die Erfahrung des Theaters bei Diderot“ trägt. Er handelt von Diderots Erfahrungen des Theaters, vor allem aber von Diderots Reformbestreben, die das Theater und die Schauspielerei betreffen. Der Verfasser arbeitet Diderots Absicht heraus, durch das Verändern des Schauspielens (in seiner Relation zum Publikum) und des Ausdrucks der Schauspielerinnen bzw. Schauspieler dem Theater eine veränderte Wirkungsmöglichkeit zu verschaffen, wobei Querverbindungen auch zu anderen Teilen der Ästhetik Diderots gezogen werden.

Marian Hobson stellt schließlich vor allem eine philosophische Verbindung zur Gegenwart her und zieht in „Der Standpunkt und der Rückspiegel: Diderot oder wie man Zeit vorstellt“ Parallelen zwischen Diderot und einem der führenden modernen Anti-Realisten, Michael Dummett. In diesem Text geht es dabei vor allem um die Zeit-Auffassung(en) der genannten Autoren. Dabei diskutiert Hobson zunächst kritisch die Klassifikation von Diderot als Skeptiker, erläutert Diderots Auseinandersetzung mit dem radikalen Skeptizismus Pyrrhons und weist auf Diderots Nähe zum heutigen Anti-Realismus hin. Dies bezieht sich Hobson zufolge auf Fragen der Erkenntnistheorie. Diderot destruiere „auf systematische Weise die ganze Vorstellung einer natürlichen und sozusagen vorgefertigten natürlichen Ordnung, sei es im Kosmos oder in der Sinneserfahrung“, womit er eine Position des modernen Anti-Realismus vorwegnimmt. Ähnlich, so Hobson, ließen sich die Auffassungen Diderots zur Zeit als „Manifestationen eines Anti-Realismus bezüglich des Zeitlichen interpretieren“.

Der langjährige Präsident der Société Diderot und Preisträger der l’Académie française im Jahr 2013, Pierre Chartier, schildert schließlich in „Eine Stimme findet Gehör erst aus der Tiefe ihres Grabes. Die Rezeption von Diderot in Frankreich bis zum Anbruch der heutigen Zeit“ die ausgesprochen wechselvolle Entwicklung der Aufnahme von Diderots Denken in Frankreich – und über Frankreich hinaus. Dabei verdeutlicht er nicht nur die unterschiedliche Einschätzung von Diderot im Laufe der Zeit, sondern verdeutlicht die relevanten – oft von politischen Auffassungen und Ereignissen nachhaltig geprägten – Veränderungen der Rezeption. Chartier nimmt Bezug auf verschiedene Aspekte von Diderots Schaffen wie auf zahlreiche Geistesgrößen und andere (eher politisch wirksame) Intellektuelle. Insgesamt verdeutlich der Text den langwierigen und sehr schwierigen Weg von Diderot zum Klassiker, als der er heute in weiten Teilen der Welt wahrgenommen wird.

Den Abschluss dieses Sonderheftes bildet der weithin bekannte Aufsatz von Charles Augustin Sainte-Beuve mit dem Titel „Diderot“, der erstmals im Jahre 1851 erschien. Dieser Text umschreibt Diderot als Kunstkritiker und Philosoph. Er vermittelt einen lebendigen Eindruck von dessen Charakter und von seinen Eigenheiten. Zudem enthält er eine Reihe von Schilderungen signifikanter Begebenheiten aus Diderots Leben. Dabei hat er bis heute nichts von seiner Frische verloren, und erscheint somit besonders gut geeignet, einen Eindruck von Diderot Persönlichkeit zu vermitteln.

Wulf Kellerwessel

Herausgeber:

Gesellschaft für kritische Philosophie Nürnberg
Vorsitzender: Helmut Walther (Nürnberg
Internet: www.gkpn.de